Mirjam Schaub, Berlin

 

Denkgesten Sybille Krämers (VI)

Die Grazie des Automatischen, Blinden, bloß Mechanischen – oder was Heinrich von Kleist, Paul Valéry und Gerhard Richter mit der Philosophin teilen

 

Von der frühen Beschäftigung mit Rechenmaschinen, die ihren Ausgang nehmen von Leibnizens Entdeckung der menschlichen Erkenntnisweise, die sukzessiv, dabei »blind oder auch symbolisch« [1] verfährt, bis zu den jüngsten Arbeiten über Medialität als fremdbestimmte Übertragung, welcher der Inhalt der Botschaft äußerlich bleibt – es fällt auf, dass sich Sybille Krämer für eine wiederkehrende Denkfigur interessiert: für die überraschenden Sinneffekte oberflächlicher, mechanischer, repetitiver, ja geistloser Verfahren. Wenn es bei Paul Valéry in Die fixe Idee (1932) heißt, »das Tiefste am Menschen ist die Haut«, [2] dann verfolgt Krämer analog die Fährten einer philosophischen Tiefenwirkung, welche gerade aus dem Blinden, Tauben, Unempfindlichen, operativ Glatten, Oberflächlichen erwächst. Wie kann das sein?

Die phänomenale Transparenz des Mediums lässt es epistemisch rätselhaft, ja opak erscheinen. Gerade diese besondere Physik (Oberfläche) der Medien gibt Anlass dazu, über ihre Metaphysik (Tiefenwirkung) nachzudenken. Denn Medien machen etwas anderes als sich selbst wahrnehmbar. Sie tun dies, indem sie weder (i) selbst etwas wahrnehmen können, noch (ii) ihrerseits im störungsfreien Vollzug selbst länger wahrgenommen werden. Krämer nennt diese Eigenschaft die Selbst-Neutralisierung des Mediums. [3] Damit ist kein generativer, kein taktischer oder selbstreflexiver Vorgang bezeichnet, sondern ein mechanischer Akt der Entäußerung, der die Verhältnisse der Sichtbarkeit umstülpt. Die wichtigste Bedingung für das Stattfinden einer solch gegenstrebigen Sichtbarmachung liegt in der von Krämer diagnostizierten Äußerlichkeit, Blindheit, Unempfindlichkeit der gewählten Verfahren gegenüber ihren Inhalten.

Das gilt für mediale wie symbolische Operationsformen gleichermaßen. Der Bote ist für Krämer interessant, weil er sich nicht für die Botschaft interessiert – und sie gerade deshalb klaglos überträgt. [4] Das Symbol ist interessant, weil es schwankenden Sinnangeboten ein operationalisierbares Format gibt. Geld ist interessant, weil es keinen Unterschied macht, ob es Naturalien, Wissen, Kunst oder Risiken in einen monetären Gegenwert verwandelt. Die Null ist interessant, weil man, obgleich sie selbst keinen Wert wie eine Zahl hat, gerade mit ihr rechnen muss, will man negative und positive Werte zueinander ins Verhältnis setzen. Die Figur des verschwindenden Vermittlers ist damit nur die aktivische Formulierung einer Einsicht in ein wichtiges Strukturmerkmal von Übertragungs- und Sinnstiftungsprozessen überhaupt: Der Möglichkeit der Entäußerung (Exteriorisierung) der innersten Funktionszusammenhänge geht weder Innerlichkeit noch Selbstreflexivität noch Identität, sondern Äußerlichkeit und d.h. Differenz zu sich selbst sowie Unähnlichkeit zwischen Ursache und Wirkung voraus.

In Heinrich von Kleists Essay Über das Marionettentheater (1810) [5] wird genau diese »sonderbare Behauptung« ästhetisch gewendet und systematisiert. Es ist der stadtbekannte Tänzer C., der den zögerlichen Ich-Erzähler für das Marionettentheater zu begeistern sucht. Der sieht zunächst – ganz in der Manier Goethes – in den animierten Puppen kunstlose Mechanik, welche den Pöbel mit »kleine[n] dramatische[n] Burlesken« (S. 7) erheitere. Widerstandslos (sich nicht zierend), schwerelos (antigrav) folge jedes Glied der Marionette wie ein Pendel dem Schwerpunkt der ihr von außen auferlegten Zugbewegung, gebrauche »den Boden nur, wie Elfen, um ihn zu streifen, und den Schwung der Glieder, [um ihn] durch die augenblickliche Hemmung neu zu beleben« (S. 11).

