Simone Mahrenholz, Berlin

 

Denkgesten Sybille Krämers (I)

»Mit der Philosophie gegen die Philosophie denken«

 

Jede auf irgendeine Art herausragende Denkgeste verdankt sich letztlich dem Managen von Paradoxa. Verdankt sich dem Kraftwerk, das sich aus dem dauernden Vermitteln von Gegensätzen speist. Sybille Krämer wird außerhalb der Philosophie – in anderen Geistes- und Sozialwissenschaften, in den Kunst-Wissenschaften – stärker als viele andere ihrer Fachkollegen wahrgenommen, sie ist eine der präsentesten Stimmen einer Zunft, die außerhalb ihrer disziplinären Grenzen kaum eine Rolle spielt. Innerhalb ihrer eigenen Reihen begegnet Sybille Krämer hingegen sinngemäß oft der Schlachtruf: »Das ist keine Philosophie!« Woran liegt das? Sind es die Themen? Ist es die Herangehensweise, Methodik?

Etwas Charakteristisches der Tätigkeit der Philosophie liegt offenbar gerade darin, daß sie als »keine Wissenschaft« daherkommt. Man kann sagen: Das Wissenschaftliche, das genuin Seriöse an der Philosophie liegt darin, dass bzw. wie sie sich selber den Boden unter den Füßen wegzieht. Diese Figur ist natürlich uralt: Der Ziehvater und bis heute einflussreichste Prototyp philosophischen Denkens sagte: »Ich weiß, dass ich nichts weiß.« Von Wittgenstein gibt es Ähnliches. Dieses Paradox, dieser logisch oszillierende Kategorienfehler ist gleichsam die Urfigur der Philosophie.

Sybille Krämer würde ebenfalls jederzeit einräumen, dass sie nichts weiß. Dies zeigt sich schon darin, dass ihr tief eingewurzelte Überzeugungen im Sinne unumstößlicher Gewissheiten oder Prinzipien fremd sind. Vielleicht ist eine gute Philosophin darin wie eine gute Schauspielerin, Therapeutin oder Mäeutikerin: Sie braucht keine eigene Identität. Sybille Krämer zeichnet sich dadurch aus, dass es für sie keine Denk-Unwahrscheinlichkeiten, keine Denk-Undenkbarkeiten gibt. Die Devise oder das Spiel lautet: Man erahne instinktiv, was die »richtige«, »korrekte«, wahrscheinliche, moralische etc. Sicht auf eine Sache ist, und stelle das Gegenteil auf. Und gucke dann, was passiert. So wie in einem Reagenzglas: auf welche Weise es schäumt. Wie die neu gezogenen Schneisen ästhetisch so daliegen. Das ist denkerische Anti-Metaphysik pur. Man ärgere sich nicht, wenn die Sache nicht wie geplant aufgeht – denn dies bietet die Chance, vom minus-gepolten Teilchen zum plus-gepolten Teilchen zu mutieren und die Denk-Schneisen neu auszutarieren. Daher ist Sybille Krämer auch von größter Toleranz sämtlichen Positionen ihrer Schüler gegenüber. Hauptsache, der Punkt des Kandidaten ist klug begründet. Die Entwicklung dieser Idee wird dann begutachtet wie ein Pferd, das sich im Rennen gegen die Konkurrenz durchsetzen muss, und wenn das unbekannt-abseitige Theoriepferd vorne durchs Ziel geht, ist sie die erste, die mit Stolz und Anerkennung aufwartet. Unter welcher Fahne dieses Pferd lief, aus welchem Stall es stammt, spielt letztlich keine Rolle.

