Johannes-Georg Schülein, Jena
Jan Wöpking, Berlin

 

Der indirekte Augenschein

Annäherungen an das Problem kartographischer Evidenz

 

Am 5. Dezember 1562 begab sich ein Getreidehändler aus Schwabhausen in Bayern mit seinen beiden Söhnen auf den Weg zum Markttag nach Landsberg am Lech. Noch bevor die Gruppe aber Landsberg erreichte, trennte sich der Händler von seinen Söhnen und trat allein – die Gründe dafür sind nicht weiter bekannt – die Rückreise an. Hierzu wählte er einen anderen Weg, als sie ihn auf der Hinreise genommen hatten, es sollte wohl eine Abkürzung werden. Bei der Durchquerung eines eingefriedeten Grundstücks überseh er den neu angelegten Brunnen und stürzte – tragisches Final – zu Tode. In der Simultaneität bildlich-kartographischer Darstellung verzeichnet die folgende Karte, die wir Thomas Horsts Buch Die Älteren Manuskriptkarten Altbayerns entnehmen, die Genealogie dieses Unfallgeschehens: [1]

 

SCHUELEIN-WOEPKING_Abb1

Abb. 1

 

In der rechten oberen Ecke der Karte sieht man die Gruppe der Marketender noch gemeinsam auf ihrer Reise. Eine gestrichelte Linie veranschaulicht ihren Weg zu einer Anhöhe in der linken oberen Ecke, die mit der Bemerkung »hinther diesem perg ligt Landsperg« versehen ist. Dies ist dies somit der Ort, an dem das Ziel der gemeinsamen Reise bereits sichtbar gewesen sein dürfte, an dem aber auch der Getreidehändler seinen einsamen Rückweg antrat. Dieser führte ihn entlang einer zweiten gestrichelten Linie auf ein schwarzes Loch in der rechten unteren Hälfte der Karte zu, das eine Aufschrift als den Brunnen ausweist, in den er alsbald stürzen sollte. Die Kartierung dieses Ereignisablaufs erlaubt eine anschauliche Vergegenwärtigung einzelner Stationen des Unfallhergangs, indem sowohl die einzelnen Stationen als auch die konkrete Umgebung, in der sich die Gruppe und der Händler jeweils zu unterschiedlichen Zeitpunkten befanden, dokumentiert sind. Was wann und wo geschah, wird somit innerhalb der Grenzen eines Papiers der souveränen simultanen Anschauung zugänglich gemacht. Das ist ein wesentliches Charakteristikum der so genannten Augenscheinkarte. Sie zeigt auf ein Mal, was eine Erzählung oder ein Bericht über den Hergang der Dinge nacheinander darstellen müsste. So erreicht sie – oder stellt ihn zumindest in Aussicht – einen Grad von Evidenz, wie er der sprachlichen Darstellung desselben Sachverhalts nicht unmittelbar gelingen kann.

Augenscheinkarten wurden vom späten Mittelalter an bis ins 19. Jahrhundert hinein insbesondere vor Gericht verwendet. Es handelt sich um eine Gattung von visuellen Objekten, deren Exemplare zwischen Landschaftsmalerei und Kartographie, zwischen Panoramablick und schematisch-geometrischer Berechnung stehen. Augenscheinkarten wurden angefertigt, um einem Gericht bei der Verhandlung etwa von Grenzstreitigkeiten oder, wie im Fall der Marketender, von Unfallgeschehen einen übersichtlichen Eindruck von Ereignissen und Sachverhalten in Form topographischer Verhältnisse zu geben. Nachdem die Augenscheinkarte erst in letzter Zeit als ein eigenständiger kulturgeschichtlicher Forschungsgegenstand erschlossen wird, sollen an dieser Stelle einige ihrer Implikationen skizziert werden, an denen auch eine produktive philosophische Auseinandersetzung ansetzen kann. [2] Dass die Augenscheinkarte als ein Hybrid aus Bild und Schrift zu verstehen ist und die Potentiale des Ikonischen und Diskursiven vereint, hat sie mit jeder Karte gemeinsam. Dass sie zugleich aber nicht nur topographische Verhältnisse, sondern auch Ereignisse abbilden kann, unterscheidet sie von der gewöhnlichen Landkarte oder einem bloßen Grundriss und macht die Augenscheinkarte zu etwas Besonderem. Sie kann, wie das Beispiel der Marketender belegt, in die Simultaneität schriftbildlicher Darstellung nicht nur die Synchronie des Räumlichen, sondern auch die Diachronie von Ereignisabläufen zusammenziehen und so eine einfache Übersicht über diese ermöglichen. Der Augenscheinkarte kommt so im Unterschied zur Landkarte oder zu topographischen Grundrissen ein Bezug zu Zeitlichkeit zu.

