Werner Kogge, Berlin

 

Denkgesten Sybille Krämers (II)

Überraschendes, noch nicht Gesehenes und Neues

 

Die »Bewährungsprobe einer Terminologie liegt darin, dass Überraschendes, noch nicht Gesehenes und Neues dabei zutage treten kann«, [1] schreibt Sybille Krämer und vollzieht damit eine Wendung, die für ihr Denken von zentraler Bedeutung ist. Wie lässt sich die Form dieser Denkbewegung beschreiben? Zunächst als Abkehr: Was könnte weniger Überraschendes erwarten lassen als ein stereotypes Reproduzieren schulmäßiger Positionsbestimmungen? Als ein Verklausulieren von Theoremen, durch das sich die Mitglieder einer Denkschule untereinander ihres Rechthabens versichern? Auch wenn es – um ein Beispiel aufzugreifen – richtig ist, »Technikdeterminismus« und »Hardware-Euphorie« bei Friedrich Kittler kritisch zu beleuchten, so ist doch vieles an dieser Kritik längst zu einer bloßen Selbstbestätigung der eigenen Vernünftigkeit geworden, einer Selbstgewissheit, die blind macht für Fragen der Art, ob Kittler nicht doch – um im Beispiel zu bleiben – »eine historische Umakzentuierung in Gang [setzt], die ausgesprochen innovativ ist«? (S. 202) Ob er nicht eine »Gelenkstelle« ausmacht, »von der eine ›schulenübergreifend‹ anregende Kraft [...] ausgeht«? (S. 201) Der Abkehr von intellektueller Lagerbefestigung folgt also eine Hinwendung zu der Frage, ob in einem je gegebenen Denken ein Potential steckt, altbekannte Dinge auf neue Weise zu sehen. Entscheidend ist nicht die Denkpartei, sondern die Kraft eines Denkens, Neues hervorzubringen.

Das allerdings macht die Sache schwieriger. Theoretische Arbeit und Auseinandersetzung bewegen sich dann nicht mehr in der philosophisch allzu vertrauten Begriffsschach-Logik, in der die Stellungen des Anderen angegriffen und die eigenen gesichert werden, sondern in einem Wettbewerb der Innovationen. Woran aber erkennt man, dass ein Gedanke innovativ ist?

Wenn wir Krämers Vorgehen nachspüren, finden wir durchaus Elemente einer Methode: Zunächst geht es dieser gemäß darum, das »Bild« (S. 202) zu rekonstruieren, in dem eine Sache für gewöhnlich aufgefasst wird, in einer Gewöhnlichkeit, die zu einem »Stereotyp« (ebd.) geronnen ist. Im Beispielfall besteht dieses stereotype Bild in der »Überzeugung, dass die Geschichte der Medien in drei markanten Schüben verlaufe: die Erfindung und Diffusion des Alphabets, des Buchdruckes und schließlich des Computers« (ebd.). Krämer beschreibt nun eine Transformation dieses kanonischen Schemas durch Kittler, durch die die Einführung der Analogmedien Grammophon und Kinematographie als ein radikaler mediengeschichtlicher Neuanfang erscheint, der im Computer seine digitale Vollendung findet.

Für das weitere Vorgehen Krämers stellt sich an diesem Punkt aber die Frage, ob die Transformation eines Gemeinplatzes tatsächlich eine neue Sichtweise eröffnet. Es kommt hier auf den Versuch an, ob sich das Neue einer Neuerung in einer pointierten Formulierung fassen lässt. Bezogen auf unser Beispiel bietet Krämer folgende Reformulierung an:

 

»Während in der Epoche der Schrift immer nur niedergeschrieben wird, was bereits Element des symbolischen Universums, also von der ›Natur‹ eines Zeichens ist, bedeutet die Brechung des Schriftmonopols durch die technischen Analogmedien, dass das Außersymbolische, also Natur selbst, aufgezeichnet werden kann.« (Ebd.)

 

Durch die Transformation des kanonischen Schemas kommt – wie Krämer schreibt – eine »anders konturierte […] Einteilung« zustande (ebd.). Die andere Kontur sollte nun – das erfordert Krämers Innovationsanspruch – nicht nur als eine veränderte Kontur erscheinen, sondern als eine neuartige. Die Probe aufs Exempel ergibt im Falle Kittlers tatsächlich eine Umkehrfigur: Wurden Medien bis dato »in Termini beschrieben [...], deren Vorbild semiotische Prozeduren abgeben« (S. 203), so ist es nun »folgerichtig«, »die vertraute alltagssprachliche Kommunikation selbst als ein bedeutungsindifferentes, technisierbares Geschehen« (S. 205) – nämlich nach dem Vorbild des shannonschen Informationsmodells – zu denken. So zielt Krämers Vorgehen also auf den Punkt, an dem Vertrautes in der Umkehrung in einer neuen, noch nicht gesehenen Weise erscheint.

