Alice Lagaay, Berlin

 

Denkgesten Sybille Krämers (IV)

Das Vergessen nicht vergessen!

 

Nur durch das Vergessen erhält der Geist die Möglichkeit der totalen Erneuerung, die Fähigkeit, alles mit frischen Augen zu sehen, so daß das Altvertraute mit dem Neugesehenen zu vielschichtiger Einheit verschmilzt. [1]

 

Das Vergessen bildet eine Art Leitmotiv in den Schriften und in der Denkweise Sybille Krämers. Dieses Leitmotiv besteht aus mindestens drei Gesten, die alle mit verschiedenen Aspekten des Phänomens des Vergessens zu tun haben und zusammen als krämersche Denkstrategien beschrieben werden können.

Die erste dieser Gesten, ein Zeigen auf das Vergessene – ein Gestus des Erinnerns –, fungiert als Impuls gebendes Motiv: Es geht Krämer oftmals darum, vergessene oder verdrängte Phänomene und Aspekte eines Diskurses wieder aus dem wissenschaftlichen ›Grab‹ zu holen und neu zu beleuchten. [2] Die »Rehabilitierung« [3] eines vom akademischen Diskurs vergessenen oder ›abgeschriebenen‹ Phänomens scheint eine ihrer Lieblingstätigkeiten zu sein. Es ist, als ob sie sich, bevor sie sich einem Thema widmet, ganz bewusst methodisch und strategisch die folgende Frage stellt: Was ist im konventionellen Umgang mit diesem Thema systematisch oder vielleicht ab einem bestimmten historischen Zeitpunkt in Vergessenheit geraten oder verdrängt worden? In dieser Bemühung, Licht in die dunklen oder nicht mehr beachteten Ecken der Wissenschaft zu werfen, besteht sicherlich ein Aspekt der Innovativität ihres Geistes: Vergessene oder missachtete Themen werden mit Sybille Krämer für die Wissenschaft und für die Philosophie wieder fruchtbar gemacht.

Der zweite Gestus – nennen wir ihn Gestus der Ohnmacht – hängt mit der Phänomenologie des Vergessens selbst zusammen und erklärt vielleicht ein Stück weit nicht nur Krämers Auswahl von Themen, sondern auch ihren ganz besonderen Zugang zu ihnen. Denn eine Eigenartigkeit der menschlichen ›Tätigkeit‹ des Vergessens besteht wohl darin, dass es kaum oder nur in den seltensten Fällen als ein wirklich willentlicher, d.h. bewusst kontrollierter Akt geschieht: Man will nicht etwas vergessen, man kann es sogar nicht absichtlich tun, es passiert einfach. Diese negative Ereignishaftigkeit (oder der Widerfahrnischarakter des Bewusstseins) orientiert wiederum Krämers Interesse für solche Themen wie Performativität, Medialität oder – wenn auch anders – Kalkül. So hebt sie beispielsweise nicht in erster Linie den Handlungsaspekt der Performativität hervor, sondern widmet sich den ungewollten, unvorhersehbaren oder kontingenten Effekten der Performativität (vgl. z.B. ihre Austin-Lektüre). [4] Im Falle der Medialität betont sie die Art und Weise, wie Medien dadurch charakterisiert sind, dass sie selbst in ihrer Materialität zurücktreten (d.h. zwangsläufig in Vergessenheit geraten müssen), um ihre Botschaft mitzuteilen. [5] Auch das Kalkül, ein Thema, das Krämer seit Beginn ihrer Karriere immer wieder aufnimmt, versteht sie als ein System der »Entsemantisierung«, das ein »Loslassen der Bedeutung« und also eine Form von »Vergessenkönnen« ermöglicht. [6] Vergessenkönnen wird hier verstanden als die Bedingung der Möglichkeit zu abstrahieren, d.h. Differenzen/Singularitäten zu vergessen, um auf Allgemeines zu schließen. In diesem Sinn ist das Vergessen zu begreifen als die Bedingung der Möglichkeit überhaupt zu denken und zu handeln.

