Ludwig Jäger, Köln/Aachen

 

›Points Délicats‹ [1]

Ein panchronisches Gespräch zwischen Sybille Krämer und Ferdinand de Saussure

 

Hinweis: Das folgende Gespräch zwischen Sybille Krämer und Ferdinand de Saussure über den Cours de linguistique générale und Fragen gemeinsamen sprachtheoretischen Interesses wurde durch eine rätselhafte Facebook-Fehlfunktion ermöglicht und ausgelöst: Am 9. Januar 2011, also genau 100 Jahre nach dem Ende des Wintersemesters seiner (im Sommer fortgesetzten) 3. Vorlesung über allgemeine Sprachwissenschaft in Genf, erschien auf der Pinnwand der Facebook-Profilseite eines in seinem Studium fortgeschrittenen Philosophiestudenten der Humboldt-Universität zu Berlin (nennen wir ihn Albert S.) [2] die Nachricht einer Person namens Ferdinand de Saussure, »z. Z. wohnhaft in Genève, Rue de la Tertasse 2«, offensichtlich also jenes Saussures, dessen Name auch noch im 21. Jahrhundert wohlbekannt ist. Am Abend dieses 9. Januars hatte – freilich ein Säkulum zuvor – Saussure seinen Kollegen und Freund, den Psychologen Théodore Flournoy, aufgesucht, um sich von ihm hypnotisieren zu lassen. Bei Flournoy hatte er als Experte in Fragen einer »linguistique spirite« seit dem Jahre 1897 verschiedentlich an Séancen [3] teilgenommen, in deren Verlauf etwa das Medium Hélène Smith in somnambulem Zustand Sanskrit gesprochen [4] und in einer fremdartigen Sprache mit den Bewohnern des Mars kommuniziert hatte. [5] Die (in deutscher Sprache verfasste) Notiz Saussures auf der elektronischen Pinnwand lautete:

 

»Es war eine für mich überraschende und erschütternde Entdeckung während eines Zustands in Trance, in den ich in einer Séance 1897 unfreiwillig geraten war, dass in diesem Zustand die Panchronie, d. h. der panchronische Raum, der alle Zeiten umspannt, von uns Sterblichen betreten werden kann. [6] Erschütternd ist dieser merkwürdige Ort, weil er eine Begegnung mit der eigenen Zukunft erlaubt, freilich nur mit Artefakten (Büchern etc.), die in panchronischen Archiven verwahrt sind, und auch nur im Status des Beobachters. Übrigens löscht der panchronische Raum gnädigerweise alle Indikatoren, die eine nähere kalendarische Einordnung der Artefakte erlaubten; zudem lässt er auch nur eine indirekte Kommunikation mit Personen außerhalb des panchronischen Raumes zu. Bei mir hat sich durch diese umstürzende Erfahrung spontan der Wunsch ausgebildet, mit Nachkommenden in ihrer Zeit in ein Gespräch darüber einzutreten, welche Fortschritte die Wissenschaft der Sprache seit meiner Zeit gemacht und ob es z. B. die von mir für notwendig erachtete wirklich radikale Reform [7] der Linguistik gegeben hat. Ich habe deshalb, um mein Panchronie-Erlebnis zu wiederholen, die Hilfe meines Kollegen Flournoy noch mehrmals (freilich zumeist vergeblich) in Anspruch genommen, um mich in Trance versetzen oder hypnotisieren zu lassen. So auch heute.«

 

Weiter heißt es in der Botschaft:

 

»Ich wende mich an Sie mit der Hilfe eines Mitbesuchers der Panchronie (er hat sich mir als H. Ermès vorgestellt), der mit den Gepflogenheiten Ihrer Zeit vertraut zu sein scheint. Er vermag mir als Mittler zwischen heterogenen Welten [8] dabei zu helfen, die ganz neuen und mich durchaus verwirrenden technischen Apparate zu nutzen, mit denen sich bei Ihnen der Kreislauf des Sprechens [9] offenbar in unvorstellbarer Weise erweitern lässt. Verständlicherweise konnte ihn meine während meines Studiums in Berlin für 375 Reichsmark erworbene Schreibkugel nicht sehr beeindrucken. Aber sie half ihm immerhin, bei der Eingabe meiner Äußerungen in sein Übertragungsnotizbuch (er nennt es »Notebook«) nicht an meiner mitunter sehr unleserlichen Handschrift zu scheitern. Ich adressiere Sie [gemeint ist Albert S.] rein zufällig, in Erinnerung an meinen Studienaufenthalt an der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin im Wintersemester 1878/79, den ich aus verschiedenen Gründen in guter Erinnerung behalten habe.« [10]

