Emmanuel Alloa, Basel

 

Vom Mühlenrad zum Rechenrad

Ein unveröffentlichter Brief aus dem Leibniz-Nachlass

 

LeibnizBei dem Brief handelt es sich um zwei beidseitig mit schwarzer, eisenhaltiger Tinte beschriebene Bögen brüchigen Papiers von 22 x 10,3 cm, die vom 27. November 1711 datiert und von Leibniz eigenhändig signiert sind. Aufgefunden wurde der Brief im Konvolut zur Korrespondenz der Miscellanea Berolinensia, die Leibniz als Organ der Preußischen Societas Regia Scientiarum seit 1710 eingerichtet hatte. Laut Editionsplan sollte das gesamte Konvolut innerhalb von Band 13 im Rahmen der Vierten Reihe der Leibniz-Akademie-Ausgabe (=„Politische Schriften“) von der Leibniz-Forschungsstelle Potsdam ediert werden.

Im Frühjahr 2009 stellte sich bei einer genaueren Sichtung durch Frau Dr. Edith Herta heraus, dass der Brief, gerichtet an die Hofrätin Sybil CRAEMER, mit der Miscellanea Berolinensia keinerlei sachliche Verbindung aufweist und offenbar aufgrund eines bibliothekarischen Fehlers (möglicherweise schon im späten 18. Jahrhundert) in das Konvolut geraten war. Der Brief wurde nun in der Niedersächsischen Landesbibliothek Hannover in die Bestandsgruppe LBr (=„Briefwechsel“) aufgenommen.

Während einige naturwissenschaftliche oder philosophische Briefwechsel gut dokumentiert sind (etwa mit Wolff, Arnauld, Huygens, Newton oder Spinoza), harren zahlreiche der über 15.000 Briefe mit über 1.000 Korrespondenten weiterhin der Veröffentlichung. Es ist noch nicht abzusehen, wann die Publikation einzelner philosophischer Korrespondenzen aus den Jahren 1710-1714 realisiert werden kann. Der auf Deutsch verfasste Brief hat eine besondere Bedeutung, da Leibniz seine philosophische Korrespondenz meist auf Französisch oder Latein führte, selbst wenn er mit Briefpartnerinnen wie der Kurfürstin Sophie oder der Pfalzgräfin Elisabeth verkehrte.

Der Hannoveraner Leibniz-Stelle sei daher an dieser Stelle für die großzügige Genehmigung gedankt, diesen Brief für eine Vorveröffentlichung freizugeben. Auf eine Anpassung von Leibnizens Deutsch an die moderne Rechtschreibung wurde für diese erste Manuskripterschließung verzichtet.

Es wird darauf hingewiesen, dass es sich hierbei um eine vorläufige Texterstellung handelt, für deren wissenschaftliche Exaktheit die Forschungsstelle Hannover nicht bürgen kann.

 

Emmanuel Alloa

 

 

 

Hanover 27. Novemb. 1711

»Allergnädigst Frau Hofrätin,

Eß ist mir über die maßen lieb, daz euer ingenieuses scriptum, von dem mir kunde ward, nun endlich mich erreichtt. Die demonstrationes selbst zu examiniren hatt die Zeit nicht laßen wollen; die preußische Societas Regia Scientiarum gewehrt mir, wie Ihr wähnet, kaum philosophischen Otium, wiewohl ich solches bey zeiten nach zu holen hoffe, wo sich der Winter mächtgen schrittes teutschland nahet vnd der verkehr nach berlin erlahmt. Mir deuchtt jedoch schon itzt, nach oberflächiger lectüre, euer scriptum hat, obschohn von media tractirend, nichts von der obscuritas oracularis jener mystischen sybilla cumana, euer lateynisch namensvätterin aus der grotte zu neapolis: eß ist die claritas, die hieraus sprücht. Euch wird, da ihr mein bescheyden werk gelesen, sicher vertrauet seyn, daz ich in puncto veritas stets palpabilia criteria vorziehe.