Doch birgt dieses Verfahren der Umkehrung, das an visuelle Aspektwechsel erinnert, auch beträchtliche Gefahren in sich. Aspektwechsel mit Überraschungseffekt gelingen nicht nur im visuellen Bereich nur dort, wo Konturen in hochschematisierter Form vorliegen. Das Umschlagen des Bildes von Hase zu Ente oder von Vase zu Gesicht erfolgt an extrem reduzierten graphischen Darstellungen – in der Fülle der Wirklichkeit, in der wir uns zumeist bewegen, dagegen typischerweise nicht. Krämer gibt zwar zu Recht zu bedenken, »dass jedwedes Beschreiben die Entscheidung voraussetzt, mit welchen Unterscheidungen dabei zu arbeiten ist« und dass die »Wahl einer technisch orientierten Terminologie – etwa im Unterschied zu einem ›hermeneutischen‹ Vokabular – [...] nicht vorab schon verfehlt [ist]« (ebd.). Das nicht. Sind aber nicht doch die Überraschungseffekte, mit denen Kittler aufwarten kann, einer Vereinfachung von Begriffskomplexen geschuldet, die denen ähnelt, die durch das Umstellen mathematischer Formeln in Gleichungen erzielt werden? Ist die Ersetzung einer Zeichen-Zeichen-Relation durch eine Aufzeichnung-Natur-Relation bei Subordination ersterer unter letztere mehr als ein Spiel mit begrifflichen Figuren?

Es ist wohl eine Frage dessen, ob eine Neuperspektivierung es auf sich nimmt, die Komplexität der Phänomene in Rechnung zu stellen. So ist beispielsweise Schrift – um noch einmal auf das Ausgangsschema zurückzukommen – seit ihren Anfängen nicht nur ein Mittel zur Aufzeichnung von Zeichen (gesprochene Sprache) gewesen, sondern auch ein Mittel, um ganz und gar nicht zeichenförmige Warenbestände und Arbeitskräfte zu verwalten. Kittlers Umkehreffekt beruht aber darauf, gerade nicht die phänomenal anspruchsvollste Beschreibung zugrundezulegen, sondern eine stark verflachte, die es sodann leicht macht, ihr gegenüber eine deutliche Absetzbewegung zu vollziehen. Ist aber der Überraschungseffekt erst verpufft, läuft die Umkehrfigur Gefahr, sofort selbst zu einem Stereotyp zu gerinnen, wenn sie bloße Umkehrung von allzu schematisch Aufgefasstem ist.

Für eine andere Denkfigur Kittlers, nämlich die der Zeitachsenmanipulation durch Kulturtechniken, gilt dies sicherlich nicht. Der Gedanke, dass solche Techniken die irreversible Abfolge von Ereignissen aufheben, indem sie diese in speicherbare, übertragbare und manipulierbare Daten überführen, ist eine neue Sichtweise, die ein anspruchsvolles begriffliches Instrumentarium voraussetzt. Und letztlich ist es doch diese, weit weniger deutlich als Umkehrfigur darstellbare Idee, die Krämer in ihrer Rekonstruktion der Medientheorie Kittlers hervorhebt. Die Abkehr von schulmäßigen Positionsbestimmungen und die Hinwendung zu der Frage, ob ein jeweiliger begrifflicher Zugang eine neue Sichtweise eröffnet, reduziert sich am Ende doch nicht darauf, Überraschungseffekte in einem hoch schematisierten Denkraum zu erzeugen: Worum es geht, sind Neuperspektivierungen, die auch langfristig dazu verhelfen, den Reichtum unserer phänomenalen Welt angemessener zu begreifen.

 

 

 



 

 

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Endnoten

[1] Sybille Krämer: »Friedrich Kittler – Kulturtechniken der Zeitachsenmanipulation«, in: David Lauer, Alice Lagaay (Hrsg.): Medientheorien. Eine philosophische Einführung, Frankfurt a.M. 2004, S. 297315, hier S. 205. Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf diesen Aufsatz.