 

Soweit in Auszügen die Facebook-Pinnwand-Botschaft. Albert S. übermittelte glücklicherweise die zunächst wie ein Fake anmutende Notiz an seine Philosophieprofessorin Sybille Krämer, die nicht ausschloss, dass es sich hier um eine spektakuläre Botschaft aus dem intermediären Raum [11] handeln könnte. Als Verfasserin des Buches Sprache, Sprechakt, Kommunikation, in dem sie sich in einem Kapitel eingehend mit Saussure beschäftigt hatte, sowie als hervorragende Kennerin sprachtheoretischer Positionen des 20. Jahrhunderts [12] war sie für das von Saussure gewünschte Gespräch prädestiniert. Sie willigte gerne ein, auch weil sie hoffte, auf diesem ungewöhnlichen Weg einige Fragen zum saussureschen Denken anzusprechen, die sie für noch klärungsbedürftig hielt. Ganz nebenbei erschien ihr der facebook-vermittelte Chat über die Jahrhunderte auch ein eindrückliches Exemplum für die Art zu sein, in der die Technik als Apparat künstliche Welten hervorbringt und dabei Erfahrungen eröffnet und Verfahren ermöglicht, die es ohne diese Apparaturen überhaupt nicht gäbe[13] Denn: Wie hätte der panchronische Raum ohne das World Wide Web und ohne Facebook ein virtueller Raum möglicher Kommunikation werden können – und wie ohne die Boten zwischen Schreibkugel und Eingabetastatur sowie zwischen Facebookseite und Philosophieprofessorin?

 

Gespräch [14]

 

Saussure: Verehrte Frau Kollegin! Ich bin Ihnen in einer Weise, die Sie vermutlich nicht ermessen können, dankbar dafür, dass Sie bereit zu sein scheinen, auf meinen Zuruf aus der für Sie sehr fernen Vergangenheit des Jahres 1911 zu antworten. (Monsieur Ermès nennt diese Art von Schreibsprechen übrigens »Chat«, [15] was immer das sein mag.)

Krämer: Zunächst: Auch ich bin natürlich außerordentlich glücklich, dass sich diese Möglichkeit eines Gesprächs über die Zeiten hinweg ergeben hat. Viele Kolleginnen und Kollegen werden mich beneiden. [16] Und – was den »Chat« betrifft: Wissen Sie, Herr Saussure, es würde schwierig sein, über die Entwicklung der technischen Kommunikations-Apparate von der Schreibkugel bis zu denen des 21. Jahrhunderts (in dem ich mich befinde) näher zu sprechen. Vielleicht als kurzer Hinweis nur das Folgende: Anders als unter den gewöhnlichen Bedingungen mündlicher und schriftlicher Kommunikation hat sich in unseren Tagen eine Art telematischer Kommunikation entwickelt – eine weltumspannende Fernkommunikation, die große Räume und (wie man sieht) Zeiten zeitsynchron überbrücken kann. Wir nutzen sie gerade. Freilich ist der Preis für einen solchen Fortschritt hoch: Wir müssen ihn nämlich gewissermaßen durch die Anonymität der Kommunikationsteilnehmer erkaufen. [17]

Saussure: Weltumspannende Fernkommunikation – das ist faszinierend. Ich nehme an, eine Art fortentwickelter Telegraphie. Aber warum Anonymität?

Krämer: Anonymität, weil ich mir z. B. gerade jetzt im Austausch mit Ihnen nicht wirklich sicher sein kann, dass Sie die Person sind, die die Wirkungsgeschichte Ihres großen Buches Cours de linguistique générale als Ferdinand de Saussure kennt. Sie könnten ein anderer sein und sich mit diesem Namen getarnt haben.

Saussure: Ich versichere Ihnen, ich bin Saussure und hoffe nur, dass man mich mit meinem Namen noch verbindet. Ob ich allerdings die Person bin, »die die Wirkungsgeschichte des Cours de linguistique générale als Ferdinand de Saussure kennt«, entzieht sich meiner Kenntnis, weil ich nicht weiß, was Sie mit »Wirkungsgeschichte des Cours de linguistique générale« meinen.

Krämer: Ach je! Das können Sie ja auch gar nicht wissen. Wie soll ich Ihnen das erklären? Es handelt sich bei dem Cours, der – wie ich Ihnen versichern kann – gewaltige Wirkungen auf die spätere Entwicklung der Sprachwissenschaft gehabt hat, um eine Rekonstruktion Ihrer Genfer Vorlesungen über allgemeine Sprachwissenschaft anhand studentischer Mitschriften[18]

Saussure: Der Vorlesung, die ich gerade halte?

