David Lauer, Berlin

 

Denkgesten Sybille Krämers (III)

Gleichwohl! – Philosophie ohne Bekenntnis

 

Nach Harry Frankfurts Definition ist bullshit ein Sprechen im Modus des bloß plappernden Herumbehauptens – ein bedenkenloses Bramarbasieren, das sich selbst großzügig Dispens erteilt hat von dem Gebot, bei anderen wie bei sich selbst nicht bloße Meinung (doxa), sondern nur gerechtfertigte wahre Meinung (episteme) gelten zu lassen. Obwohl Sybille Krämer gegen Frankfurts grobe und gewaltsame Reduktion der Sprache auf die apophantische, Tatsachen feststellende Rede vehement Einspruch erhoben hat, [1] steht sie – gleichwohl – fest in der Tradition, die gerade dem philosophischen Denken eine unhintergehbare und konstitutive Orientierung am Geltungsanspruch der Wahrheit und an der Kraft des besseren Grundes zuspricht. Bei Krämer zeigt sich diese Orientierung allerdings in einer ganz anderen Weise, als sie üblicherweise verstanden wird. Keiner Leserin kann verborgen bleiben, wie in Krämers evokativen, überbordenden und stets im presto voraneilenden Texten sich die Auffassungen und Ansätze geradezu überschlagen, wie in unterschiedlichen Aufsätzen zum selben Phänomen mitunter ganz konträre Prämissen als Ausgangspunkt dienen und heterogene Positionen eingenommen werden, so dass jeder Text Teile des vorangegangenen durchstreicht und selbst schon sein eigenes kommendes Durchgestrichenwerden zu antizipieren scheint. Krämers Texte weigern sich in irritierender Weise, sich auch nur als Kandidaten für die letzte, endgültig gesicherte gerechtfertigte wahre Meinung auszustaffieren. Ihnen eignet der Verzicht auf jegliche Endgültigkeitsprätention. Vielmehr zeigt sich in ihnen die nach einem Vabanque-Spiel aussehende Tendenz, auch die bestgesicherten eigenen Ergebnisse wieder einzureißen, indem man schlicht mit der Frage einsetzt, ob nicht das Gegenteil dessen, was man soeben gesagt hat, mit gleichem Recht wahr genannt werden könnte.

Fast möchte es also scheinen, als gehe es einem solchen Denken gar nicht mehr um die Wahrheit, sondern um den gleichsam mutwilligen Widerspruch um seiner selbst willen. Jedoch könnte kein Eindruck verkehrter sein. Tatsächlich suspendiert Krämer das philosophische Denken nicht vom Bezug auf Wahrheit und Rechtfertigung, sondern versteht diesen Bezug anders: Nicht als Feststellung der tatsächlichen Wahrheiten der wirklichen Welt, sondern als Exploration der ebenfalls denkbaren Wahrheiten aller möglichen Welten. [2]

Dieser Impuls verbindet sie zum Beispiel mit einem ansonsten so unterschiedlichen Denker wie David Lewis, über den sein Schüler Robert Brandom schreibt, für ihn habe der Reiz des Philosophierens darin bestanden, die begrifflichen Konsequenzen einer unter bestimmten Prämissen erwogenen Auffassung so genau wie möglich zu durchdenken, um dann die begrifflichen Konsequenzen derselben Auffassung, nun aber unter Maßgabe willkürlich gewählter ganz anderer Prämissen zu untersuchen. Dies jedoch nicht, um sich am Ende für eine dieser Prämissenmengen und die damit verbundene Weltsicht zu entscheiden, sondern schlicht, um den philosophischen Gehalt der fraglichen Auffassung immer besser kennenzulernen, indem man sich ihr immer wieder unter neuen Bedingungen nähert, ihr gleichsam beim Leben in immer neuen begrifflichen Umwelten zusieht. Das vorrangige Ziel einer solchen Philosophie, schreibt Brandom, sei »not belief, but understanding«. [3] Ihr Ergebnis ist Erkenntnis ohne den Zwang zum Bekenntnis. Ihr Sprechakt ist nicht die einfache Behauptung, sondern das kontrafaktische Konditional.

Bei diesem Spiel des Denkens wird kein Gewinn penibel buchhalterisch festgehalten und in den Bausparvertrag für die Errichtung des philosophischen Systems eingezahlt; und man darf an seinem philosophischen Blatt nicht kleben. Vielmehr müssen die Karten sofort neu gemischt und ausgeteilt, muss alles Gewonnene wieder eingesetzt werden. Nur wer mit ganz unterschiedlichen Karten auf der Hand die richtigen Züge zu machen lernt, begreift, wie das Spiel funktioniert. So kann man – im buchstäblichen Sinne – um die Wahrheit spielen, und in einem solchen Spiel können sich begründete Optionen für Wahrheitsansprüche allererst zeigen.

Die Festlegung auf bestimmte davon erfolgt im wirklichen Leben von alleine und früh genug. Dafür wird die Philosophie nicht gebraucht. Philosophie im Sinne Sybille Krämers endet daher niemals mit einem »So ist es« – sie beginnt stets von Neuem mit einem »Und wenn es – gleichwohl! – nicht so wäre, was wäre dann?«

 

 

 



 

 

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Endnoten

[1] Sybille Krämer: »Der Philosoph als Sprachpolizist (zu Harry G. Frankfurts Bullshit)«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 3 (2006), S. 478–480.

[2] Michael Hampe hat den Unterschied zwischen einer »monophon behauptenden«, d.h. für einen bestimmten Standpunkt eintretenden, und einer »polyphon zeigenden«, d.h. verschiedene Standpunkte vorführenden Philosophie plastisch umrissen in: Das vollkommene Leben. Vier Meditationen über das Glück, München 2009, S. 254-259.

[3] Robert B. Brandom: Between Saying and Doing. Towards an Analytic Pragmatism, Cambridge/MA 2008, S. 226.