 

Die Augenscheinkarte als visuelles Objekt

Der Begriff der Augenscheinkarten bezeichnet eine Gattung visueller Artefakte, die im Aussehen teils erheblich voneinander abweichen, sowohl was Art, Grad der Beschriftung, Genauigkeit, Qualität, Modus der Perspektive, Fähigkeit des Malers usw. angeht. Augenscheinkarten sind, anders als die ungleich bekannteren Weltkarten, lokal begrenzt. Als Vorläufer lassen sich Grundrissschemata ausmachen, wie sie schon für das frühe Mittelalter belegt sind (vgl. S. 19-35). Manche Augenscheinkarten stellen einen Blick auf die Landschaft dar, wie er von einem bestimmten Ort aus genommen werden könnte, eine konkrete, wenngleich oft vereinfachte Darstellung. Andere dagegen ähneln stark schematisierten Karten, Grundrissen oder sogar flüchtigen Skizzen. [3] Augenscheinkarten können auch panoramaartige Ansichten aufweisen, die eine überraschend malerische Wirkung zu entfalten vermögen. In manchen Augenscheinkarten werden Gebäude durch konventionelle Symbole dargestellt, in anderen, »sprechenden« Karten hingegen wird die visuelle Anordnung durch üppigen Texteinsatz topographisch bestimmt. Nicht nur die Vogelperspektive der Landkarte, auch die Ansicht einzelner Gebäude und Strukturen war Gegenstand von Augenscheinkarten. Die Detailperspektive findet sich außerdem in Darstellungen technischer Strukturen, wie etwa in der Profilzeichnung einer Wasserleitung von 1648 [4] oder der mit ausführlichen schriftlichen Anmerkungen versehenen Darstellung von Salzvorkommen im Berchtesgadener Land. [5] Manche Karten sind von großartiger künstlerischer Qualität, was natürlich auch an der Geschicklichkeit und Übung des Kartenproduzenten lag. Augenscheinkarten wurden nicht spontan produziert. Auch wenn Augenscheinkarten unterschiedlichen Zwecken dienten und nicht nur im Kontext von Gerichtsverhandlungen zur Anwendung kamen, bleibt der juristische Anwendungskontext der häufigste. Hellwig beschreibt das dabei typische Vorgehen: Im Gelände hat der Maler zuerst Skizzen angefertigt, dann im Atelier einen Entwurf erarbeitet, diesen dem Gerichtskommissar zur Abnahme vorlgelegt, daraufhin folgte dann die farbige Ausarbeitung, die wiederum oft durch erneute Begutachtung des Geländes unterbrochen wurde. [6]

 

Die Augenscheinkarte und ihre Verbreitung bis ins 19. Jahrhundert

Die erste Karte für dezidiert juristische Zwecke entstand zirka 1360 anlässlich eines Streits an der Universität von Paris, der darum kreiste, »ob ein Student von Geertruidenberg der ‚nation’ der Picardie oder zu England zu rechnen sei« (S. 22). Als Grenze wurde die Maas ausgewiesen. Die früheste deutsche Augenscheinkarte ist aus dem Jahr 1496, bei der zwei Gemeinden um das Recht auf eine Flussinsel fochten: »Streitgegenstand war eine von Auwald bewachte Flußinsel, die von der Gemeinde Pfuhl als Pferdeweide benutzt worden war. Zwei dieser Pferde wurden von der Ulmer Patrizierfamilie Neithart, die Besitzansprüche anmeldete, gepfändet.« (S. 33) Augenscheinkarten stellen einen Großteil der archivarisch erhaltenen Karten aus der frühen Neuzeit dar. Ihre größte Ausbreitung erleben sie im 16. Jahrhundert. Sie finden allerdings noch bis ins beginnende 19. Jahrhundert Verwendung. [7]

Größere Bedeutung hatten Augenscheinkarten in Verfahren des Reichskammergerichts (errichtet 1495, seit 1527 ständiger Sitz in Speyer). Aufgrund der oftmals vielen Prozesssitzungen sowie seines großen Zuständigkeitsbereichs waren Lokaltermine hier nicht möglich. Stattdessen wurden Kommissare bestellt, die vor Ort Zeugenbefragungen durchführten. Zusätzlich konnte ein unabhängiger Maler bestellt werden, der eine Karte eines umstrittenen Gebiets anfertigte.