Krämer: Ich denke ja. Sie wurde von zweien Ihrer Schüler herausgegeben, Albert Sechehaye und Charles Bally.

Saussure: Unter meinem Namen?

Krämer: Ja – unter dem Namen Ferdinand de Saussure.

Saussure: Hatten die beiden hierzu meine Zustimmung?

Krämer: Das Buch erschien – es tut mir leid, das sagen zu müssen – erst nach Ihrem Tod, insofern wohl ohne Ihr Plazet.

Saussure: Bally und Sechehaye sitzen gar nicht in meiner Vorlesung. Im Übrigen sind sie auch eher befreundete Kollegen als Schüler. Bally ist Privatdozent an der Universität hier in Genf. Er hat bereits zwei Bücher zur Stilistik vorgelegt [19] und Sechehaye ist unlängst mit einem größeren Werk über theoretische Linguistik und Psychologie der Sprache [20] hervorgetreten. Meine – übrigens recht kritische – Rezension hierzu ist leider immer noch nicht ganz fertiggestellt. [21]

Krämer: Soviel ich weiß, saß aber doch Ihr Schüler Albert Riedlinger, der an der Edition mitgewirkt hat, in der Vorlesung.

Saussure: Das stimmt auch nicht ganz. An der Vorlesung dieses Wintersemesters hat er nicht mehr teilgenommen.

Krämer: Immerhin sind es doch aber Ihre Vorlesungen, die dem Buch zugrundeliegen.

Saussure: Das mag sein. Ich muss mir das aber erst mal näher ansehen. Meine Hörer haben mich verschiedentlich bedrängt, ein Buch zum Themenbereich der Vorlesung zu machen. Aber gerade Riedlinger gegenüber habe ich – ich glaube, es war etwa vor zwei Jahren – [22] darauf bestanden, dass ein Buch das definitive Denken seines Autors wiedergeben muss, dass mir aber meine Vorlesungen über allgemeine Sprachwissenschaft nur vorkommen wie eine Plauderei. Ich habe ihm deshalb mit allem Nachdruck zu verstehen gegeben, dass an ein Buch über dieses Thema nicht zu denken sei. [23] Ich bin jetzt, wie Sie sich vielleicht vorstellen können, einigermaßen bestürzt, dass es genau ein solches Buch zu geben scheint.

Krämer: Ich glaube, Sie haben nicht wirklich Anlass, bestürzt zu sein. Immerhin ist dieses Werk das meistzitierte sprachwissenschaftliche Buch des zwanzigsten Jahrhunderts[24] Es hatte immense Wirkungen auf die Sprachwissenschaft.

Saussure: Zweifelsohne wäre ich davon tief beeindruckt, vielleicht sogar stolz, wenn ich es geschrieben hätte. Aber so trägt offenbar ein Buch meinen Namen, bei dem die, die sich so häufig auf es beziehen, wenn sie es zitieren, nicht mich zitieren, sondern wen auch immer. Das, was ich in den Vorlesungen vorgetragen habe und noch vortragen werde, ist in meinen Augen einfach nicht geeignet für eine Publikation.

Krämer: Was hinderte Sie denn daran, die Vorlesungen zu publizieren?

Saussure: Ich stehe in diesen Vorlesungen vor einem Dilemma: entweder das Thema in seiner ganzen Komplexität auszubreiten und alle meine Zweifel zuzugeben, was nicht angehen kann für eine Vorlesung, welche als Examensstoff dienen soll. Oder etwas Vereinfachtes zu machen, was einer Zuhörerschaft von Nichtlinguisten angemessen ist[25]

Krämer: Vielleicht sollten Sie versuchen, Ihr Buch …

Saussure: Es ist nicht mein Buch!

Krämer: Gut! Gut! Sie haben recht. Trotzdem – Sie sollten vielleicht versuchen, das Buch gleichsam mit unseren Augen, d. h. aus der Perspektive seiner späteren Wirkung zu lesen. Aus dieser Perspektive wäre es dann nicht so wichtig, wie sehr Sie sich in dem Saussure genannten Autor des Cours wiederfinden können. Ich will sagen, aus dieser Perspektive wäre es vielleicht erlaubt, die Differenz zwischen dem Autor Saussure und der Person Saussure zu vernachlässigen[26]

Saussure: Sie meinen, ich bin als historische Persönlichkeit weniger bedeutend als das Bild, das man sich später von mir gemacht hat? Mag sein – aber das ändert, verzeihen Sie, wenn ich darauf bestehe, nichts daran, dass, bezogen auf dieses Buch, kein »Autor Saussure« existiert.