Womit wir zum dritten Gestus kommen: das Manifest des Vergessens! Sybille Krämer interessiert sich nicht nur für vergessene Themen oder für Phänomene der Ohnmacht, sie macht das Vergessen zum Programm! Wie oft hat sie uns, ihre MitarbeiterInnen und StudentInnen, an die berühmte Erzählung von Jorge Luis Borges erinnert, die von einem Mann mit unfehlbarer Wahrnehmung und absolutem Gedächtnis handelt? [7] Durch die Überfülle seines Gedächtnisses ist Ireneo Funes aber ganz unfähig zu denken und stirbt, gelähmt, an einer Lungenembolie!

Sybille Krämer empfiehlt uns, weniger nach enzyklopädischem Wissen zu streben, als unserem ›Bauchgefühl‹ zu folgen und uns selbst das Vergessen als kreative Strategie zu erlauben: das Vergessen also nicht vergessen!

Philosophie wird auf diese Weise befreit von der angespannten Aufgabe, Wahrheit zu etablieren (zu sammeln, zu klassifizieren, zu archivieren...) und an herkömmlichen Wahrheiten festzuhalten. Es gibt immer verschiedene Perspektiven. Doch selbst das gilt es im richtigen Moment noch zu vergessen. Denn nichts tötet die Kreativität des Denkens mehr als ein krampfhaftes Festhalten – egal woran, selbst an sich selbst –, das gleichzeitig einer Unfähigkeit zu vergessen gleichkäme.

Krämers Denken zelebriert also das Vergessen als kreative Strategie. Das macht sie als Philosophin sicher unkonventionell, vielleicht sogar ab und zu subversiv. Krämer wählt nicht den Weg der von Ideologien geprägten Konventionen: Sie wählt lieber den Weg des Vergessens, des Sich-manchmal-(wenn die Zeiten gut sind!)-selbst-Vergessens, d.h. des ständigen Neubeginns. Denn das ist auch der Weg des Sich-selbst-Überraschens und Neuwerdens, d.h. der Weg einer »Neutralisierung der Zeit«. [8] Eine, die von ihrem eigenen Enthusiasmus angespornt und intuitiv ihrer Spürnase für vergrabene Phänomene und verschollen geglaubte Theoreme folgt, vergisst manche Konventionen, z.B. das Gesetz des ausgeschlossenen Widerspruchs... Humorvoll, lacht sie dabei über sich selbst: ›Hab' ich das wirklich gesagt? Ach ja, das war aber letztes Jahr!‹

Lachen: Welch besseres Antidot gibt es gegen frühzeitiges Altern? Kein besseres vielleicht... außer, die Zeit zu vergessen!

 

 

 



 

 

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Endnoten

[1] Diese Notiz Gadamers zum Vergessensbegriff Nietzsches findet sich in Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990, S. 21.

[2] Vgl. z.B. Sybille Krämer: »›Schriftbildlichkeit‹ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift«, in: Horst Bredekamp, Sybille Krämer (Hrsg.): Bild, Schrift, Zahl, München 2003, S. 157-175.

[3] So z.B. Sybille Krämer: »Die ›Rehabilitierung der Stimme‹. Über die Oralität hinaus«, in: Sybille Krämer, Dorisch Kolesch (Hrsg): Stimme. Annäherung an ein Phänomen, Frankfurt a.M. 2006, S. 269295; Sybille Krämer: »Das ›postalische Prinzip‹. Versuch einer Rehabilitierung des Übertragens. Ein Essay«, in: Theo Hug (Hrsg): Mediale Wende – Ansprüche, Konzepte und Beispiele / Mediatic turn – Claims, Concepts and Cases, Spiel 25 (2006), S. 8998.

[4] Sybille Krämer: »Was tut Austin, indem er über das Performative spricht? Ein anderer Blick auf die Anfänge der Sprechakttheorie«, in: Jens Kertscher, Dieter Mersch (Hrsg.): Performativität und Praxis, München 2003, S. 19–34.

[6] Sybille Krämer: »Das Vergessen nicht vergessen! Oder: Ist das Vergessen ein defizienter Modus von Erinnerung?«, in: Erika Fischer-Lichte, Gertrud Lehnert (Hrsg.): Inszenierungen des Erinnerns, Paragrana (2000), Heft 2, S. 251275, hier S. 266, fortan zit. als Krämer 2000.

[7] Jorge Luis Borges: »Das unerbittliche Gedächtnis«, in: Fiktionen. Erzählungen 1939–1944, Frankfurt a.M. 2004.

[8] Krämer 2000, S. 262.