Dieter Mersch, Potsdam

 

Widerständigkeit der Textur

Lektüren am Rande des Schrift/Bildes: Inscrire. Menschenrechte schreiben

Für Sybille

 

MERSCH_Abb1Ein besonderer Fall künstlerisch gestalteter ›Schriftbildlichkeit‹ findet sich im U-Bahnhof Berlin-Westhafen. Hier kreuzen sich zwei zentrale Linien des U/S-Bahn-Systems in Berlin: die Ringbahn einerseits und die vom Rathaus Steglitz kommende U9 andererseits. An den Kachelwänden der Station finden sich auf ebenso überraschende wie ungewöhnliche Weise die Menschenrechte inskribiert. Jeder einzelne Artikel ist nummeriert, gerahmt und Abschnitt für Abschnitt in eine ebenso graphische wie skulpturale Ordnung gebracht: Mal in Dreiecksform, mal als Rechteck oder Quadrat mit Leerstelle, mal linear, mal in Baumform oder Ähnliches, immer versehen mit angedeuteten Piktogrammen von Menschen oder Vögeln, diesen ewigen Metaphern einer ausstehenden Freiheit. Einige zentrale Worte wie Person, Mensch, Sprache oder Existenz sind farbig hervorgehoben. Aus den Texten ist jede Trennung, jeder Abstand zwischen den Worten genauso sorgsam entfernt wie alle ordnenden Interpunktionen – letztere sind wie zusätzliche Ornamente an den tragenden Säulen des U-Bahnhofs angebracht. Man weiß zunächst nicht, um was es sich handelt; die Textpassagen erscheinen verdichtet, einem Buchstabenbild gleich, das sich erst allmählich dem Leser erschließt. Wort für Wort muss der Text nachvollzogen, der Sinn des Gelesenen entziffert werden. Oft verliert man den Faden, muss erneut ansetzen, um das Ganze im Kontext noch einmal zu lesen. Die Textur setzt offenbar dem Leser Widerstände entgegen: Scheinbar verworren reihen sich die Lettern aneinander, bis sie sich, mit imaginären Trennungslinien versehen, zu einzelnen Worten oder kompletten Sätzen ausbuchstabieren lassen und ihren Inhalt preisgeben. Das ›Schriftbild‹ hindert am einfachen, schnellen Lesen, es unterbricht den Fluss, lässt den Atem stocken, zwingt zur Umkehr; zuweilen scheint es sogar, als müssten wir das Gesagte uns wieder und wieder ›vorsagen‹, um es in seiner Bedeutung erst zu erfassen, als ginge es darum, seinen Sinn uns selbst zu ›inskribieren‹ – so, als müssten gleichsam die Buchstaben, die Zeilen, die einzelnen Worte zu einem Teil unserer selbst werden.

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Schreiben, ebenso wie Lesen, ist eine schwierige, sperrige Tätigkeit. Als kulturelle Technik bedarf sie der mühevollen Aneignung. Über Jahre und Jahrzehnte muss sie eingeübt und stetig wiederholt werden. Um Teil unseres eingeleibten Selbst zu werden, bedarf es daher der buchstäblichen Abrichtung. Sie ist – auch – eine Gewalt, genauso, wie sie zu den elementaren Leistungen der Kultur und der menschlichen Freiheit gehört. Von Gewalt und Freiheit handelt auch der Text. Artikel für Artikel wurden die Menschenrechte auf die Wände des U-Bahnhofs Westhafen eingebrannt. Inscrire. Die Menschenrechte schreiben (2000) lautet das unabgeschlossene, sich global ausbreitende Kunstprojekt von Barbara Reiter und François Schein, das sich nicht nur in Berlin, sondern auch in Brüssel, Stockholm, Paris, Lissabon, Haifa und Rio findet. Geplant sind weitere Stationen, z.B. in Kabul oder Santiago de Chile. U-Bahnhöfe erweisen sich dafür als zugleich passende wie unpassende Orte: Passend, weil es sich um Durchgangsorte, um Passagen handelt, die als solche immer prekär sind und die Instabilität der menschlichen Existenz anzeigen, den zeitweiligen Aufenthalt, die Flüchtigkeit und Anonymität des Einzelnen, seine Auslöschung in der Indifferenz der Masse, seine Bedeutungslosigkeit ebenso sehr wie sein blitzartiges Auftauchen oder Verschwinden im Gesichtskreis des Anderen, seine ›Schicksalsleere‹. Sie fordern ob der chronischen Gefährdetheit und Ausgesetztheit des Menschen buchstäblich das allgemeine Recht ein. Gleichzeitig sind U-Bahn-Stationen aber auch unpassende Orte, weil niemand Zeit hat, sich den Text und das durch ihn Geforderte genauer durchzulesen und sich zu eigen zu machen, weil jeder zu gehetzt ist, um auch nur annähernd den Anfang des Geschriebenen zu dechiffrieren oder die Installation in ihrer Gesamtheit zu würdigen. Offenbar bietet die Stätte der Bewegung keinen angemessenen Platz, der Tafel des Gesetzes eine Lokalität und Dauer zu verleihen. Stumm und geduldig wartet die ›Einschreibung‹ vielmehr auf eine Leserschaft, die stets nur Bruchstücke gewahrt, um womöglich nie wieder zurückzukehren.