Krämer: Lassen Sie mich anders erklären, was ich meine: Die Bedeutung eines Textes entspringt ja weniger der Intention seines Autors als vielmehr seiner Wirksamkeit innerhalb eines Diskurses, entsteht also durch die Art und Weise, in der an diesen Text angeschlossen wird. [27] Und an diesen Text ist in einer geradezu unglaublichen Weise angeschlossen worden. Sein Autor, wer auch immer er nun auch sei, tritt dabei in den Hintergrund.

Saussure: Liebe Frau Kollegin, ich bin so unbescheiden, zu glauben, dass dieses Buch, von dem Sie reden, wenn es eine größere Wirksamkeit hatte, diese durchaus auch meinem Namen verdankt. Ein Buch über allgemeine Sprachwissenschaft aus der Feder des Autors, dessen Werk über den indoeuropäischen Vokalismus [28] in der Vergleichenden Sprachwissenschaft der letzten Jahrzehnte doch intensiv diskutiert wurde, hätte sicher einiges Aufsehen in Europa erregt. Auch, weil es thematisch niemand von mir erwartet hätte. Aber wie dem auch sei, ich hatte einfach nicht die Absicht, es zu schreiben, oder genauer: Ich hatte die erklärte Absicht, es nicht zu schreiben. Und dass andere – und seien es die von mir sehr geschätzten Kollegen Bally und Sechehaye – sich für fähig und für dazu berechtigt hielten, ein Buch, das ich aus guten Gründen nicht schreiben wollte, an meiner Stelle und unter meinem Namen zu verfassen, zeugt, um es vorsichtig zu formulieren, von unbändigem Selbstbewusstsein. Die Autor-Intention mag weniger ursächlich für die Bedeutung eines Buches sein als seine Wirkungsgeschichte, aber es sollte doch immerhin eine Autorintention geben – und zwar idealerweise die des Autors, der auf dem Umschlag steht. Dass man einen Autor besser verstehen kann, als er sich selbst, hat uns die Hermeneutik des frühen 19. Jahrhunderts gelehrt. Dass man aber das, was ein Autor zu schreiben intendiert, unabhängig davon und unter Umständen sogar konträr zu dem, was seine erklärten Absichten sind, besser wissen und schreiben kann, als er selbst das könnte, ist mir neu.

Krämer: Und doch hat dieser Gedanke einiges für sich: Nicht auf das, was Sie geschrieben hätten, wenn Sie selbst Ihren Vorlesungen Buchgestalt gegeben hätten …

Saussure: Zu den sprach- und zeichentheoretischen Fragen, die Gegenstand der Vorlesungen waren, gibt es durchaus von mir selbst verfasste Fragmente, Notizen und Entwürfe [29]

Krämer: … kommt es an, sondern genau auf das, womit der Autor Saussure sprachtheoretisch kanonisch wurde[30]

Saussure: Liebe Frau Kollegin, welcher Autor mit dem Cours auch immer sprachtheoretisch kanonisch geworden ist, es war nicht der »Autor Saussure«. Aber ehe wir weiter reden, sollte ich mir das Buch erst einmal ansehen und auch, was Sie dazu geschrieben haben. Ich schlage vor, wir unterbrechen unser Gespräch für ein paar Tage. Ich melde mich dann wieder.

Krämer: Einverstanden. Ich wünsche mir sehr, dass Ihr Herr Flournoy Ihnen noch einmal Zugang zur Panchronie verschaffen kann.

 

[Das Gespräch wurde unterbrochen und konnte nach einigen Fehlversuchen erst am 25. April 2011 fortgesetzt werden.] [31]

 

Saussure: Liebe Frau Kollegin, inzwischen habe ich mir den Cours de linguistique générale näher angesehen und auch einige Ihrer Arbeiten, natürlich nicht nur solche, in denen Sie auf mich – oder besser auf den Cours – Bezug nehmen. [32] Ich bin außerordentlich beeindruckt und finde es schmerzlich, dass wir nicht zur gleichen Zeit leben und arbeiten. Was das ominöse Buch betrifft: Fast möchte ich sagen, dass mir Ihre Kritik am Cours mehr aus dem Herzen spricht, als das Buch, das meines zu nennen mir nach wie vor schwer über die Lippen geht.