In diesem Automatismus einer Bewegung, welche sich noch an den Widerständen auflädt, die sich ihr entgegenstellen, liegt für den Tänzer das Geheimnis ihrer Grazie.

 

»Er setzte hinzu, dass diese Bewegung sehr einfach wäre, dass jedes Mal, wenn der Schwerpunkt in einer graden Linie bewegt wird, die Glieder schon Kurven beschrieben; und dass oft, auf eine bloß zufällige Weise erschüttert, das Ganze schon in eine Art von rhythmische Bewegung käme, die dem Tanz ähnlich wäre.« (S. 8)

 

Was auch immer der Erzähler zur Widerlegung anführt, wird vom Tänzer bejaht, Geistlosigkeit nicht zum Antipoden, sondern zur Bedingung vollkommener Grazie erklärt. Gerade weil das Marionettenspiel »gänzlich ins Reich mechanischer Kräfte« hinüberspiele, gerade weil Puppen ihre Bewegungen wie »vermittels einer Kurbel« in reiner Äußerlichkeit vollziehen, eröffnet dieser »letzte Bruch von Geist« (S. 9) die Möglichkeit vollkommener Grazie: »Wir sehen, daß in dem Maße, als in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt« (S. 15). Umgekehrt, so das Fazit, bedroht Bewusstsein – i.S. der bewussten motorischen Kontrolle – die Natürlichkeit einer Bewegung, verschiebt ihren Schwerpunkt aus dem Zentrum in die Peripherie, lässt sie gestelzt und geziert erscheinen:

 

»[Erst] wenn die Erkenntnis gleichsam durch ein Unendliches gegangen ist, [findet sich] die Grazie wieder ein; so, dass sie, zu gleicher Zeit, in demjenigen menschlichen Körperbau am reinsten erscheint, der entweder gar keins, oder ein unendliches Bewußtsein hat, d.h. in dem Gliedermann, oder in dem Gott.« (S. 15f.)

 

Schließlich gibt der Erzähler widerstrebend zu, einige der Bewegungen der kleineren Marionetten seien »sehr graziös« (S. 7) anzusehen. Dann müsse also wenigstens der Maschinist dahinter, der fahrende Künstler, der die Fäden halte, ein rechter Tänzer sein, der seine Kunst auf die Puppe übertrage? Doch der Balletttänzer lässt – so wie die Philosophin – diese Ausflucht in ein Zwei-Welten-Modell nicht gelten. Er weist auf die eklatante Unähnlichkeit der Bewegungen hin, jene der führenden Hand gleiche in keiner Weise der der tanzenden Puppen: »Vielmehr verhalten sich die Bewegungen seiner Finger zur Bewegung der daran befestigten Puppen ziemlich künstlich, etwa wie Zahlen zu ihren Logarithmen oder die Asymptote zur Hyperbel.« (S. 9)

Das ist ein Satz ganz nach Sybille Krämers Geschmack. Erst das vollkommen Mechanische der Bewegung der Puppe kann sie zum affektiven Träger von Anmut, Grazie und Leichtigkeit machen. Allein die Unähnlichkeit der gewählten Mittel kann auf ähnliche Wirkungen hoffen. (Nur, indem das Flugzeug nicht länger das Flugverhalten von Vögeln nachahmt, kann es fliegen.) Mechanik kann nicht-mechanische Wirkungen zeitigen, eine geistvolle Idee sich umgekehrt in kläglicher Thesenmechanik leerlaufen.

