Uwe Wirth, Gießen

 

Praktiken im Zwischenraum

 

Sybille Krämer ist es in der Vergangenheit immer wieder gelungen, Begriffe zu prägen, die die akademische Gemeinde bewegen. Etwa der Begriff der Schriftbildlichkeit, der für viele – auch für mich – sehr wichtig geworden ist. Genauer gesagt ist es ein Aspekt der Schriftbildlichkeit, der mich interessiert, nämlich der der »Zwischenräumlichkeit als Strukturprinzip« der Schrift.

Zwischenräumlichkeit ist nicht nur für die diagrammatischen Konfigurationen des Schreibraums relevant – sie strukturiert auch das Nebeneinander von Paratext und Text oder das Miteinander von Text und Leser. Außerhalb des Textes, in der sogenannten Außenwelt, sind Zwischenräume das Strukturprinzip der Architektur – insbesondere dann, wenn die »Zweideutigkeit des Raumes«, wie Walter Benjamin es genannt hat, in der »Zweideutigkeit der Passagen« erlebbar wird, als flanierende und spazierende Praktik im Raum. Doch auch in einem größeren, kosmopolitischen Rahmen wirkt Zwischenräumlichkeit strukturbildend: als inbetween space zwischen Kulturen, als, wie Homi Bhabha schreibt, eine Art transkulturelles Treppenhaus.

Wie es scheint, ist Inbetweenness ein eminent ubiquitäres, um nicht zu sagen globales Phänomen, das uns alle interessiert. Umso bemerkenswerter ist es, dass sich bisher niemand für die Herkunft des Zwischenraums zu interessieren schien. Allerdings gibt es einige kulturwissenschaftlich geschulte und zwischenraumtheoretisch gewiefte Literaturwissenschaftlerinnen und –schaftler, die glauben, den Geburtsort des Zwischenraums klar lokalisieren zu können (eine Publikation mit dem Titel The Location of Inbetweenness ist angeblich bereits in Vorbereitung). Der Geburtsort liegt demzufolge im Umland von Berlin, in Brandenburg, in einem inbetween space also, der sich bisher hartnäckig jeder postkolonialen Analyse widersetzt hat und (deswegen oder trotzdem – das ist bis dato unklar) eine zweifelhafte Existenz als Naherholungszwischenraum fristet. 

Eben dort, im kosmopolitischen Dunstkreis der heutigen Wirkungsstätte Sybille Krämers – und in unmittelbarer Nähe ihres Wochenendhauses – wurde der Zwischenraum gefunden. Als Kronzeugen dieser kühnen Konjektur führen die Anhänger der sogenannten ›Umlandthese‹ ein Gedicht von Christian Morgenstern an, das aus dem Jahr 1905 stammt: [1]

 

Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.

Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da –

und nahm den Zwischenraum heraus
und baute draus ein großes Haus.

Der Zaun indessen stand ganz dumm
mit Latten ohne was herum,

ein Anblick gräßlich und gemein.
Drum zog ihn der Senat auch ein.

Der Architekt jedoch entfloh
nach Afri- od- Ameriko.

 

Der Name des Architekten ist nicht überliefert und auch der Standort, an dem sich das »große Haus« befindet, konnte von der Morgenstern-Philologie nicht ausgemacht werden. Da liegen noch Jahrzehnte akribischer, drittmittelfinanzierter Arbeit vor uns!

Klar ist lediglich, dass Christian Morgenstern in einigen – leider verschollenen – Tagebuchaufzeichnungen von den Lattenzäunen im Brandenburgischen schwärmt, ja dass letztlich nicht auszumachen ist, was bei ihm größer war: seine Begeisterung für das Brandenburgische oder seine Begeisterung für Lattenzäune. Vielleicht war es auch die Begeisterung für das, was beiden gemeinsam ist: der Zwischenraum. Genauer gesagt: der Zwischenraum als Strukturprinzip des Lattenzauns und des Brandenburgischen.

Es ist sicher kein Zufall, dass ausgerechnet Morgensterns Lattenzaun Michel de Certeau zum dritten Teil seiner Abhandlung Kunst des Handelns inspiriert hat, der den Titel »Praktiken im Raum« trägt. Treffender wäre natürlich der Titel »Praktiken im Zwischenraum« gewesen, denn de Certeau zitiert in diesem dritten Teil Morgensterns Gedicht im Zusammenhang mit Überlegungen zum Begriff der Grenze. Die Grenze ist, wie de Certeau schreibt,

 

»ein Zwischenraum, wie es in einem wunderbaren, ironischen Gedicht von Morgenstern über den Zaun heißt, der sich mit Raum und hindurchzuschaun reimt. Es handelt sich um die Geschichte eines Lattenzauns:

 

Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum, hindurchzuschaun.

 

Als dritter Ort, als Spiel von Interaktionen und Durchblicken ist die Grenze sozusagen ein Leerraum, ein erzählerisches Symbol des Austauschs und der Begegnungen.

