Ludger Schwarte, Düsseldorf

 

Vorsicht Mainstream

oder: zwischen Skylla und Charybdis

 

Dem aufmerksamen Leser der Texte Sybille Krämers wird nicht jene sprachliche Wendung, Formel, Gedankenfiguration entgangen sein, die einige verunsichernde Dramatik mit sich bringt, nicht zuletzt deshalb, weil hier Krämers eher nüchtern thesenhafter Stil auf einmal durch das Zitat eines griechischen Mythologems unterbrochen wird: Plötzlich wird der Leser »zwischen Skylla und Charybdis« versetzt. Und auch wer keine Ahnung hat, was es mit diesen Eigennamen auf sich hat, wird bald im Fortlauf der Argumentation verstehen, dass damit unwählbare oder kaum überzeugende Alternativen gemeint sind. »Skylla und Charybdis« verdanken allerdings ihren Auftritt in den Texten und auch Vorträgen Sybille Krämers nicht einer plötzlichen Antikensehnsucht oder dem Versuch, durch eindrucksvolle Erudition mangelnden Scharfsinn zu überblenden; beide in den Arbeiten des Autors dieser Zeilen durchaus etablierte rhetorische Strategien hat Krämer nicht nötig. Skylla und Charybdis sind auch kein Zierrat.

Sie sind als Bild eine Abkürzung für die philosophische Methodik, die Sybille Krämers Arbeit auszeichnet, wie auch als Methodik eine Abkürzung für die philosophische Bildlichkeit, die ihre Texte und Vorträge unverwechselbar macht.

Zu einiger Berühmtheit gelangt sind vor allem die Skylla des Medienmarginalismus, die es aus Krämers Sicht ebenso zu vermeiden gelte wie die Charybdis des Mediengenerativismus. [1]

Diese Warnung drückt keine Angst vor Extremen aus. Sondern vor allzu leicht eingeschlagenen Alternativen. Es ist eine Skizze des normalen Verlaufs der Denkwege, auf denen man entweder vor der Skylla oder der Charybdis endet. Diesem Mainstream, seinen Fallstricken und Sackgassen entgeht nur diejenige, der es gelingt, ihm mit Blick auf die Verlockungen des Allzueinfachen und den Sog des vermeintlich Radikalen auszuweichen und die Volte, den Slalom, die Kurve eines Denkens nachzuvollziehen, das gerade nicht die dümmlich-fatale Mitte der Straße anpeilt, sondern, Standbein und Spielbein verlagernd und erneut in Ausgleich bringend, die Balance riskierend und doch ohne zu trudeln, einen neuen Zugang ausprobiert. Dem Sog des Mainstreams entkommt nur, wer falsche Alternativen ausräumt.

Die Methodik solchen Denkens wäre missverstanden als eine, die, das Abwegige des Vorliegenden vermeidend, die »mixed constitution« wählt. Tatsächlich sind die Positionen, die von Krämer jeweils Skylla und Charybdis genannt werden, jedenfalls so, wie sie sie beschreibt, äußerst unattraktiv und wenig überzeugend. Sicher, es wird plausibel, warum bestimmte intellektuelle Dispositionen nicht umhin können, dort Zuflucht vor der Anstrengung des Gedankens zu suchen, und warum sie unweigerlich dort untergehen müssen. Die Polarität ihrer Anordnung und die Systematik ihres Gegensatzes erscheinen zunächst zwingend. Daher ist die Suggestion nicht zu unterschätzen, die in der Verfolgung dieses methodos, Skylla und Charybdis meidend, liegt: Wer nämlich Krämer folgt, umgeht tödliche Gefahren (Blindheit, Dummheit), lässt sich von der vermeintlichen Vollständigkeit eines Gegensatzpaares, von der vermeintlichen Alternativlosigkeit des Entweder-Oder nicht blenden, sondern findet, erfindet zwischen zwei Unwählbarkeiten einen dritten Weg.

Nun wird dieser dritte Weg dem Leser Sybille Krämers selten als das Unwahrscheinliche, Unmögliche, völlig Neue präsentiert – meist besteht die Strategie Krämers darin, den behaupteten Gegensatz beider aufzulösen, nach dem Motto: »Ist das Licht Welle oder Korpuskel? Es ist Welle und Korpuskel!« Sie stößt ihren Leser nicht vor den Kopf, sondern nimmt ihn bei der Hand. Und wenn er auch auf diesem Weg vermeint, immer schon geglaubt zu haben, was Krämer ihm als das Plausibelste vorrechnet, er gerät unweigerlich in geistiges Neuland.

