Elena Esposito, Modena / Reggio Emilia

 

Philosophie in soziologischer Perspektive

 

Aus der Sicht unserer jeweiligen Disziplinen sind meine Kontakte mit Sybille Krämer immer eine Begegnung mit der Andersartigkeit gewesen. Wir gehen von unterschiedlichen Ansätzen aus, mit verschiedenen Mitteln und verschiedenen Perspektiven: in meinem Fall jene der theoretischen Soziologie, mit ihrer Form der Abstraktion und ihren Konzepten, im Fall von Sybille jene der Tradition der Philosophie, der Spekulation und der Reflexion. Es sind jedoch immer authentische Begegnungen gewesen, in dem Sinne, dass die Andersartigkeit eine erkennbare und brauchbare Form hatte. Mir war immer klar, dass es um Interessen ging, die nicht gleich, jedoch verständlich und anschlussfähig waren. Aus einer anderen Sicht waren die Probleme gleichwohl dieselben: Ich konnte verstehen und lernen.

Ich weiß nicht, ob das für Sybille wie ein Lob klingt, für mich ist es das aber: Ich lese ihre Forschung als Philosophie in soziologischer Perspektive – aber nicht nur. Da ich denke, dass dies auch für andere Disziplinen gilt, könnte ich von einer Philosophie reden, die mit Blick auf die Öffnung und Hybridisierung externer Problematiken, nicht mit Blick auf die Schließung der eigenen Tradition und der eigenen Mittel entwickelt wird.

Wie es oft der Fall ist, war dies für Sybille vermutlich zum Teil eine Entscheidung, zum Teil aber eine unbewusste Orientierung, die sich immer erst im Nachhinein zeigt (falls sie sich zeigt, und falls es einen interessiert), wenn man aus irgendeinem Grund den Blick auf die Gesamtheit der eigenen Arbeit und auf ihre mögliche Kohärenz wendet. Mir scheint es aber einen offensichtlichen roten Faden in dem breiten und vielfältigen Gewebe der von ihr behandelten Themen zu geben (eine Vielfalt, die noch einmal die Offenheit und die Neugier ihres Ansatzes zeigt).

Zuerst natürlich das große Thema der Performativität: die Beziehung zwischen dem Sinn und der Wirkungskraft von Ideen und Konzepten – eine Untersuchung, welche die Einstellung der philosophischen Forschung zutiefst verändert hat. Man könnte fast sagen, dass die Suche nach der Strenge sich aus der Episteme in die Doxa verschoben hat, indem die Verwendung der Begriffe nun im Hinblick auf die Verschiedenartigkeit von Kontexten und Situationen befragt wird – eine Art Rechtfertigung der Kontingenz, welche die Forschung viel schwieriger und unkontrollierbar macht, aber auch sehr viel reicher und anregender.

Dieser Ansatz produziert eine Vielzahl von Fragen, die alle in Sybilles Studien verfolgt werden können. Auf der einen Seite die eher kanonische Richtung der Untersuchung der Sprechakte und ihrer Implikationen, auf der anderen Seite aber auch die Eröffnung der Forschung über Performanz (performance) – mit einer Reihe von Fragen, die an die Grenzen der traditionellen Kompetenz der Philosophie führen: die Inszenierung der Beobachtung für die Beobachtung anderer, die Wahrheit der Fiktion und ihre Formen, die Auswirkungen und die Relevanz der Körperlichkeit (oder der Stimme, oder des Blicks) auf die Konstitution von Sinn.

Auf den ersten Blick scheint dieser Forschungshorizont einer weiteren anspruchsvollen und produktiven Richtung zu widersprechen, einem alten Thema, das immer Sybilles Untersuchungen begleitet hat: das Studium der Symbole und der Formalisierung, des Kalküls und der Rationalisierung – in historischer Perspektive und in begrifflicher Entwicklung. Die Formalisierung scheint der Anerkennung der Kontingenz und des Kontextbezugs zu widersprechen. Sie scheint vielmehr die Schließung der Ideen und ihrer Untersuchung, isoliert vom Zeitpunkt und von den Umständen, zu vertreten. In Sybilles Forschung wird dagegen gerade das Studium der Formalisierung überraschenderweise zur Gelegenheit für eine Kontamination, d.h. für die Überwindung der Schließung. Von den Symbolen geht man zu den Maschinen über, die sie produzieren und nutzbar machen; das Studium des Kalküls führt zur historischen Transformation der Berechnung (d.h. noch einmal zu ihrem Verhältnis mit dem Kontext und mit den Umständen); die Schemata führen zur Diagrammatik und zu den Formen ihres Gebrauchs. Allgemein verwandelt sich die Theorie der Symbole fast unmerklich in die Forschung zum kommunikativen Gebrauch von Symbolen, und die Symbole selbst dehnen sich aus, um Bilder und deren Darstellungsweise, zuletzt natürlich auch Schrift einzuschließen – daher dann konsequenterweise die immense Problematik der Medien, zu der Sybille so bedeutend beigetragen hat. Hier kombinieren sich in gewissem Sinne der technische, der konzeptuelle und der kommunikative Aspekt.

Wenn dieser Weg plausibel ist, ist es nicht verwunderlich, dass Sybilles Auseinandersetzung mit der Metaphysik nicht am Anfang ihres Weges steht, sondern zu einem späteren Zeitpunkt erfolgte: Sie vollzieht eine Art Operationalisierung der Ontologie, die keinen unbestrittenen Ausgangspunkt mehr hat und fast zur kommunikativen Frage geworden ist – was aus meiner externen Sicht ein weiteres Element von Interesse ist. Wenn das Problem (unvermeidlicherweise, wenn es um Zeichen, Symbole und ihre Verwendung geht) die klassische Frage der Repräsentation ist, fragt man danach, wie etwas für etwas anderes steht, nach der Beziehung zwischen Erkenntnis und Außenwelt. Hier kommt vermutlich wieder meine externe Sichtweise zum Tragen: Mir scheint dies ein großartiges Beispiel der Art und Weise zu sein, wie die Authentizität der Philosophie sich gerade dadurch bestätigt, dass sie aus sich selbst herausgeht.

Aus der Perspektive der Systemtheorie (d.h. wieder aus einer externen Perspektive) ist das Interessante am Konstruktivismus nicht so sehr sein vermeintlicher Radikalismus (der oft etwas naiv ist – vor allem, wenn man sich durch ihn definiert), sondern in seiner Operativität: wenn ohne zu viel Emphase vom Gebrauch der Begriffe ausgegangen wird, um Sinn als Ergebnis, nicht aber als Voraussetzung zu gewinnen. Wieder weiß ich nicht, ob Sybille das als Kompliment versteht, für mich ist es aber eines: Ich lese ihre Arbeit als Entwicklung einer Philosophie der Operativität, die durch neue Aufpfropfungen evolviert und auch und gerade der unkontrollierbaren Vielfalt der externen Perspektiven Anreize bietet.

Eine davon ist natürlich meine Perspektive, die sich bewusst ist, die Reichhaltigkeit der Implikationen und Referenzen in Sybilles Werk nicht zu erschöpfen, und genau deshalb danach sucht. Wie ich oben sagte, läuft der Kontakt über ihre immer neue und immer überraschende Fähigkeit, einen Sinn zu erzeugen, der auch im Kontext einer anderen Disziplin funktioniert, zirkuliert und Ergebnisse produziert – der anders sein muss und will. Ich kann mir keinen besseren Beweis der Qualität und Solidität einer Forschungsarbeit vorstellen, auch und gerade weil man nicht wissen kann, wohin sie führt.

 

 

 



 

 

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