Krämer: Ihr Lob freut mich natürlich und – was den Cours betrifft, so kann ich nur noch einmal mit den Worten eines Kollegen wiederholen: In den Augen der Welt sind Sie nun einmal dieses Buch! [33]

Saussure: Unser Gespräch ist in einer für mich schmerzlichen Weise lehrreich. Ich sehe nun, dass auch unser direkter Austausch, gleichsam hinter dem Rücken der Wirkungsgeschichte, offenbar nichts daran ändert, dass man mich nur durch diese hindurch wahrnehmen kann. Auch die Möglichkeit einer zeitsynchron direkten Kommunikation über ein Jahrhundert hinweg vermag offenbar die Kette späterer Lektüren, die im Laufe dieses Jahrhunderts stattgefunden haben, d. h. den Zeitenabstand, nicht außer Kraft zu setzen. Trotzdem hoffe ich auf Ihre Nachsicht, wenn ich unser Gespräch für den Versuch nutze, mich bei Ihnen theoretisch in ein anderes Licht zu setzen. Würde es Sie überraschen, wenn ich Ihnen sagte, dass der Autor Saussure – ich meine damit mich im April 1911 – Ihre Kritik des Cours in einigen wesentlichen Punkten teilt?

Krämer: Wahrscheinlich würde es mich gar nicht mehr so sehr überraschen. Natürlich habe ich auch registriert, dass sich in der Zwischenzeit die Stimmen mehren, die – und zwar mit guten Gründen – zu bedenken geben, dass das im Cours dargestellte Sprachbild von den Auffassungen des wirklichen Saussure durchaus abweicht. Aber wenn diese Abweichung bei Ihnen so weit ginge, dass Sie, wie Sie sagen, mit meiner Kritik am Cours übereinstimmen, hieße das ja, dass Sie – darf ich Sie den historischen Saussure nennen? –, dass also der historische Saussure sich kritisch auf genau jenes Sprachkonzept bezöge, das erschaffen zu haben dem Autor des Cours gerade zugeschrieben wird. [34] Ist das Ihre Ansicht?

Saussure: In der Tat – genau das ist meine Ansicht. Gegen viele der im Cours vertretenen theoretischen Annahmen müsste ich Einspruch erheben. [35] Und ich glaube fast, dass die meisten dieser Einsprüche Ihre Zustimmung finden könnten, weil sie mit Ihrer Kritik kongruent sind. Natürlich haben wir hier nicht die Zeit, diesen Umstand ausführlicher zu erörtern. Aber wenigstens einen der heiklen Punkte [36] meiner Sprachtheorie, in denen der Cours, auf den Sie mit Recht kritisch Bezug nehmen, grundlegend von meiner Position abweicht, möchte ich doch mit Ihrer Erlaubnis aufgreifen.

Krämer: Ich bin sehr gespannt!

Saussure: Nun gut. Sie nennen mich einen der Gründerväter des Zweiweltenmodells. [37]

Krämer: Halt! Jetzt muss aber ich auf dem Unterschied zwischen dem historischen Saussure und dem Saussure des Cours bestehen. Ich mache den Vorwurf nicht Ihnen, sondern dem Saussure des Cours.

Saussure: Liebe Frau Kollegin, haben Sie Nachsicht mit mir. Da es mir gerade darum geht, die Differenz zwischen mir und meinem Alter Ego sichtbar zu machen, vernachlässige ich nun meinerseits, gleichsam aus rhetorischen Gründen, diese Unterscheidung und fühle mich gemeint, wenn Sie »Saussure« sagen, um an einem Beispiel zu zeigen, warum ich, also Saussure, nicht gemeint sein sollte, wenn der Autor des Cours adressiert wird.

Krämer: Schauen wir mal, wo uns das hinführt.

Saussure: Zunächst dazu, dass ich Ihnen völlig darin zustimme, dass der Cours in seiner Grundtendenz zu dem neigt, was Sie auch an anderer Stelle die Zwei-Welten-Ontologie von Tiefen- und Oberflächenstruktur genannt haben. [38] Formulierungen des Cours wie die folgenden:

 

(1)   die Sprache an und für sich selbst betrachtet ist der einzige wirkliche Gegenstand der Sprachwissenschaft,

(2)   die Sprache ist eine Form und nicht eine Substanz,

(3)   indem man die Sprache vom Sprechen scheidet, scheidet man zugleich das Soziale vom Individuellen; das Wesentliche vom Akzessorischen[39]

 

legen natürlich nahe, zu schließen, hier werde der Primat der Sprache als System gegenüber dem Sprechen als eine Aktualisierung des Systems und damit eine Marginalisierung der Seite des Sprachgebrauchs theoretisch installiert. [40] Ich lese diese Sätze des Cours genauso wie Sie und halte sie ebenso für sehr problematisch.