So wie Kunst bei Schiller nur über den Umweg des Absichtslosen lehrreich wirkt und in dem selbstvergessenen Spiel zwischen Form- und Stofftrieb jede Pädagogik spielend übertrifft, so besteht deshalb die Denkfigur, für die sich Krämer mit großer Konsequenz entschieden hat, in der konsequenten Exteriorisierung aller Figuren des menschlichen Geistes. [6] Ihr folgt die Aus- und Verlagerung der Sinnrelation, weg von der privaten Intention zur öffentlichen Kultur(technik). Was bleibt, ist der methodische Perspektivenwechsel – von der creatio ex nihilo zur Rekombinatorik, vom Geistvollen zum scheinbar Mechanischen, vom bewusst Sehenden zum blinden Operieren usf. –, der sich bei Krämer als strategischer Medien-, Darstellungs- und Daseinswechsel manifestiert, d.h. sich auf unähnliche, gebrochene Weise entäußert. Wer auf die konsequente ›Gegenverwirklichung‹ (Deleuze) eines genuin nicht sinnlich wahrnehmbaren Phänomens setzt, lässt sich auf Verfahren ein, welche die Differenz und Unähnlichkeit nicht tilgen, sondern mit ihrer Persistenz rechnen, gerade um letztlich wieder erkennbare und damit vergleichbare Effekte im Sinnlichen zu zeitigen. Krämer schlägt radikal unvertraute Wege ein, um mitunter überraschend vertraute Resultate zu erzielen.

Sie setzt auf ein Verfahren, das ungeachtet seines Erfolgs in der Philosophie wenigstens so kontrovers diskutierbar ist wie – sagen wir mal – Gerhard Richters Neugestaltung der Südfenster im Kölner Dom im Domkapitel. Das Mechanische steht bis heute im Ruf der ausgesprochenen Geistlosigkeit und Profanität. Die überirdische, ja himmlische Wirkung des natürlichen Lichts, das sich in den mundgeblasenen Antik-Glasquadraten (10.512 an der Zahl) in 72 verschiedenen Farben ins Dominnere bricht, steht zwar mittlerweile außer Frage. Doch was dachte sich der Künstler, als er den Farbmosaiken statt neobarocken Märtyrergestalten ein ordinäres Computerprogramm an die Seite stellte, das die genaue Verteilung und damit Nachbarschaft der Quadrate einem Zufallsgenerator überließ? [7] Die radikale Bejahung des Zufalls und die Transparenz des gewählten Verfahrens schmälert die verklärende und auch opake Wirkung der Fenster nicht. Im Gegenteil, im Bewusstsein dieser Wirkung erinnert Richters Chuzpe und Souveränität vielmehr an Lessings Überzeugung, dass sich Ähnliches (ähnliche Wirkungen) zu verschiedenen Zeiten nur mit unähnlichen Medien (pardon: Mitteln) erzeugen lassen. Ist das kleinste Element – das Quadrat – auch regulär, spiegelsymmetrisch und repetitiv, so braucht es gerade keine Korrektur durch den bewussten künstlerischen Eingriff oder durch Anähnelung (Mimikry) an die barocken Darstellungen der anderen Fenster. Im Gegenteil: Gerade weil es sich um ein rein graphisches, selbstrepetitives visuelles Element handelt (das boshafte Spötter an den Farbkatalog eines Fliesenlegers, wenn nicht an die Ornamentik einer Moschee erinnert), gilt es für Richter die Mechanik des Farbquadrats durch Wiederverwendung zu betonen, den Automatismus der Abstraktion durch den Zufallsgenerator zu steigern, um die Intensität, ja Spiritualität des Lichts um so autonomer auszustellen; eines Lichts, das sich im Tagesverlauf je unterschiedlich in sein Farbspektrum aufteilt und bricht.

 

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Aufnahme der Derix Glasstudios für die Gehard-Richter-Fenster im Südflügel des Kölner Doms (2007). http://www.derix.com/pictures/pictures/794_big.jpg

 

Sinn lässt sich ebenso wenig wie unilaterale Wirkungen willentlich erzeugen, nicht durch Verfahren der Konkordanz oder der Unifizierung des Differenten erzwingen, sondern verdankt sich dem widerstreitenden Zusammenspiel aus Virtualität und Kontrolle, Improvisation und Kalkül. Dann erst findet sich das Natürliche, Einfache, Anmutige, Selbstverständliche eines Gedankens – der ja seinerseits eine gelungene oder misslungene Bewegung ist – »plötzlich wieder auf der anderen Seite ein«, wie das »Bild des Hohlspiegels, nachdem es sich in das Unendliche [der Verzerrung] entfernt hat, plötzlich wieder dicht vor uns tritt« (S. 15).