Nun schätzet, wie mich dünckt, ihr nicht nur den calculus ratiocinator, sondern auch den calculus practick vnd mechanicus, was mir höchst angelegen. dem Hertzog, gnade sey seiner Durchlauchtt, versprach ich einen abacus universalis, mit dem man könnt den spiritus entlasten. dieweil hab ich, seit dazumahlen in paris ich die gerätheschaft ersann, noch immer nicht den rechten opifex automatarius gefunden, deßen räderwerke den winndungen der ratio paribus wärn: Meyn mechanicus Adam erweiset sich, trotz laurus nobilis, als entteuyscherung monumentalis.

Doch gibt eß, so schreybet ihr, einen edelmann in britannia, der die Arithmetische Machina vollënds realisirete zu London, in metallo und mechanicis. nennen sie mir, gn. frau, die adreß jënes magisters alanus turingius: ich werd seine kunst gülden zu entlohnen wißen. meine mathematica dualis, seit jahro 1679 conceptionirt, war bereyts quasi auffgegeben, so schwër gerietet alleyn die Machina in decimalis (so erweyset ihr mir mit eurem verweyse auf meine in den Miscellanea Berolinensia letztjehrig publicirten ,Brevis descriptio Machinæ Arithmeticæ‘ mehr ehr, als auffrichtig verdient.).

Und doch konnt ich underweysen, in unsrer ‚Explication de l’arithmétique binaire‘, editum 1703 in den Mesmoires de l’Acadesmie royale, daz auch der Chinëse die dyadica kennt (ich hätt die explicatio lieber teutsch geschriebn, alleyn der auslender hätt’s nicht können verstünden). Kunde erreichtt mich von der Missio Societate Iesu in Peching, mit der ich pflege regelmessige correspondentia, dass der keyserlüche monarch Fo-hi, eyn gar großer Liebhaber der Rëchten Kunst, dyadisch componiret. Einz – null, aus dieser alternatio ziehet auch die göttliche creatio ihren Impetus: weil die tieff fünsterniß zu null vndt nichtz, der geist gottes aber mit seinem lüchte zur einz gehöret, muss die characteristica universalis hernach eine dyadica sein.

In Chino aber ward die intuitio des keysers vergessen vnd wie der alte aegypter verwändet ietzo auch der Chinëse büldlich zeychen, fünffzig tausend an der zahl, sodaß hernach auf dem gedechtniß lastet alles gewicht. ein wahrlich universal idiom aber muz ein einfach seyn. seit meinem zwanzig jahr sind scopum vnd desiderium meyner thätigkeiten, ihr wißt es wohl, die realisirung einer characteristica universalis, aus dême sich könnt deduciren iederes weyteres. alleweil die comprehensio, so deuchtt mir denn, erwachsete aus der compressio, sodaß der calculus muß dinen jëner abbreviatura mentis: bei der repraesentatio des Chiliogons, daz heißt der tausendseytige polyëder, multiplicire ich nüchten den cubus der zehnzahl in daz vilfache, sed bedine mich der worthe, die als signa rerum mich der intuitio entlëdigen vnd doch den conceptus unvehlbar transportirn. ich pflëge diese Erkenntnüß blind oder symbolica zu nennen.   

Doch nicht jede Erkenntnüß muss dieser Art vnd Gattung sein vnd eß gibt, so meine ich, eine Erkenntnüß intuitiva. Musik ist hiero schönes Beyspiel, daz ich anfführen möge, weilen doch die Menschen sich lieber durch exëmpel als durch Vernunfftschlüße regiren lassen: An der Musik erfreüte man sich an der congruentia ictuum, daz ist an der zusammtreffung von schwebung vnd vibratio. Bei den vorzüglichsten Stellen des Stücks wird der Hörer gewiß den Musikum samt deßen Noten aus dem Gemüth verlirn, sodann ist sein Erkenntnüß nicht mehr symbolisch sondern anschauwend. die musik reißet mich in einen thaumel, vertigenennt es ins gemein der franzos, bey deme die distinctio clara verloren gangen, aber darumb noch nicht nichtz erkënne.