Eine Schlüsselfigur in der Geschichte der Augenscheinkarten ist Bartolo da Sassoferrato, ein wichtiger italienischer Rechtsgelehrter des Mittelalters, dessen Schriften allgemein zentral für die Rezeption des römischen Rechts in Frankreich und Deutschland waren. Sein 1355 verfasster Traktat De fluminibus seu tiberiadis wiederum bildet den Schlüsseltext für die neuzeitliche Praxis der forensischen Kartographie. Der Überlieferung zufolge entstand

 

»die kleine Schrift während Bartolos Ferienaufenthalt in einem Landhaus bei Perugia […], wo er durch die Beobachtung des Tiber mit seiner Mäanderbilderung, seinen Inseln und Anschwemmungen auf die juristischen Folgen für die anliegenden Grundeigentümer aufmerksam geworden war. Für die Klärung der daraus entstehenden Streitfragen hatte er den Einfall, die Geometrie zu Hilfe zu nehmen und die Veränderungen mit Meßlatte, Zirkel und einem Winkelmeßgerät zu vermessen. Dem Text wurden schematische Zeichnungen beigegeben, bei deren geometrischer Gestaltung ihm Fra Guido de Perugia, Theologe und Geometer, behilfreich gewesen sei.« [8]

 

Bartolos Schrift hatte großen Einfluss auf die Rechtspraxis und erklärt das vermehrte, abrupte Aufkommen von Augenscheinkarten ab dem Spätmittelalter insbesondere in Kontinentaleuropa (vgl. S. 28). Die Abbildungen de Perugias sind einfache Landschaftsskizzen, die von geometrischen Konstruktionen überlagert sind, die zur Bestimmung der Grenzen dienen. Nach Bartolos Traktat hießen die Karten in Rechtsverfahren auch Tyberiaden.

Fragt man, wie die neuzeitliche Kartographie entsteht, dann hängt die Antwort davon ab, von welchem Typ Karte die Rede ist. Der Bedarf der Seefahrt ist eine Quelle, die antike Überlieferung (Ptolemaios) eine andere. Interessant sind topographische Karten mit kleinem (1:2.000) bis zu größerem (1:200.000) Maßstab. Die Augenscheinkarten, Resultat des juristischen Bedarfes an Karten, dürfen als ein maßgeblicher, wenngleich bis heute kaum diskutierter Entstehungsherd neuzeitlich topographischer Karten gelten. [9] Dies gilt zumal in zahlenmäßiger Hinsicht. So sind Taddey zufolge die meisten der im Deutschland des 16. und 17. Jahrhunderts handgezeichneten Karten »in rechtlichen Auseinandersetzungen als Beweismittel entstanden«. [10] Auch für Recker »spielen die in rechtlichen Zusammenhängen entstandenen kartographischen Darstellungen eine entscheidende Rolle« in der Herausbildung der neuzeitlichen Kartographie. [11] Besonders wichtig sind dabei Karten, die für das Reichskammergericht entstanden sind. Natürlich sind es neben Gerichtsstreitigkeiten auch administrative und ökonomische Kontexte, in denen topographische Karten Verwendung finden. Die Augenscheinkarte erhält ihre Eigenständigkeit und Besonderheit aber gerade durch die besondere epistemische und mediale Funktion, die ihr im Gerichtskontext zukommt. [12]

 

Augenschein und Augenscheinkarte: Begriffliche Annäherung

Da Augenscheinkarten »in der Regel Teil eines Klagen und Anträge, Beweismittel, Berichte, Verhandlungen und Entscheidungen umfassenden Vorgangs, […] also in Akten aller Art integriert« [13] waren und »bei Streitigkeiten um Land-, Weide-, Jagd-, Forst- oder Fischrechte sowie zur Besitzabgrenzung vor Gericht« [14] zum Einsatz kamen, werden sie in der Forschung einer Cartographie juridique (Dainville) oder auch einer forensischen Kartographie (Hellwig) zugeordnet. Augenscheinkarten wurden teilweise vom Gericht, teilweise aber auch von einer der streitenden Parteien in Auftrag gegeben. In letzterem Fall erlaubte das Gericht dann oftmals der Gegenpartei, ebenfalls eine Karte erstellen zu lassen. Unklar bleibt mangels Überlieferung, wie genau Augenscheinkarten die tatsächliche Entscheidung eines Gerichts beeinflussten.

Begrifflich lassen sich Augenscheinkarten mit Majetschak als »Gebrauchsbilder« auszeichnen. [15] Ihre Existenz verdankte sich konkreten, pragmatisch motivierten Aktivitäten, sie wurden für eine begrenzte Anzahl von Betrachtern hergestellt. Augenscheinkarten erfüllten dabei verschiedene Funktionen: Ganz grundsätzlich setzten sie die Trennung von Streit- und Gerichtsort voraus. Sie dienten als Surrogate, falls es für das Gericht nicht möglich oder zu aufwändig war, den Streitort persönlich zu untersuchen. Weiterhin sollten sie Übersichtlichmachung und Komplexitätsreduktion gewährleisten. Schließlich hatten sie auch eine Evidenz-Funktion: Sie sollten eine »Klarheit« vermitteln, die eine vergleichbare »verbale Beschreibung« (S. 29) nicht hätte erreichen können. Augenscheinkarten mussten »wahrheitsgemäß und mit größter Genauigkeit die den Prozeß betreffenden, wesentlichen Gegebenheiten« abbilden (S. 32). Das betraf vor allem die Bestimmung der Grenzen. Sie mussten zeigen, innerhalb welcher Grenzen etwas lag oder sich ereignet hatte, und damit die Rechts- und Besitzverhältnisse im Hinblick auf die Entscheidungsfindung darstellen.