Krämer: Wie verhalten sich dann aber die von Ihnen zitierten Sätze des Cours zu dem, was Sie wirklich denken? Sind sie so etwas wie Fehlgriffe Sechehayes und Ballys im Umgang mit den Vorlesungsmitschriften?

Saussure: In der Tat! Genau dies ist der Fall. Die Sätze (1) und (2) haben keinerlei Grundlage in dem, was ich vorgetragen habe. Sie sind freie Erfindungen. Der Satz (3) ist sehr interessant, weil er den folgenschweren Austausch eines Terminus enthält und erst dadurch alles auf den Kopf stellt. Was ich gesagt habe, ist Folgendes: Wenn man die Sprache von der Sprachfähigkeit (nicht vom Sprechen!!) trennt, trennt man das was sozial ist, von dem was individuell ist, das was wesentlich ist, von dem was mehr oder minder akzidentell ist. [41] Ich habe also nicht die parole, die Rede, die Realisierung des Systems, für unwesentlich und akzidentell gehalten, sondern die Sprachfähigkeit.

Krämer: Inwiefern halten Sie nun aber die Sprachfähigkeit für akzidentell?

Saussure: Nun – ich betrachte sie zwar auch als das unterscheidende Zeichen unserer Spezies, als anthropologisches oder sozusagen zoologisches Merkmal der Gattung. Aber diese quasi natürliche Funktion allein würde den Menschen nicht in die Lage versetzen, die Ausübung der Rede zu ermöglichen. [42] Hierzu bedarf es der Sprache (=langue). Es wäre praktisch unmöglich, die Sprachfähigkeit auszuüben, ohne eine andere Sache, die von außen kommt: die Sprache (=langue). Und hier gilt: Die Sprache (=langue) ist notwendigerweise sozial. Die Sprachfähigkeit ist es nicht. [43] Wir können also unsere je individuelle Sprachfähigkeit (=faculté du langage) in der Rede (=parole) nur im Medium einer sozialen Sprache (=langue) realisieren.

Krämer: Aber steckt in dieser Formulierung, obwohl sie die parole nicht explizit für unwesentlich erklärt, nicht doch auch eine verdeckte Priorisierung der langue vor der parole?

Saussure: Keineswegs. Die parole ist für mich nicht einfach die Exekution der langue, sondern zugleich auch deren Ursprung. Sie ist es, die den sozialen Diskurs ermöglicht, dem sich die langue verdankt. Die Sprache ist nur im Hinblick auf die Rede geschaffen. [44] Alle Veränderungen entstehen einzig und allein in der Rede, im Zusammenhang der gesprochenen Sprache. [45] Die Sphäre der parole ist deshalb für mich geradezu die sozialste, denn es ist der Gebrauch, durch den das Zeichen in die Zirkulation hineingeworfen, d.h. in die soziale Masse eingetaucht wird, die jeden Augenblick seinen Wert neu festlegt. [46] Das Wertesystem der langue ist insofern ein Ergebnis der diskursiven Prozesse in der parole.

Krämer: Ich räume ein, dass das ganz anders klingt als der Cours!

Saussure: Vielleicht können Sie jetzt verstehen, warum ich mir sehr gewünscht hätte, mit Ihnen in ein ausführliches theoretisches Gespräch einzutreten. Ihre Kritik der Zwei-Welten-Ontologie sowie der naiven nomenklatorischen Zeichentheorien sprechen mir aus der Seele, haben mir aber zugleich eine Reihe neuer Perspektiven eröffnet. Bedauert habe ich sehr, dass ich Ihre Philosophie der Schrift nicht früher zur Kenntnis nehmen konnte, ich hätte mich gerne in den Sitzungen des Wintersemesters, in denen ich das Problem des Verhältnisses der natürlichen Sprache und der Schrift behandelt habe, an der einen oder anderen Stelle korrigiert. Leider kann ich Sie, da Zeitreisen dieses Typs offenbar auch für Sie in Ihrer Zeit noch nicht möglich sind, nicht nach Genf einladen, was ich sonst außerordentlich gerne getan hätte.

Krämer: Sie können sich sicher denken, dass ich auch mit großer Freude gekommen wäre. Zu gerne hätte ich Ihre Genfer Freunde und Kollegen kennen gelernt und mit Ihnen diskutiert.

Saussure: Auch ich wäre z. B. außerordentlich interessiert gewesen, über das, was Sie, so glaube ich, Medientheorie nennen, und damit im Zusammenhang etwas über Ihre Kultur und die dort herrschenden diskursiven Verhältnisse zu lernen. Aber leider ist Flournoy schon jetzt sehr unwillig, mich zu anderen als zu seinen Forschungszwecken zu hypnotisieren.