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Die ›schriftbildliche‹ Manifestation des Textes zeitigt dabei ihre eigenen Effekte. Tatsächlich gehört die Formulierung der Menschenrechte zu einer der großartigsten kulturellen Leistungen der Menschheit. Auch wenn nicht universell begründbar, bilden sie doch einen Grundbestand dessen, was man als die ›allgemeine Menschheit in uns‹, den wesentlichen Sinn der humanitas bezeichnen kann. Sie garantieren nicht weniger als das umfassende Recht auf Menschenwürde, Freiheit, Freizügigkeit der Bewegung, Unversehrtheit, Schutz vor Willkür, Teilhabe und Bildung sowie das Recht, Rechte zu haben, um nur einige zu nennen. Auch wenn diese Begriffe im Einzelnen interpretationsbedürftig und offen für unterschiedliche Auslegungen sind, bleibt ihr Grundbestand doch unantastbar und bedeutet ihre Negation Repression und Verachtung. Dennoch sind wir uns ihrer selten bewusst. Das gilt vor allem im Konflikt mit staatlicher Macht, die sie, auch in der westlichen Welt, die ihre Charta verbrieft und versiegelt hat, partiell aussetzt. Nicht nur diese teilweise Außerkraftsetzung, sondern vor allem ihre vermeintliche Selbstverständlichkeit nötigt zu ihrer beständigen Aktualisierung. Inscrire. Die Menschenrechte schreiben übt in diese am öffentlichen Ort ein. Es ist das Nichtselbstverständliche der Schrift, ihr Hindernis, das ihrer Bildhaftigkeit entspringt, welches aus dem Lesen eine Anstrengung macht und im Akt der Entschlüsselung und Wiederholung den Bezug zu sich selbst, der ebenso lesenden wie vom Text betroffenen Person, unmittelbar herstellt. Die Menschenrechte haben mit jedem Einzelnen, der sich ihrer Lektüre widmet, zu tun; sie sind nicht einfach gegeben, sowenig wie wir sagen können, wir hätten sie schon verstanden oder sie seien bereits in unserer Lebensform garantiert. Vielmehr müssen wir sie jeweils, Satz für Satz und Artikel für Artikel, uns anverwandeln und erinnern, als lernten wir sie zum ersten Mal, um ihrer Bedeutung, ihrer eigentlichen politischen Signifikanz eine Entsprechung und gelebte Wirklichkeit zu verleihen.

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Der auf der Station Wartende oder hier Umsteigende verbringt dort wenig Zeit, zu wenig, um den Text in seiner ganzen Wucht erfassen und ihn sich vergegenwärtigen zu können. Zu Stoßzeiten donnern im 5-Minuten-Takt die U-Bahn-Züge in den Bahnhof, verstellen den Blick, unterbrechen die Lektüre. Wir werden am Sehen gehindert. Die durch ihre ›schriftbildliche‹ Anordnung widerständig gewordene Textur verhält sich dabei konträr zum Stakkato der einfahrenden Züge und nötigt zu einer anderen, langsamen Decodierungsarbeit, die, wie Erstklässler, zwischen den Buchstaben nach einem Wort sucht, um an den Umbruchsstellen wieder neu anzufangen und den Sinn allererst zugänglich zu machen, zu finden. Man kommt nicht weit. Den hereinrauschenden Zug erwartend, lesen wir stets nur den Anfang, das erste Stück oder irgendeinen Mittelteil. Und jedes Mal, wenn wir vielleicht wiederkehren, vermögen wir wiederum nur einen Ausschnitt, einen ›Partikel‹ wahrzunehmen. Die Menschenrechte bleiben so Fragment. Sie erscheinen als Patchwork unzusammen­hängend. Das gilt nicht nur für die ausgestellte ›schriftbildliche‹ Textur, sondern auch für ihren Inhalt in Beziehung zu uns selbst. Auch in der Anwendung der Menschenrechte gegenüber anderen kommen wir nicht weit. In jeder Begegnung erweisen sie sich von Neuem als fraglich, als offen, als unterbestimmt. Die Menschenrechte ›wahrzunehmen‹, d.h. jetzt, sie für sich und andere in Anspruch zu nehmen, sie einzuklagen, ist ebenfalls etwas, was unablässig am Anfang steht, was erst ›im Kommen‹ ist. So entfalten sie ihre eigene Widerständigkeit, nicht nur als Widerständigkeit der Lektüre, sondern vor allem als Widerstand ihrer Realisation. Die Textur und ihre ›schriftbildliche‹ Manifestation, ebenso wie der Ort und seine Fluidität, spiegelt diesen immer erst ankommenden und sich festsetzenden Inhalt wider. Nicht nur eröffnet darum die Schrift einen Operations- und Gedächtnisraum, sondern kraft ihrer ›schriftbildlichen‹ Duplizität auch das Terrain einer ästhetischen Reflexion. Sie haftet noch an uns, wenn wir den nächsten Zug besteigen und den Bahnhof verlassen.

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