›Augenschein‹ meint nach der deutschen Strafprozessordnung ganz allgemein die sinnliche Wahrnehmung eines Richters von Sachverhalten und Personen, nicht nur durch das Sehen allein, sondern auch durch das Hören, Befühlen, Schmecken und Riechen. Generell kann Gegenstand des richterlichen Augenscheins »alles sinnlich Wahrnehmbare sein, das der Richter zur Sachaufklärung und Bildung seiner Überzeugung für geeignet hält. Dazu zählen insbesondere Personen, feste, flüssige, gasförmige Körper, Gebäude, Örtlichkeiten, Vorgänge«. [16] Nicht nur bei der Betrachtung einer Tatwaffe im Strafprozess, auch beim Ortstermin in einer zivilrechtlichen Grundstücksstreitigkeit kann der Augenschein in der juristischen Entscheidungsfindung zum Tragen kommen. Im Ortstermin, bei dem sich ein Gericht selbst ein Bild etwa von einem Flussverlauf oder der Lage eines Grenzsteins macht, wird bisweilen die Urszene des Augenscheins gesehen; so hält etwa Taddey für die frühe Neuzeit fest:

 

»Wenn sich zwei Nachbarn um einen Grenzstein stritten und es zu einer Auseinandersetzung in der ersten Instanz beim zuständigen örtlichen Gericht kam, wurde häufig ein Lokaltermin vereinbart, ein Augenschein genommen. Augenschein ist also – wie heute noch – zunächst die Ortsbesichtigung zum Zwecke der Erleichterung einer Entscheidung.« [17]

 

›Augenschein‹ zielt demnach auf Evidenzwahrnehmung: Ein Richter überzeugt sich selbst von dem, was Gegenstand und Kontext eines Streits ist, indem er sich selbst ein ursprüngliches, unvermitteltes Bild davon macht.

Diese Evidenz kann der Augenscheinkarte nicht zugesprochen werden, ist sie doch zunächst ein Medium der Darstellung und nicht die dargestellte Sache selbst. Dennoch antwortet die Augenscheinkarte auf das Anliegen eines Richters, sich ein Bild von einem Sachverhalt zu machen. So wird, insofern Augenschein einen Lokaltermin des Gerichts meint, nicht nur die persönliche Begehung und Betrachtung der Verhältnisse durch den Richter selbst, sondern auch die »zeichnerische oder malerische Wiedergabe der bei einem Lokaltermin gewonnenen Eindrücke […] Augenschein« genannt. [18] Bis heute gehört nach deutschem Recht zum Augenschein nicht nur die persönliche Orts- oder Gegenstandsbesichtigung eines Gerichts, sondern auch das Anschauen eines Fotos, eines Films sowie das Anhören einer Tonaufnahme. Außerdem gilt der so genannte Grundsatz der Unmittelbarkeit nicht, das Gericht kann einen »Augenscheinsgehilfen« entsenden, der in seinem Auftrag etwas in Augenschein nimmt, um dann davon zu berichten, und insofern mit der Figur eines Zeugen und eines Sachverständigen zu vergleichen ist. [19] Dass Augenscheinkarten heute nicht mehr zum Einsatz kommen, hat wohl mit dem technischen Fortschritt zu tun, der sie als antiquiertes Medium erscheinen lässt. Während Skizzen und Zeichnungen zwar bis heute vom Gericht in Augenschein genommen werden dürfen – schließlich können sie selbst strafbare Inhalte haben –, können sie nicht zum unmittelbaren Beweis eines Sachverhalts, sondern nur zur Verdeutlichung von Zeugen- und Sachverständigenaussagen benutzt werden. [20] Das heißt, würde ein Zeuge oder ein Sachverständiger eine der Augenscheinkarte vergleichbare Skizze oder eine Zeichnung anfertigen, würde deren Glaubwürdigkeit vor Gericht an der Glaubwürdigkeit des Zeugen oder des Sachverständigen hängen.