Krämer: Vielleicht entwickeln sich die Physik der Zeit und die Formen telematischer Kommunikation so weiter, dass wir das Gespräch eines Tages wieder aufnehmen können.

Saussure: Es wäre mir eine außerordentliche Freude. Tertasse Nr. 2 oder auch Schloss Vufflens stünden Ihnen jederzeit gastlich offen.

 

 

 



 

 

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Endnoten

[1] »Points délicats« nennt Saussure die Grenzphänomene, d.h. die »heiklen Punkte«, an denen sich die Strukturdimensionen der Sprache wie »langue« und »parole«, »Synchronie« und »Diachronie«, »Bedeutung« und »Wert« etc. berühren und überschneiden. Die Begriffspaare stellen in den Augen Saussures eine Herausforderung für die Theorie dar, die nicht dadurch gelöst werden kann, dass sie dichotomisch angeordnet und einander jeweils als methodische Perspektiven oder als ontologische Regionen entgegengesetzt werden; vielmehr ist ihr jeweiliges Verhältnis »heikel« (vgl. Ludwig Jäger: Ferdinand de Saussure. Eine Einführung, Hamburg 2010, S. 195–204, fortan zit. als Jäger 2010).

[2] Der Chronist dankt dem Kommilitonen, der anonym bleiben möchte, für den Hinweis auf das Ereignis und vor allem für die Dokumentation des Gesprächs zwischen Krämer und Saussure. Kursivierungen im nachfolgenden Text kennzeichnen Begriffe, Zitate und zitatartige Paraphrasen der Gesprächspartner.

[3] Vgl. Théodore Flournoy: Des Indes à la planète Mars. Étude sur un cas de somnambulisme avec glossolali, Paris, Genf 1900.

[4] Saussure hatte freilich nachgewiesen, dass es sich nicht um Sanskrit, sondern allenfalls um eine »sanskritoide« Sprache handelte.

[5] Vgl. Victor Henry: Le langage martien. Etude analytique de la genèse d’une langue dans un cas de glossolalie somnambulique, Paris 1901.

[6] In der Tat hatte Saussure, der seine Unterscheidung von Synchronie und Diachronie durch den dritten Terminus »Panchronie« ergänzte, diese dadurch bestimmt, dass sie »alle Zeiten umspannt« (Ferdinand de Saussure: Cours de linguislique générale, ed. crit. p. Rudolf Engler, Bd. I, Wiesbaden 1989, S. 513 / 3271, fortan zit. als Saussure 1989.

[7] Ferdinand de Saussure: Linguistik und Semiologie. Notizen aus dem Nachlass, Texte, Briefe und Dokumente, hrsg. v. Johannes Fehr, Frankfurt a.M. 1997, hier S. 518 (Brief an Meillet vom 4. Januar 1894), fortan zit. als Saussure 1997.

[8] Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a.M. 2008, fortan zit. als Krämer 2008.

[9] Saussure 1989, S. 37 / 195.

[10] Der Chronist erlaubt sich, hierzu auf seine Darstellung der Berlin-Studienepisode Saussures hinzuweisen (vgl. Jäger 2010, S. 51–57).

[11] Krämer 2008, S. 123.

[12] Sybille Krämer: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2001, fortan zit. als Krämer 2001.

[13] Sybille Krämer (Hrsg.): Medien Computer Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt a.M. 1998, S. 85, fortan zit. als Krämer 1998.

[14] Es handelt sich hier natürlich nur um einen Auszug.

[15] Aus Gründen der Lesbarkeit wurden alle ›netspeak‹-spezifischen Kurzformen, die insbesondere H. Ermès verwendete, um Saussures Stimmungen zu Ausdruck zu bringen, getilgt.

[16] Das tut ganz besonders der Chronist.

[17] Krämer 1998, S. 87f.

[18] Krämer 2001, S. 19.

[19] Charles Bally: Précis de stylistique. Esquisse d’une méthode fondée sur l’étude du français moderne, Genf 1905; ders.: Traité de stylistique française, Heidelberg, Paris 1909.

[20] Albert Sechehaye: Programme et méthodes de la linguistique théorique. Psychologie du langage, Leipzig, Genf 1908.

[21] Saussure 1997, S. 380ff. Sie wurde es leider auch nie.

[22] Das Gespräch mit Riedlinger fand in der Tat am 19. Januar 1909 statt.

[23] Saussure 1997, S. 522ff.

[24] Krämer 2001, S. 20.

[25] Saussure 1997, S. 524f.

[26] Krämer 2001, S. 20.

