Eva Cancik-Kirschbaum, Berlin

 

Eine keilschrift-philologische Fußnote in drei Schriftarten

S.K. zum 60.

 

 

die
penibelst
exaktst, akkuratst, petrefaktst
verzwicktst,
verzwacktst, vertracktst,
in
peinlichst
dornspitzen, schräg, senk- und waagerechtkritzen,
scharfglitzen
keilschriftpfeilen,
auf Backsteinplatten und Ziegelzylinder, auf
Marmor-,
Diorit- und Alabaster-
Prismen,
-Kuben und -Kegeln,
sorgfältigst, sauber, skrupulöst,
präzist, korrektst
gestoßenen, gestochenen,
gestampften,
gemetzten, gepressten,
gebrannten und gedrückten,
sumero-akkadischen und babylonisch-assyrischen
Hymnen, Mythen,
Weisheitssprüche, Geheimlehren
und Gesetzesdekrete
Ur-gurs, Dungis und Chammurabis;
die
reichen,
enormen, immensen,
unermesslichen,
aus aller Herren Länder, aus aller
Länder
Städte, aus aller Städte
Herrscherburgen,
Priestersynedrien und Tempelbezirke
zusammengeraubten,
zusammengeklaubten und zusammengestaubten
Sammelsurien, Sammelungen, Kollektionen, Kollektaneen
und
Archivalien
der alten, achämenidischen, persischen Großkönige in Susa.

 

A. Holz, Phantasus

 

Ausrichtung an der imaginären Mittelachse der Zeile – dieses Prinzip bestimmt die aisthetische Struktur von Arno Holz’ lyrischer Geschichtstransformation Phantasus. [1] Der Leser wird konfrontiert mit einem unregelmäßig expandierenden und zurückschwingenden Zeilenstrom, Auskragungen und Rücksprünge gliedern den scheinbar unablässigen Fluss von Informationen, ein kontinuierlicher Lesefluss ist schwierig, die gewohnte Kontinuität syntaktisch strukturierter Leseprozesse von links nach rechts wird aufgebrochen. Die besondere Darstellungsweise – die allerdings im Phantasus universal ist – unterstreicht das Thema der spitzen Keile optisch.

Als dieser Zyklus Ende des 19. Jahrhunderts entstand, nahmen die Keilschriftkulturen gerade Einzug in die Kultur- und Disziplinengeschichte, inspirierten Kunst und Literatur auf vielfältige Weise. England und Frankreich hatten bereits größere Expeditionen in den Orient gesandt, die eindrucksvolle Monumentalskulpturen und Zehntausende von Texten aus dem Land zwischen den Strömen in die Sammlungen des British Museum und des Louvre brachten. Das Deutsche Reich war dabei, eine Expedition nach Babylon auszurüsten – gefördert nicht zuletzt durch Wilhlems II. Interesse für das Altertum.

Arno Holz’ Beschreibung fängt in wenigen Zeilen von hoher Präzision die Impressionen ein, die das altorientalische Material bei seinen Zeitgenossen erzeugt hatte. Tatsächlich entsteht hier ein kleiner enzyklopädischer Eintrag zum Thema »Keilschriftkultur«.

Beginnend mit der Beschreibung der Keilschrift als Schriftform, die sich so völlig von allen anderen bekannten Schriften der Alten Welt unterschied:

 

»Die penibelst, exaktst, akkuratst, petrefaktst, verzwicktst, verzwacktst, vertracktst, in peinlichst dornspitzen, schräg, senk- und waagerechtkritzen, scharfglitzen keilschriftpfeilen«

 

Fast schmerzhaft hör- und sichtbar wird die Akkuratesse der antiken Schreiber in Steigerungs-Unformen und materialisierten Strukturen. Von dort geht es in die Sektion Beschreibmaterialien und Schriftträger:

 

»Backsteinplatten und Ziegelzylinder, auf Marmor-, Diorit- und Alabaster-Prismen, -Kuben und -Kegeln«

 

um wieder zurückzukehren zu Formen der Schrift – denn es ergeben sich neue Aspekte des Inskribierens, dabei greift Holz abermals auf superlativierte Adjektive zurück:

 

»sorgfältigst, sauber, skrupulöst, präzist, korrektst gestoßenen, gestochenen, gemetzten, gepressten, gebrannten und gedrückten«

 

Hat er auf diese Weise die Materialität der Schrift charakterisiert, leitet er nunmehr über und benennt die beiden großen Kulturkreise über eine linguistische Taxonomie als:

 

»sumero-akkadischen und babylonisch-assyrischen«

 

Sprachen wiederum manifestieren sich in Texten und die von Arno Holz benannten Gattungen

 

»Hymnen, Mythen, Weisheitssprüche, Geheimlehren und Gesetzesdekrete«

 

beschreiben einseitig bestimmte Inhalte – nämlich einesteils die vor allem mit chaldäischer Religiosität und Mystik assoziierten Typen und anderenteils die Rechtssammlungen, allen voran als berühmteste die schwarze Diorit-Stele des sogenannten »Codex Hammurabi«.