In dem Maße wie ›Augenschein‹ Evidenzwahrnehmung heißt, spricht der Begriff einer Augenscheinkarte dafür, in ihr ein Medium zu sehen, das Evidenz unter den Bedingungen der Indirektheit in einer graphischen Repräsentation gewährleisten soll. Es ist dies ein Punkt, an dem Augenscheinkarten nicht nur aus kunsthistorischer oder einer allgemeinen kulturgeschichtlichen Perspektive interessant erscheinen, sondern gerade auch philosophische Fragen im engeren Sinn aufwerfen. Das liegt auch an ihrem multidimensionalen kategorialen Status, der eine einfache begriffliche Einordnung verhindert. Augenscheinkarten, zumal frühe, stehen zwischen Bild und Karte und Beweismittel, zwischen Anschaulichkeit, Exaktheit und juristischer Zwecksetzung.

Abschließend soll nun das Verhältnis von Bild und Augenscheinkarte sowie von Augenscheinkarte und indirekter Kenntnisnahme betrachtet werden.

 

Die Augenscheinkarte zwischen Bild und Karte

Augenscheinkarten weisen eine Spannung auf zwischen der bildlichen Wiedergabe des sinnlichen Eindrucks einerseits – der tatsächlichen Anschauung, so wie sie auch ein Betrachter gehabt haben könnte – und der objektivierten, neutralen Feststellung topographischer Verhältnisse andererseits. Sie stehen zwischen »figuration« und »schématisme«, wobei beide Formen lange Zeit parallel existierten, ohne dass sich anhand der Artefakte eine Fortschrittserzählung vom eher mimetischen zum eher diagrammatischen Bild schreiben ließe. [21] Dennoch treten die beiden Dimensionen auseinander, differenzieren sich aus, bis schließlich um 1600 ein »Paradigmenwechsel vom Augenschein zur Vermessung festzustellen« ist, wie Horst für Altbayern feststellt (S. 65). Damit einher geht ein Wechsel der Produzenten: Nicht mehr Maler, sondern Mathematiker, Geometer und Landvermesser sollen die Karten erstellen. Karten sollen nicht mehr auf dem, was man sehen, sondern auf dem, was man messen kann, begründet sein (S. 64). Es findet, wie Horst schreibt, ein Wandel vom »Augenschein zum Grundriß«, vom »sinnlichen zum rationalen Bild« statt (S. 66). Horsts Unterscheidung zwischen zwei Formen des Bildes, einer sinnlichen und einer rationalen, ruft eine der Grunddifferenzen abendländischen Bilderdenkens auf. Sie findet einen der frühesten Ausdrücke in Platons Sophistes, in dem der Gast aus Elea zwischen zwei Formen der bildenden Kunst unterscheidet: zwischen Ebenbildern und Scheinbildern, zwischen ikones und phantasmata. Ein Ikon weist dieselben Verhältnisse in Länge, Breite und Tiefe auf wie seine Vorlage. Es zeigt daher »die wirklichen Maßverhältnisse« [22] der dargestellten Sache, während ein Phantasma zwar so auszusehen scheint wie seine Vorlage, dies aber nur darauf beruht, dass der Betrachter einen bestimmten Standpunkt gegenüber dem Bild eingenommen hat und einer Täuschung unterliegt. Neutraler gefasst: Ebenbilder stimmen objektiv sowie struktural mit ihrem Vorbild überein und sind standortunabhängig, Scheinbilder dagegen subjektiv sowie phänomenal und sind standortabhängig. In Augenscheinkarten verbinden und überkreuzen sich beide Tendenzen: die rationale Strukturalität von Topologien und die bildliche Simulation einer standortgebundenen Blicksituation, wie sie sich bei einem Ortstermin darbieten würde.

 

Die Augenscheinkarte als Medium notwendiger indirekter Kenntnisnahme

Augenscheinkarten dienen dazu, räumliche Strukturen und zum Teil auch Ereignisabläufe innerhalb dieser Strukturen darzustellen. Sie funktionieren als Medien, die an die Stelle einer unmittelbaren Augenscheinnahme treten und dabei auf ein Bedürfnis nach unmittelbarer Evidenzwahrnehmung antworten, gerade wenn diese Evidenzwahrnehmung nicht unmittelbar möglich ist – mit anderen Worten: Wenn die Kenntnisnahme von einer Situation oder einem Sachverhalt notwendigerweise indirekt erfolgen muss.