 

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Aufnahme des Gerhard-Richter-Fensters im Kölner Dom, das von Derix gefertigt wurde. http://www.derix.com/pictures/pictures/794_big.jpg

 

So wie der Tänzer seine Marionetten führt, so wie der Maler seinen Farbquadraten in immer neuer Kombination zum mechanischen Auftritt verhilft, so spielt die Philosophin das philosophische Marionettenspiel der Begriffe. Sie spielt es mit großer Selbstverständlichkeit, »ohne Myriaden von Fäden an den Fingern zu haben« (S. 7), mitten aus dem Schwerpunkt und dem natürlichen Bewegungsradius der gewählten Begriffe heraus, als ob es die leichteste, anmutigste Sache der Welt wäre, die herrschenden Diskurse zu ordnen und ihre Wahrheitsansprüche neu zu verteilen: Sie korrigiert damit – wie Kleist es wollte – ganz nebenbei die erheblichen »Unordnungen«, die das »Bewußtsein in der natürlichen Grazie« (S. 12) des Denkens anzurichten vermag. Wir alle müssen schließlich, da »das Paradies verriegelt und der Cherub hinter uns [ist], die Reise um die Erde machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten wieder offen ist« (S. 11).

 

 

 



 

 

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Endnoten

[1] »[Q]ualem cogitationem caecam vel etiam symbolicam appellare soleo […].« (Gottfried Wilhelm Leibniz: »Meditationes de cognitione, veritate et ideis« / »Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen« (1684), in: Ders., Philosophische Schriften, hrsg. v. Hans Heinz Holz, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1986, S. 36f.

[2] »Et il y a encore des choses […] qui semblent puissantes, indistinctes […] – Tout à fait d’accord. Des choses qui ne ressemblent à rien […] J’entrevois ici la vie viscères […] – Halte. Défense d’entrer. Danger de mort […] Restons à la surface […] A propos de surface, est-il exact que vous ayez dit ou écrit ceci: Ce qu’il y a de plus profond dans l’homme, c’est la peau? – C’est vrai. – Qu’entendiez-vous par là? – C’est simplicissime […]« (Paul Valéry: »L’idée fixe ou deux hommes à la mer« (1932), in: Ders., Œuvres, hrsg. v. Jean Hytier, Bd. 2, Paris 1960, S. 195–275, hier S. 215).

[3] Vgl. Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a.M. 2008, z.B. S. 344, fortan zit. als Krämer 2008.

[4] Umgekehrt ist aber nicht nur das technische Medium, sondern auch der Mensch selbst als heteronomer Bote (oder wahlweise auch als Marionette) zu denken, nicht als reiner, abgehobener Selbstzweck, so zumindest lautet ein Ausblick in Krämers Botenbuch: »›Heteronomie‹ meint dann nicht einfach, dass das ›Hören des Boten‹ auf das, was er zu übermitteln hat, eben als ein ›Gehorchen‹ zu thematisieren sei, sondern dass wir in Übertragungsverhältnissen auf ein Netz kulturfundierender Aktivitäten treffen, in denen das Absehen von der eigenen Persönlichkeit nicht als Verfall und Verlust, sondern als eine Art von Produktivität erscheint.« (Krämer 2008, S. 342)

[5] Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater. Aufsätze und Anekdoten, Frankfurt a.M. 1985. Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf dieses Werk.

[6] Dies zeigt sich an Krämers Interesse für die Erfindung der Zentralperspektive, welche sogleich zum ubiquitären Modell für das menschliche Sehen gerät, obgleich wir realiter auf die Entfernung anders sehen (vgl. auch ihre kritische Analyse zu Descartes’ stocktastendem Blinden in La Dioptique in Sybille Krämer: »Zentralperspektive, Kalkül, Virtuelle Realität. Sieben Thesen über die Weltbildimplikationen symbolischer Formen«, in: Gianni Vattimo, Wolfgang Welsch (Hrsg.): Medien – Welten – Wirklichkeiten, München 1998, S. 27-38). Immer wird etwas eigentlich Künstliches, Konstruiertes, Erdachtes mit der demonstrativen Entäußerung sogleich naturalisiert, d.h. für natürlich wahrnehmbar (v)erklärt.

[7] Nur die zu hellen Gläser tauschte Richter aus, weil sie Gefahr liefen, vom Licht weiß überstrahlt zu werden. Auch gab er an, welche Reihen sich spiegelsymmetrisch wiederholten sollten.