In ewrem tractatus über die calcülisirbarkeyt der vernunfft, danck sei euch für die gnädige übersendung, referirt ihr nun meine lex continuitatis auf jene blinde vnd taube Erkenntnüß, sodaß hinfort das eynzeln wort oder zeychen in stëter iteratio wird operationalisirt werd können. durch scheydung der syntax von semantica stehet auch dem menschen vnd den seiniglichen automata tür und tor zum infinitum offen. eynen recht pfiffigen gedancken eußern sie da, ich muß gestën: waget der leser sintemal mehr aus zu sprechen als der auctor in animo suo ersann.

Ich vermeinete aber, daz die Kontinuirlichkeyt nicht nur der blinden operatio zukömmet, sondern insonders den objecten von anschaulich intuitio. Nemblich fast will ich meinen, daz meine dyadica hiero vnd dorten zur nebelkappe wardt, denn extra arithmeticis, ich muss es hinnëhmen, macht natura keine sprünge. die comprehensio des stëtigen, so dünckt mir nach jahren calculo differentialis, lassete sich nicht vergleychen mit der theilung des sandes in granula, vilmehr mit Einffaltungen der stoffbahnen: dieweil implicationen in großer zahl entstünden, ist darumb ein körper doch nüchten in eine pluralitas von puncten teylbar.

Es hülfft nichts, der verstandt vermag in sich nur das zu lesen, was in ihm deüthlich vorgestellt. doch all ihr Falten kann die seel nicht auf einen schlag entfalten, nemblich reichen sie ad infinitum. es sind diese kaum mercklichen Perceptiones, die uns doch bei vielen vorfällen, ohn daz man daran denckt, bestümmen, undeuttliche Empfündungen, die obschohn nicht von unserm verstand, unterdessen von unserm gemüth empfangen.

Wenn hinfort die primulae sprißen vnd ich erneüt nach berlin ad academia fahren könnt, so will ich denn, insonders wenn kein anderes impedimentum, unterwëgens über brandenburgo reysen vnd bey Ew. Gnaden einige Tusculanen führen über meine lehre von erkenntnüß intuitiva vnd von petites perceptions. Wüsset ihr denn, gn. Frau Hofrätin, daz mich die idee der rechenbanck mit ihrigen rädern, heut in meinem dencken von nicht geringer importanz, anno mirabilis überkam, dieweil ich kontemplirte mit verzükkung die güthige ruh eines preuyßisch mühlrades? Doch am wasserfluß war mehr zu enträthselln. denn wer die natur eynmal warlich betrachtt, dem sind alle anderen ergötzlichkeyten dagegen gering. dem brandenburgische müller, der dreyßig jahr neben dem rad gelebet, ist der wasserfluß unmerklich geworden, vnd doch setzet er sich zusammen aus aberttausend eynzelnen warneemungen, die kein abacus jë wird könn calculirn. so gering es auch seyn mag: das eynzelne ist nicht nichtz, denn auch hunderttausend nichtze machen kein Etwas. Über haupt schlafet man nimals so tief, daz nicht hierob noch wäre eine schwache, gleichsam verworren Empfindung im gemüth, vnd darumb könnt auch niemals noch die lautest Gans ex Palatinus uns wëcken, hätt man nicht bereyts irgendein dumpff perceptio von ihrem leysen ruf.

Obschohn ich fürderhin hoffete, daz meine dyadica wird eynes tages practick werden, in arithmeticis et mechanicis, doch auch in scientia cartographica, so mochte ich doch wundtschen, daz tempora futura nicht vergäßen wolln, daz in mein dencken auch da schlummert eyn aesthetica, daz ist eyn wißenschaft von den sinnen. Obschohn ich dies gedancken bereyts früher angedacht, wollt die zeyt zu deren execution aber nicht reichen. Meine kreffte schwinden hinfort und ob man wohl sagen möchtt es wär vergebens den Stall zu schließen, wenn die pferde geraubet, so will ich dennoch inständigst hoffen, meine implicationes fündeten in futuri ihr voll entffaltung.

Als auf dero Gnädigste stets werende Gewogenheit hoffe vndt bleibe ich, wündschendt alle Vollkommene Vergnügung, das ist stëte vnd herrliche progressus, Ew.

 

Deditissimus

G. G. Leibnitius«

 

 

Leibnizbrief


Leibnizbrief

Abbildung: Details aus Bogen Iv und Iiv

 

 

 



 

 

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