In dem Maße wie die Augenscheinkarte ein Medium ist, das eine indirekte Kenntnisnahme ermöglichen soll, scheint sie, wie bereits angedeutet, vergleichbar mit einem Zeugnis zu sein, was etwa den französischen Juristen Jean Boutillier in seinem Text La somme rurale von 1395 sogar zu der Empfehlung führt, dass Karten unmittelbar in bestimmten Fällen als Zeugen vor dem Parlament benutzt werden sollten (vgl. S. 25). Selbst wenn man der Augenscheinkarte als solcher keinen unmittelbaren Zeugnischarakter zugesteht, ist sie dennoch mit der Instanz eines Zeugen insofern verbunden, als sie gerade von einem Zeugen zur Veranschaulichung seiner Aussage eingesetzt werden kann. Dass außerdem der Maler einer Augenscheinkarte unter Eid gestellt werden konnte, deutet auf eine Parallele zwischen einem Zeugen und dem Produzenten einer Augenscheinkarte hin. Genauso wie die Glaubwürdigkeit einer Zeugenaussage durch Vereidigung zumindest der Idee nach gestützt werden kann, kann dies auch für die Glaubwürdigkeit einer graphischen Darstellung geschehen. Als ein Beispiel für eine solche Vereidigung sei hier der Eid wiedergegeben, den der Meister Daniel Burckhardt aus Neuenstein im Jahr 1579 zu schwören hatte:

 

»Ihr werden schwören einen Aydt zu Gott dem Allmächtigen, daß ihr als ein erfahrener und unpartheyischer Mahler den strittigen Ort und Augenschein in Sachen zwischen [den Grafen von] Hohenlohe als Producenten an einem entgegen und wider [den Markgrafen von] Brandenburg Beklagten am andern Teil seiner rechten Eigenschaft nach, niemand zu Lieb noch zu Leid, sondern allein der Gerechtigkeit zu Befurderung, um gebührliche Belohnung treulich und fleißig abmalen und euch daran nichts irren oder hindern lassen wöllet, weder Geschenk, Gab, Nutz, Gunst, Haß, Freundschaft, Feindschaft, Forcht oder anderes, wie Menschensinn erdenken möchte, alles treulich und ohne Gevehrde.« [23]

 

Wie von einem Zeugen wird auch vom Kartenmaler die neutrale Aufzeichnung einer Situation erwartet, auf die der Eid ihn verpflichtet. Der Eid versucht dem zuvorzukommen, was aufgrund von willkürlichen Eingriffen oder Nachlässigkeiten des Zeugen wie des Malers den Vorgang der indirekten Kenntnisnahme verfälschen könnte. Trotz dieser Parallelen wäre es jedoch verfehlt, die Augenscheinkarte mit einer Zeugnisgabe pauschal in eins zu setzen, denn ein wesentlicher Unterschied zwischen Augenscheinkarte und Zeugnis liegt im Modus ihrer Darstellung begründet. Während ein Zeuge in der Regel einen sprachlich artikulierten Bericht von seiner Wahrnehmung einer Situation mitteilt, liefert die Augenscheinkarte eine visuelle Darstellung. Und in der Visualität ihrer Darstellung liegt denn auch ein Potential sekundärer, supplementärer Evidenz, das der Zeugenaussage, eben weil sie wesentlich sprachlich artikulierter Bericht ist, nicht zukommt.

Die Evidenz der Sache selbst kann als solche in der Augenscheinkarte nicht gefunden werden, weil die Augenscheinkarte ein Vermittelndes und nicht das Vermittelte selbst ist. Aus dieser Trennung zwischen Darstellung und Dargestelltem aber auf die gänzliche Evidenzlosigkeit der Augenscheinkarte zu schließen, würde dem Potential der Augenscheinkarte nicht gerecht werden. Während sie zwar nicht dieselbe Evidenz erreicht, die einer originären Anschauung zugänglich wäre, stellt sie doch räumliche Konstellationen und in diesen ablaufende Ereignisse dar, die sich an denselben Sinn wenden, der auch in einer originären Anschauung zum Zuge käme: das Sehen. Betrachtet man die Augenscheinkarte immanent, zielt ihre Darstellung gerade auch auf Evidenz, indem sie nämlich die offenkundige anschauliche Wahrnehmbarkeit der in ihr repräsentierten Sachverhalte und Strukturzusammenhänge ermöglichen soll. Sie stellt dem Ideal nach das dar, was im Hinblick auf eine Entscheidungsfindung notwendig ist. Das heißt, sie entwirft keine vollkommene Ansicht einer räumlichen Konstellation, etwa wie auf einer immer weiter präzisierten Borges’schen Landkarte, die letztlich mit dem von ihr Kartierten nur noch zusammenfallen kann und dabei immer weniger Karte und immer mehr zum kartierten Raum selbst wird. Die Evidenz der Augenscheinkarte bemisst sich nicht an der vollständigen Präsentation dessen, was eine Situation alles ausmacht und somit in ihr alles wahrgenommen werden könnte, sondern vielmehr an dem, was im Hinblick auf eine anstehende Entscheidungsfindung unabdingbar zur Kenntnis genommen werden muss.