Namen stehen für die Historie, verorten diese Schrift-Zeugnisse in Raum und Zeit:

 

»Ur-gurs, Dungis und Chammurabis«

 

Ur-gur (heute Ur-namma), Dungi (heute Šulgi) und Hammurabi von Babylon (in der phonetisierenden Schreibweise Chammurabi) stehen für große Dynastien des 3. und 2. Jahrtausends. Und sie stehen für die frühen Staaten, in denen Palast und Tempel die zentralen gesellschaftlichen Institutionen stellten. Zugleich beginnt hier ein neuer Satz, der sich aus chronologisch frühen Epochen doppeldeutig durch

 

»die reichen, enormen, immensen, unermesslichen, aus aller Herren Länder, aus aller Länder Städte, aus aller Städte Herrscherburgen, Priestersynedrien und Tempelbezirke«

 

windet und ironisch-spöttisch europäische Geschichtsforschung im Weg zu den Quellen erkennt, die nichts anderes seien als die

 

»zusammengeklaubten und zusammengestaubten Sammelsurien, Sammelungen, Kollektionen, Kollektaneen und Archivalien«

 

der alten, achämenidischen, persischen Großkönige in Susa.

Womit Holz bei den Anfängen einer langen Geschichte der Wiederentdeckung anlangt – nämlich bei Pietro della Valles Brief, [2] gefertigt am 21. Oktober 1621 in Schiras, in dem er über die in Persepolis gesehenen Keilschriftzeichen berichtet und die ersten Zeichnungen nach Europa sendet:

 

»Bey dem Löwen stunde eine Uberschrifft, welche, von oben biß unten, die gantze Höhe der Wand, beydes der obern, als untern Reyhe, allwo die Bilder eingehauen waren, einnahme. In was für einer Sprach aber, und mit was für Buchstaben diese Uberschrifft geschrieben gewest seyn, kann niemand wissen, weil dieselbe heutiges Tages gantz unbekandt seyn. Ich habe nur allein dieses anmercken können, dass es sechs grosse Buchstaben gewest seyn, und einen großen Platz eingenommen haben; und dass dieselbe in einem Wort nicht neben einander gestanden, sondern zertheilt, und, wie die Hebreischen Buchstaben, von einander gesondert gewest sind, also dass ich daraus abnehme, dass vielleicht ein einziger Buchstabe ein gantzes Wort bedeute: welches ich aber annoch nicht begreiffen kann. Es mögen nun dieses gleich blosse Buchstaben, oder gantze Wörter gewest seyn, so habe ich fünff derselben, die ich in dieser Schrifft am öfftersten gesehen, und gekandt, so gut, als mir möglich gewest, abgeschrieben. Weil es aber gantze Zeilen gewest, so kunte ich nicht wissen, ob man diese Buchstaben, nach der Orientalischen Völcker Gebrauch, von der rechten, zur Lincken, oder aber, auf unsere Weise, von der lincken zur rechten Hand schreiben müsse. Die fünff Buchstaben nun, die ich auffgezeichnet, waren folgende:

 

CANCIK-KIRSCHBAUM_Abbildung

 

Der zweite Buchstabe aber, welcher in vier Strichen bestunde, worunter drei gerad, und unten zugespitzt, der vierte aber überzwerch darüber gesetzt war, gab mir ein Anzeichen, dass sie, auf unsere Weise, von der lincken zur rechten Hand geschrieben werden können, alldieweile das Obertheil an diesen Strichen, wie an allen andern Buchstaben zu sehen, breit ist, und wenn sie gerad sind, allzeit über sich stehen. Weil nun der Strich, der über den andern dreyen stehet, mit seinem ober= und breiten Theil zur lincken, der Schwanz, oder die Spitze aber, auf der rechten Seite stehet, so ist hieraus abzunehmen, dass der Anfang dieser Schrifft von der lincken zur rechten Seite zu machen sey [...].«

 

Seither hat die Keilschrift nichts von ihrer Faszination verloren – im Gegenteil: Sie lädt ein zum Nachdenken über die Rolle von Schrift, die Bedingungen von Schriftlichkeit, über Inskriptionen, Diagrammatik und die materiellen Seiten menschlicher Erkenntnisfähigkeit – ein weites Feld!

 

 

 



 

 

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Drehmomente_Cancik-Kirschbaum.pdf

 

 

Endnoten

[1] Arno Holz: Phantasus, Werke, Bde. 1-3, Berlin 1962. Der zitierte Abschnitt stammt aus Teil III des Werkes (»Das tausendundzweite Märchen«) und findet sich in Bd. 2, S. 273f.

[2] Viaggi di Pietro della Valle il pelegrino. Descritti da lui medesimo in 54 Lettere familiari (1514-1526), 2da impressione, Roma 1662, in quart, Parte 2da: Persia, S. 285f. Die 1. Auflage erschien 1650. Zitiert nach Fritz Hommel: Geschichte Babyloniens und Assyriens, Berlin 1885.