 

Ein Architekt, der dieses sah,
stand eines Abends plötzlich da -
und nahm den Zwischenraum heraus
und baute draus ein großes Haus.

 

Eine Verwandlung der Leere in etwas Volles und des Zwischenraums in einen bebauten Ort. Die Konsequenz versteht sich von selbst. Der Senat kassiert das Bauwerk und das GESETZ wird wiederhergestellt – und der Architekt flüchtet:

 

ein Anblick gräßlich und gemein.
Drum zog ihn der Senat auch ein.
Der Architekt jedoch entfloh
nach Afri- od- Ameriko.

 

Den Lattenzaun zubetonieren, den Zwischenraum ausfüllen und bebauen, das ist das innere Streben des Architekten; aber das ist auch seine Illusion, denn er arbeitet unbewußt auch an der politischen Erstarrung von Orten; und, wenn er das fertige Werk betrachtet, bleibt ihm nichts anderes übrig, als vor den Gesetzesblöcken das Weite zu suchen.« [2]

 

In der gerade zitierten Passage habe ich eine diplomatische Umschrift der entsprechenden Druckseite aus Die Kunst des Handelns vorgenommen – nicht zuletzt, um eine Merkwürdigkeit zu verdeutlichen: de Certeaus Umgang mit Zwischenräumen.

Bei einem Vergleich zwischen dem Gedicht Morgensterns, wie es in den Galgenliedern abgedruckt wurde, und de Certeaus Zitat dieses Gedichts können wir drei Beobachtungen machen:

Erstens können wir feststellen, dass de Certeau mit seinem Kommentar das zitierte Gedicht immer wieder unterbricht: Er schafft sich Zwischenräume, in die er seine Kommentare einschreibt.

Zweitens nivelliert de Certeau im Rahmen seines Zitats an zwei Stellen die Zwischenräume. Im Original befindet sich nach jedem Paarreim ein Zwischenraum, im zitierten Gedicht wird diese Strophenform manipuliert. In meinen Augen eine klare Grenzverletzung, die umso schwerer wiegt, als es ja explizit um das Thema Zwischenraum und Grenze geht.

Die gravierendste Manipulation besteht – drittens – jedoch darin, dass de Certeau eine Strophe ganz auslässt, nämlich die, wo es heißt,

 

Der Zaun indessen stand ganz dumm
mit Latten ohne was herum,

 

Durch diese Auslassung – auch dies ist eine Möglichkeit, einen Zwischenraum zu schaffen – ändert sich der Bezug der darauf folgenden Strophe:

 

ein Anblick gräßlich und gemein.
Drum zog ihn der Senat auch ein.

 

Während de Certeau den grässlichen und gemeinen Anblick auf das Haus bezieht (und dabei offensichtlich übersieht, dass der anaphorische Bezug »ihn« nicht auf »das Haus« passen kann), ist es bei Morgenstern der Zaun ohne Zwischenraum, der einen grässlichen und gemeinen Anblick bietet. Der Senat zieht also nicht das vom Architekten gebaute Haus ein, sondern den Lattenzaun, den der Architekt seines Zwischenraums beraubt hat. Möglicherweise, weil der Lattenzaun ohne Zwischenraum nicht mehr der Definition eines Lattenzauns genügt, also gegen die allgemeine Preußische Lattenzaunverordnung verstößt (so etwas wird es, wie ich vermute, sicherlich geben).

 

Während de Certeau Morgensterns Gedicht – insbesondere den Umgang mit dem Zwischenraum durch den Architekten – als Ausdruck einer »politischen Erstarrung von Orten« liest und seine Emigration nach »Afri- od- Ameriko« als Flucht vor den »Gesetzesblöcken«, bemerken wir noch etwas ganz anderes: de Certeaus Umgang mit Morgensterns Gedicht ist eine manipulative Praktik im Umgang mit dem Strukturprinzip Zwischenraum. Es werden Zwischenräume nivelliert, es werden Zwischenräume geschaffen – mit einem Wort: Es gibt eine Art Politik des Zwischenraums, und zwar nicht nur im Rekurs auf den Zwischenraum als Strukturprinzip, sondern im Rekurs auf den Zwischenraum als dynamisches Prinzip.

 

Lassen Sie mich die wesentlichen Punkte noch einmal zusammenfassen:

 

a)     Zwischenräumlichkeit als dynamisches Prinzip,

b)     gewonnen mit Hilfe philologischer Praktiken im lyrischen Raum,

c)     lebensweltlich verortet im Naherholungszwischenraum,

d)     Brandenburg,

e)     Lattenzaun.

 

 

 



 

 

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Endnoten

[1] Christian Morgenstern: »Der Lattenzaun«, in: Ders.: Galgenlieder, Gesammelte Werke, Bd. 1, hrsg. v. Clemens Heselhaus, München 1979, S. 26.

[2] Michel de Certeau: Die Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 233–235.