Wenn die Augenscheinkarte räumliche Situationen auf ihre strukturellen Verhältnisse reduziert, indem sie etwa die Lage verschiedener Grundstücke zueinander und den Verlauf von Grenzen abbildet, ermöglicht sie gerade eine evidente Wahrnehmung dessen, was genau diese Verhältnisse betrifft. Dreht sich eine Streitsache z.B. um den Besitz eines bestimmten Baumes und damit zusammenhängend um den Verlauf einer Grundstücksgrenze, dann kann die Augenscheinkarte die Grundlage dafür liefern, offenkundig zu sehen, ob der Baum diesseits oder jenseits der Grenze liegt. Eben im Hinblick auf solche Streitfragen kann die Augenscheinkarte Evidenz schaffen. Aber sie enthält nicht zugleich die Bedingungen dafür, dass diese dargestellte Evidenz auch verbürgt ist – mit anderen Worten: dass sie den realen Verhältnissen auch tatsächlich entspricht.

Es ist genauso trivial wie wahr, dass, wenn die Repräsentation einer Augenscheinkarte falsch oder unzureichend ist, die kartographische Evidenz an den realen Verhältnissen vorbeigeht, dass sie diese verfehlt. Die Frage nach der adäquaten Repräsentation fällt indes nicht mit der nach der Evidenz einfach zusammen. Was auf einer Augenscheinkarte als evident wahrgenommen wird, hängt nicht davon ab, ob die Repräsentation dieser Karte auch der Realität entspricht. Das Problem adäquater Repräsentation liegt vielmehr auf einer anderen Ebene, eben jener Ebene, die die Augenscheinkarte als Medium notwendiger indirekter Kenntnisnahme wiederum mit anderen, vergleichbaren Instanzen wie dem Zeugen teilt.

Jede indirekte Kenntnisnahme sieht sich einer Kluft zwischen sich selbst und dem, was sie zur Kenntnis nehmen will, gegenüber. Sie kann also nicht von vornherein denselben Grad von Gewissheit beanspruchen, den eine unmittelbare eigene Anschauung bewirken kann. Die Kluft der Vermittlung birgt stets die Möglichkeit willentlicher Täuschung oder – allgemein – einer wie auch immer durch den Vermittler verursachten Fehlerhaftigkeit. Die Praxis der Vereidigung der Kartenmaler versucht gerade, zumindest willentlicher Täuschung und sträflicher Nachlässigkeit entgegenzuwirken und so der adäquaten Repräsentation zuzuarbeiten. Ganz allgemein hängt die Zuverlässigkeit einer Augenscheinkarte an der Glaub- und Zuverlässigkeit ihres Produzenten. Die Frage der adäquaten Repräsentation erfordert somit ganz eigene Erwägungen, die mit der von der Augenscheinkarte bewirkten Evidenz auf der Ebene der Darstellung nicht in eins fallen. Nur die eigene originäre Anschauung könnte für einen Richter letztlich jeden Zweifel an der Zuverlässigkeit ausschließen, indem sie also selbst unmittelbar eine Evidenzwahrnehmung an Ort und Stelle machte.

Die kartographische Evidenz der Augenscheinkarte erweist sich insofern zwar als eine sekundäre, die unter den Bedingungen notwendiger indirekter Kenntnisnahme an die Stelle einer originären Evidenzwahrnehmung tritt. Aber sie bewahrt sich in der Visualität ihrer Darstellung gerade das Charakteristikum der Evidenz, insofern sie sich an den Sehsinn richtet und auf unmittelbare Einsicht zielt. Diese Einsicht bemisst sich nicht an einem Ideal der Vollkommenheit, sondern an den Vorgaben einer konkreten Streitsache, die entschieden werden soll. Kann diese Streitsache aufgrund einer Augenscheinkarte entschieden werden, dann gelingt das gerade aufgrund ihrer evidenten Visualisierung relevanter Sachverhalte und Strukturzusammenhänge.

Hierin liegt ein markanter Unterschied zum sprachlich artikulierten Zeugnis. Das Zeugnis erzeugt keine solche Evidenz, eben weil es sich nicht an die Anschauung mit dem Ziel richtet, eine graphische Darstellung vorzulegen, die dem Anspruch nach alles enthält, was zu einer immerhin indirekten und in diesem Sinn supplementären Evidenzwahrnehmung im Hinblick auf eine Streitfrage notwendig ist.