Der Charme dieses Denkens liegt nun darin, dass die Perspektive, die notwendig ist, falsche Alternativen zu durchschauen, tatsächlich die imaginative Sprengkraft aufbietet, das unerwartete Dritte zutage zu fördern – nämlich die Passage zwischen den beiden zu vermeidenden Alternativen, eine Passage, die beide Alternativen verbindet und doch auch ganz eigene Konturen aufweist. Das Entweder-Oder wird keinem flachen Sowohl-Als-Auch geopfert, sondern als ein »Zugleich«, z.B. im Falle der Medien als ein Zugleich von »Übertragung« und »Transformation« gedacht. [2] Die Topologie der Gefährdungen und Zwänge ändert sich durch genaues Hinschauen zu einer Synchronizität. Eine Raumordnung wird in eine kontingente Synchronizität überführt.

Die mythische Figur der fatalen Alternative ist aus Homers Odyssee bekannt. Skylla beschreibt Homer als

 

»ein schauerlich bellendes Wesen. Nun freilich klingt ihre Stimme, als käme sie her vom säugenden Hündchen. Aber sie selbst ist ein böse geartetes, riesiges Untier. Keinen freute der Anblick, und käme ein Gott selbst gegangen. Füße hat sie, sie sind wie verkümmert, ein ganzes Dutzend, Hälse ein halbes von mächtiger Länge; auf jedem Schädel, schrecklich und fruchtbar. Dreifach geordnete Reihen von Zähnen sitzen fest und eng, voll schwarzen, getöteten Aases.«

 

Charybdis ist weniger gräuslich anzusehen, aber verheerender, weshalb Kirke Odysseus rät, einige Gefährten zu opfern und das Schiff näher an Skylla vorbeizulenken.

 

»Dort steht ein mächtiger Feigenbaum voll prangender Blätter. Unter ihm schluckt das schwarze Wasser die hehre Charybdis. Dreimal täglich speit sie es aus, um es dreimal zu schlucken. Dies ist ihr Schrecken! Und schluckt sie, so sei du nicht dort! Denn es könnte niemand, selbst nicht der Erderschütterer, dich retten vom Unheil. Also jage dein Schiff am Felsen der Skylla vorüber.«  [3]

 

Skylla und Charybdis stellen folglich keine gleichermaßen ausweglosen Alternativen dar: Wenn Kirke rät, die Charybdis auf jeden Fall zu meiden, obschon das nur kurz geschilderte Schlucken und wieder Ausspeien des schwarzen Wassers sich durchaus nicht so furchterregend ausnimmt wie die Schilderung der Skylla, so mag man darin einen dramaturgischen Trick des Autors erkennen, der die Spannung des Lesers bzw. Hörers noch weiter steigert; hinein gemischt in die Ausmalung dieser Alternative ist zumindest auch die entscheidungstheoretische Figur, nach der Alternativen nie gleichwertig sind, wenn sie nicht in gleicher Weise bekannt sind und unterschiedliche Konsequenzen haben. Auch wird deutlich, dass verloren ist, wer versucht, einfach die Mitte des Seeweges zwischen beiden Alternativen zu wählen. Odysseus muss vorausdenkend/projektierend einen wohl kalkulierten und verzichtsvollen Weg einschlagen.

Die Figur der fatalen Alternative folgt bei Homer als Prüfung des heimkehrenden Odysseus und seiner Gefährten unmittelbar auf die Passage des verführerischen Sirenen-Gesangs, dem Odysseus an den Mast gefesselt lauscht, während seine Gefährten, die Ohren mit Wachs versiegelt, Kurs halten. Insbesondere diesem gefesselten Sinnenglück haben Adorno und Horkheimer bekanntlich eines der eindrucksvollsten Kapitel der Dialektik der Aufklärung  [4] gewidmet, um die Verschränktheit von Mythos und rationaler Arbeit nachzuweisen: »Maßnahmen, wie sie auf dem Schiff des Odysseus im Angesicht der Sirenen durchgeführt werden, sind die ahnungsvolle Allegorie der Dialektik der Aufklärung.« (S. 41)