Parallelen zum Handel tun sich da nicht zufällig auf. Kann man ein ursprünglich wenig beachtetes Ding, eine »schwache Marke« vielleicht umdeuten, umwerten zu etwas Potentem? Eine fallende oder bislang auf der Abschussliste stehende Denk-Aktie zu ungeahnten Höhenflügen animieren? Sollte dies gelingen, so löste es weniger die Einschätzung aus, der Wahrheit oder Richtigkeit nahe zu sein, als viel eher eine sportsmännische Freude am Spiel, an der Eleganz oder Kühnheit des Manövers. Daran, dass Grenzen sich als hinfällig erwiesen haben: Grenzen des eingefleischten Denk-Habitus der Anderen oder eigene Grenzen dessen, was man glaubte, tun und erreichen zu können. Der Wert einer Sache, einer Theorie-Entscheidung, einer Idee bemisst sich an ihrem Erfolg – sprich, dem (Terrain-)Gewinn, den man mit ihr erzielt. Ist das Pragmatismus? Eher Explorationismus. Nicht allein: »Was geht, was funktioniert am besten?« ist das Hauptinteresse, sondern: »Was geht überhaupt? Geht es nicht vielleicht immer auch ganz anders, als es bislang gemacht wird?«

Warum zum Beispiel sollte man etwa den Unterschied zwischen Schrift und Bild(lichkeit) einzuziehen versuchen? Offizielles Motiv: Weil das Parallelisieren des Heterogenen etwas Neues freilegt – neue Gemeinsamkeiten, unantizipierbare Anschlusswege. Ferner: Weil man daran prüfen kann, was die gültigen Attribute, die logischen Charakteristika, begrifflichen Eigenschaften der Phänomene Bild und Schrift eigentlich sind. Erst wenn man sieht, was man wegfallen lassen, umdeuten kann, werden – angewandter, vollzugsartiger Skeptizismus – diejenigen »Wände« sichtbar, ohne die man nicht leben kann, ohne dass einem der Denk-Himmel auf den Kopf fällt.

Inoffizielle Antwort: Warum die Grenze zwischen Bild und Schrift einziehen? Der Grund ist sozusagen ein ästhetisch-ludischer: Weil es sie gibt. Es ist ein sportlicher Grund. Den Rekord zu brechen versuchen: warum? Weil es ihn gibt! – Möchte man nicht zeit seines Lebens als Philosophin herausbekommen, was alles auch ganz anders sein könnte? Ist es nicht exakt die Geste des Kindes, welches das Verbot der Eltern als Gebot zur Überschreitung versteht: als private, ästhetisch-sportlich-explorative Ehrensache?

Billy the Kid also? Nein, gesetz-los ist dies nicht. Die Gesetze des Spiels wie jene des geistigen Unternehmertums und des Sports sind vielmehr präzise, klar definierte Gesetze. Es geht um den Prozess. Um das Ergebnis. Beiläufig auch um dessen Eleganz. Nicht um moralische Chimären wie Wahrheit, die weder messbar noch direkt erkennbar sind – außer an ihren Effekten, Ergebnissen. Und diese Effekte sind selbst wieder elegant — oder eben nicht.

Weniger das »wahr oder nicht wahr« als das »Sein oder Nichtsein« des Gedankens zählt. Ist das »keine Philosophie«? Das kommt natürlich darauf an, wie man Philosophie definiert. Hierzu gibt es mehr gut begründete Auffassungen als Philosophie-Lehrstühle an Universitäten. Eines ist jedoch klar: Eine Philosophie, die sich am Überleben (des Gedankens) orientiert statt an dessen un­(letzt)­begründbarer Wahrheit, atmet in jedem Satz eine existenzielle Notwendigkeit. Die Sache um diesen Satz entscheidet sich immer sofort, im Nu. Jeder Satz vertritt seine eigene Anschlussfähigkeit gleich mit. Hierin entspricht die Evolution des Denkens der Evolution des Universums. Wahr ist, was – und solange es – lebt und überlebt. Das Sein, Bestehen, die (Weiter-)­Verwendbarkeit entscheiden über die Gültigkeit einer Theorie. Vielleicht ist es gerade diese geistig unabhängige, darwinistische Anti-Metaphysik Sybille Krämers, die ihren Denk-Gestus außerhalb der philosophischen Zunft so unwiderstehlich macht.

 

 

 



 

 

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