 

Summa summarum

Die Augenscheinkarte bleibt ein kulturtheoretisches Forschungsdesiderat. Der vorliegende Text wollte erste Annäherungen an das Objekt aus philosophischer Perspektive vorschlagen. Es ging um dreierlei: (i) um eine erste Klärung des Begriffs der Augenscheinkarte; (ii) um eine Bestimmung des kategorialen Ortes der Augenscheinkarte zwischen Bild, Karte, Messung und Zeugnis; (iii) um eine Herausstellung ihrer primären Funktionen, dabei vor allem, erstens, der Bereitstellung objektivierter (oder parteiisch eingefärbter) topographischer Verhältnisse zur juristischen Entscheidungsunterstützung sowie, zweitens, der Produktion sinnlicher Evidenz. Als auffällig hat sich insbesondere erwiesen, dass die Augenscheinkarte sich allzu einfachen Zuordnungen entzieht, da sie sowohl auf phänomenologischer wie auf funktionaler Ebene mehrere, verschiedene Dimensionen vereint, die sich in gegenwärtigen Theorien zumeist sauber auf verschiedene Medienformate aufgeteilt finden. Neben der Faszination, welche die Augenscheinkarte für sich selbst ausstrahlt, ist es diese bemerkenswerte Übercodiertheit, die sie für philosophische Arbeit wertvoll erscheinen lässt.

 

 

 



 

 

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Endnoten

[1] Vgl. Thomas Horst: Die Älteren Manuskriptkarten Altbayerns. Eine kartographiehistorische Studie zum Augenscheinplan unter besonderer Berücksichtigung der Kultur- und Klimageschichte, Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 161, 2 Bde., München 2009, Bd. 2, S. 332. Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf dieses Werk. Thomas Horsts Arbeiten waren eine maßgebliche Inspirationsquelle für unsere folgenden Überlegungen. Ganz besonders bedanken möchten wir uns bei ihm für seine Lektüre und seine hilfreichen Kommentare zu einer früheren Version dieses Textes.

[2] Vgl. Thomas Horst: »Augenscheinkarten – eine Quelle für die Kulturgeschichte«, in: Akademie Aktuell 1 (2010), S. 38–41, fortan zit. als Horst 2010.

[3] Vgl. François de Dainville: »Cartes et contestations au XVe siècle«, in: Imago Mundi 24 (1970), S. 99-121, hier S. 114, fortan zit. als Dainville 1970.

[4] Vgl. dazu die Karte in Horst 2009, S. 412f.

[5] Vgl. dazu die Karte in Horst 2009, S. 530f.

[6] Fritz Hellwig: »Tyberiade und Augenschein. Zur forensischen Kartographie im 16. Jahrhundert«, in: Jürgen Bau, Peter Christian Müller-Graff, Manfred Zuleeq (Hrsg.): Europarecht, Energierecht, Wirtschaftsrecht. Festschrift für Bodo Börner zum 70. Geburtstag, Köln u.a. 1992, S. 805-834, hier S. 815f., fortan zit. als Hellwig 1992.

[7] Gabriele Recker: »Karten vor Gericht«, in: zeitenblicke 3 (2004), fortan zit. als Recker 2004.

[8] Hellwig 1992, S. 806; vgl. weiterhin ebd., S. 806ff.

[9] »Die Anfänge der topographischen Karten sind also für einen großen Teil in der frühneuzeitlichen Entwicklung der Verwaltung und der Rechtsprechung zu suchen« (Hellwig 1992, S. 805).

[10] Gerhard Taddey: »Über den Augenschein. Ein Beitrag zur Identifizierung historischer Karten«, in: Der Archivar 33 (1980), S. 397-402, hier S. 397.

[11] Vgl. Recker 2004, S. 1.

[12] Vgl. Hellwig 1992, S. 811.

[13] Horst 2010, S. 39.

[14] Vgl. Taddey 1980, S. 399.

[15] Für Gebrauchsbilder gilt: »Was sie für einen Betrachter sichtbar werden lassen, wie sie für ihn die Sichtbarkeit des Wirklichen definieren, hängt davon ab, welche Zwecke mit dem jeweiligen Bildgebrauch verfolgt werden.« (Stefan Majetschak: »Sichtvermerke. Über Unterschiede zwischen Kunst- und Gebrauchsbildern«, in: Ders. (Hrsg): Bild-Zeichen. Perspektiven einer Wissenschaft vom Bild, München 2005, S. 97–121, hier S. 109f.)

[16] Karl-Peter Julius, Björn Gercke u.a.: Heidelberger Kommentar zur Strafprozessordnung, Heidelberg u.a 2009, S. 360, fortan zit. als Julius/Gercke 2009.

[17] Taddey 1980, S. 398.

[18] Ebd.

[19] Vgl. Julius/Gercke 2009, S. 359; Werner Beulke: Strafprozessrecht, Heidelberg u.a. 2010, S. 130.

[20] Vgl. Edwald Löwe, Peter Rieß (Begründer): Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfahrensgesetz, Bd. 4, Berlin 2004, S. 320.

[21] So zumindest im Falle Frankreichs, vgl. Dainville 1970, S. 114 u. S. 144.

[22] Platon: Sophistes, 236a.

[23] HZA Archiv Langenburg 3 q Nr. 16; Hauptstaatsarchiv Stuttgart C 3, H 4905, Attestationes; zit. nach Taddey 1980, S. 400.