Die List des Odysseus illustriert die Methode des instrumentellen Rationalismus: Diese ersetzt den Begriff durch die Formel, die Ursache durch Regel und Wahrscheinlichkeit. Die rationalistische Methode zeichnet sich aus durch Funktionalisierung, Abstraktion, Selbsterhaltung, »Unterwerfung alles Seienden unter den logischen Formalismus«, Denkmaschinerie, »die Welt als gigantisches analytisches Urteil« (S. 33; S. 11). Die Funktionalisierung ebenso wie die Ausschließlichkeit logischer Gesetze stammt aus dem Zwangscharakter der Selbsterhaltung, für die das Kontradiktorische nur deshalb in Wahr und Falsch aufgeteilt werden muss, weil dahinter, so Horkheimer und Adorno, die Wahl zwischen Überleben oder Untergang steht (vgl. S. 37). Sie dient vor allem der Aufrechterhaltung der allumfassenden Wirtschaftsapparatur.

 

»Durch die Unterstellung des gesamten Lebens unter die Erfordernisse seiner Erhaltung garantiert die befehlende Minorität mit ihrer eigenen Sicherheit auch den Fortbestand des Ganzen. Zwischen der Skylla des Rückfalls in einfache Reproduktion und der Charybdis der fessellosen Erfüllung will der herrschende Geist von Homer bis zur Moderne hindurchsteuern; jedem anderen Leitstern als dem des kleineren Übels hat er von je mißtraut.« (S. 38)

 

So ließe sich mit der Passage von der falschen Verlockung zur fatalen Alternative fast von einer neuen Periode der Aufklärung sprechen; nachdem Odysseus dem Sirenengesang noch lustvoll, wenn auch ohne Hingabe lauschen konnte, in einer Phase der funktionalen Arbeitsteilung, der Herrschaftsmaschinerie und der Selbsterhaltung, kommt nun, mit der Wahl zwischen zwei Formen des Untergangs, die Phase des Projekts, des Kalküls und des Verzichts:

 

»Der Listige überlebt nur um den Preis seines eigenen Traums [...]. Er [...] muß immer warten können, Geduld haben, verzichten [...] und wenn er durch die Meerenge steuert, muß er den Verlust der Gefährten einkalkulieren, welche Szylla aus dem Schiff reißt. Er windet sich durch [...].« (S. 65)

 

Skylla und Charybdis geben Naturkräften, Notwendigkeiten, Wiederholungszwängen methodisch recht. Doch wenn nur ein Beispiel gefunden werden kann, das zeigt, wie man der unerbittlichen, Gesetzmäßigkeit suggerierenden Wiederholung entrinnt und wie man der Strömung trotzen kann, so muss diese Methodik des Exemplarischen über das Entweder-Oder der Natur- und Denkgesetze gestellt werden:

 

»Die mythischen Ungetüme, in deren Machtbereich [Odysseus] gerät, stellen allemal gleichsam versteinerte Verträge, Rechtsansprüche aus der Vorzeit dar. So repräsentiert sich zur entwickelt patriarchalen Zeit die ältere Volksreligion in ihren zerstreuten Relikten: unterm olympischen Himmel sind sie Figuren des abstrakten Schicksals, der sinnfernen Notwendigkeit geworden. Daß es unmöglich wäre, etwa eine andere Route zu wählen als die zwischen Szylla und Charybdis, mag man rationalistisch als die mythische Transformation der Übermacht der Meeresströmung über die kleinen altertümlichen Schiffe auffassen. Aber in der mythisch vergegenständlichenden Übertragung hat das Naturverhältnis von Stärke und Ohnmacht bereits den Charakter eines Rechtsverhältnisses angenommen. Szylla und Charybdis haben einen Anspruch auf das, was ihnen zwischen die Zähne kommt [...]. Eine jegliche der mythischen Figuren ist gehalten, immer wieder das Gleiche zu tun. Jede besteht in Wiederholung: deren Mißlingen wäre ihr Ende [...]. Sie sind Figuren des Zwanges.« (S. 65)

 

Diesem Zwang, den die Macht der Rechtsverhältnisse im Denken generiert und der nichts anderes als ein Zwang des Mainstreams in patriarchaler Zeit ist, entgeht das Exemplar, das die Wiederholung zwar nicht außer Kraft setzen kann, wohl aber in seiner Nichtnotwendigkeit sichtbar macht.