[27] Ebd.

[28] Ferdinand de Saussure: Mémoire sur le système primitif des voyelles dans les langues indoeuropéennes, Leipzig 1879.

[29] Vgl. hierzu etwa Saussure 1997 sowie Ferdinand de Saussure: Wissenschaft der Sprache. Neue Texte aus dem Nachlaß, hrsg. v. Ludwig Jäger, Frankfurt a.M. 2003, fortan zit. als Saussure 2003. Zu dem historischen Autor Saussure und zu seiner sprachtheoretischen Bedeutung hat sich der Chronist jüngst ausführlicher geäußert (vgl. Jäger 2010).

[30] Krämer 2001, S. 20.

[31] Am 25. April 1911, am Beginn des Sommersemesters, las Saussure in seiner Vorlesung über den »Kreislauf des Sprechens«, über die Sprache als »soziale Tatsache« sowie über die Unterscheidung von Sprache (=langage), Sprache (=langue) und Sprechen (=parole). Am Abend dieses Tages kam der intertemporäre Chat wieder zustande. Interessanterweise waren Saussure offenbar nach dem Verlassen der Panchronie seine dortigen Lektüreerfahrungen nicht mehr zugänglich. Es wäre sonst natürlich reizvoll gewesen, zu sehen, welchen Einfluss die Kenntnisnahme des Cours auf die Sitzungen des Sommersemesters 2011 gehabt hätte.

[32] Saussure bezieht sich vor allem auf Krämer 2001 sowie auf Sybille Krämer, Ekkehard König (Hrsg.): Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen, Frankfurt a.M. 2002.

[33] Krämer zitiert hier Milka Ivić: Trends in Linguistics, The Hague, Paris 1970, S. 125.

[34] Krämer 2001, S. 19. Die These, dass sich aus den Quellen des Cours »eine grundsätzliche Kritik eben jenes theoretischen Selbstbewusstseins [der strukturalistischen Sprachwissenschaft] ableiten lässt, dessen historischen und systematischen Ausgangspunkt Saussure vorgeblich darstellt«, hat der Chronist seit 1975 vertreten (vgl. etwa Ludwig Jäger: »F. de Saussures historisch–hermeneutische Idee der Sprache. Ein Plädoyer für die Rekonstruktion des Saussureschen Denkens in seiner authentischen Gestalt«, in: Linguistik und Didaktik 27 (1976), S. 210–244, hier S. 213).

[35] Der Chronist ist erfreut darüber, dass Saussure diese Formulierung gewählt hat, weil er zufällig jüngst versucht hat, Saussures kritische Distanz zu wesentlichen Annahmen des Cours als »Einsprüche« Saussures gegen den Cours zu formulieren (vgl. Jäger 2010, S. 172–204).

[36] Der Chronist hat verschiedentlich auf Saussures Verwendung des Terminus »point délicat« zur Kennzeichnung delikater Regionen der Sprachtheorie hingewiesen (vgl. Saussure 2003, S. 47, Anm. 124 sowie Jäger 2010, S. 194–204).

[37] Krämer 2001, S. 19.

[38] Sybille Krämer: »Sprache und Sprechen oder: Wie sinnvoll ist die Unterscheidung zwischen einem Schema und seinem Gebrauch? Ein Überblick«, in: Sybille Krämer, Ekkehard König (Hrsg.): Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen, Frankfurt a.M. 2002, S. 111, fortan zit. als Krämer 2002.

[39] Vgl: Ferdinand de Saussure: Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft, hrsg. v. Charles Bally und Albert Sechehaye, Berlin 1967, S. 279, S. 146 und S. 16. Saussure selbst verwendet hier die deutsche Ausgabe des Cours als Textreferenz.

[40] Krämer 2002, S. 98f. und S. 111.

[41] Wir können heute auf die kritische Ausgabe Rudolf Englers verweisen (vgl. Saussure 1989, S. 41 / 241–243), der der Textstelle des Cours die entsprechenden Schülermitschriften zuordnet. Sie bestätigen natürlich Saussures Feststellung.

[42] Saussure bezieht sich hier auf seine Genfer Antrittsvorlesung von 1891 (vgl. Saussure 1997, S. 244f.).

[43] Auch diese Bemerkung geht auf eine Äußerung zurück, die Saussure in der 3. Vorlesung gemacht hat.

[44] Auch in den Notizen Saussures finden sich viele Niederschriften dieser Art (vgl. etwa Saussure 1997, S. 416, Notiz zum ›Discours‹).

[45] Saussure 2003, S. 160.

[46] Saussure 1989, S. 384 / 2560.