Sybille Krämer entwickelt von hier aus eine neue philosophische Methode. Zunächst etabliert sie, ähnlich der Erzählung der Kirke, eine Topologie bekannter Positionen, etablierter Rechtsverhältnisse und philosophischer Irrtümer. Die dabei entworfene Karte des Denkbaren ist für sie jedoch keine ewige Wahrheit, sondern verknüpft mit Operationen des Denkens. So lässt sich diese Karte in Abgleich setzen zum Realen, dessen Anstoß das Denken folgt, wie auch zu Denkgesetzen, aus denen die Karte ihre Geltung ableitet. Die Methode des Denkens, die Krämer verfolgt, löst sich dabei behutsam aus der Spur der Funktionen und der vorgewussten Operationen.

Krämer verfolgt eine Logik des Paradigmas der Analogie, um falsche Denknotwendigkeiten zu desidentifizieren:

 

»Gegen die drastische Alternative entweder A oder B, die das Dritte ausschließt, beruft sich die Analogie jedesmal auf ihr tertium datur, und setzt der Alternative ein unmißverständliches ›weder A noch B entgegen. Die Analogie greift in die logischen Alternativen [...] nicht ein, um sie in einer höheren Synthese aufzuheben, sondern um sie in ein Kraftfeld zu verwandeln, in dem sie die polaren Spannungen, die sie bestimmen, ihre substantielle Identität verlieren [...]. Das analogische Dritte gewinnt sein Statut hier vor allem durch die Desidentifikation und die Neutralisierung der beiden ersten Positionen, die damit zugleich voneinander ununterscheidbar werden. Das Dritte ist diese Nichtunterscheidbarkeit, und der Versuch, es durch zweiwertige Zäsuren zu bestimmen, muß notgedrungen auf Nichtentscheidbarkeit stoßen.« [5]

 

Sybille Krämer bleibt nicht bei der Desidentifikation, bei der Arbeit am Paradigma, beim Umkreisen der Nichtentscheidbarkeit stehen, sondern liefert, zugleich exzentrisch und als Probe eines work in progress innerhalb der philosophischen Odyssee, eine wie immer auch vorläufige, schwankende, projektartige, man könnte sagen nautische Operation, von der aus ein Aspektwechsel möglich ist, der die dritte Position als solche überhaupt erst sichtbar macht.

Doch was nutzt es, dem Beispiel der Sybille Krämer zu folgen? Was bedeutet es, eine Philosophin des Exemplarischen zu sein? Resigniert unkten Horkheimer und Adorno:

 

»Der Einfluß auf Natur, den der Dichter der Göttin Kirke zuschreibt, schrumpft zusammen zur priesterlichen Weissagung und gar zur klugen Voraussicht in kommende nautische Schwierigkeiten. Das lebt fort in der Fratze der weiblichen Klugheit. Die Prophezeiungen der depotenzierten Zauberin über Sirenen, Szylla und Charybdis kommen am Ende doch wieder nur der männlichen Selbsterhaltung zugute.« (S. 81)

 

Hier irrten die Dialektiker der Aufklärung. Im Durchgang durchs Projekt, durch den Kalkül und durch den Verzicht weiß sich weibliche Klugheit inzwischen andere Wege zu bahnen und eigene Triumphe zu feiern. Ich gratuliere der Jubilarin sehr herzlich!

 

 

 



 

 

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Endnoten

[1] Siehe beispielsweise Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung, Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a.M. 2008, S. 20.

[2] Sybille Krämer: »Übertragen als Erzeugen: systematische und historische Perspektiven des Mediengebrauchs«, in: Erika Fischer-Lichte, Christoph Wulf (Hrsg.): Praktiken des Performativen, Paragrana, Bd. 13, Berlin 2004, S. 131.

[3] Homer: Odysee, Griechisch/Deutsch, Übertragung von Anton Weiher, München 1990, Zwölfter Gesang, v. 85ff., S. 327.

[4] Theodor W. Adorno, Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 2001. Alle folgenden Seitenangaben im Text beziehen sich auf dieses Werk.

[5] Giorgio Agamben: Signatura Rerum: Zur Methode, Frankfurt a.M. 2009, S. 24.