Georg W. Bertram, Berlin

 

Sprache und Praxis: Zum Verhältnis von Sprechen und Sprache

Für Sybille Krämer

 

Welche Rolle spielt Sprache in der Erläuterung sprachlicher Bedeutung? Heutzutage sind viele Sprachphilosophinnen und Sprachphilosophen der Meinung, sie spiele keine Rolle. Sie machen geltend, dass sprachliche Bedeutung in sprachlichen Praktiken konstituiert wird. Es ist, so gesehen, entscheidend, eine falsche Hypostasierung von Sprache zu vermeiden. Aus diesem Grund wird der Rekurs auf Sprache insgesamt aufgegeben. Besonders prägnant hat Donald Davidson eine solche Konsequenz artikuliert. Er behauptet, »daß es so etwas wie eine Sprache gar nicht gibt, sofern eine Sprache der Vorstellung entspricht, die sich viele Philosophen und Linguisten von ihr gemacht haben«. [1] Davidson artikuliert damit eine Skepsis gegenüber dem Begriff der Sprache, die auf einem im weitesten Sinn pragmatistischen beziehungsweise performativitätsorientierten Ansatz in der Sprachphilosophie basiert. Ein solcher Ansatz lässt sich als Grundkonsens vieler Sprachphilosophien der Gegenwart begreifen.

Den pragmatistischen Grundkonsens kann man dadurch schärfen, dass man zwischen einer zweistufigen und einer einstufigen Erläuterung des Verhältnisses zwischen Sprache und Sprechen unterscheidet. [2] Von vielen klassischen sprachphilosophischen Positionen ist dieses Verhältnis als ein zweistufiges interpretiert worden. Ihnen zufolge gilt, dass man zwischen der Konstitution und der Anwendung sprachlicher Bedeutung unterscheiden muss. Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke ist demnach in der Sprache als einer Struktur bzw. in der Sprache als einem Bestand von sprachlichen Ausdrücken und ihren Kombinationen konstituiert. Im Sprechen wird diese Struktur bzw. dieser Bestand angewendet. Die Anwendung lässt sich, so gesehen, nur unter Rekurs auf die von ihr unabhängige Konstitution sprachlicher Bedeutung begreifen. Sprachliche Praxis muss der Struktur bzw. dem Bestand von Sprache entsprechen, um verständlich zu sein. Die neueren pragmatistischen Ansätze hingegen vertreten eine einstufige Erläuterung des Verhältnisses zwischen Sprache und Sprechen. Sie argumentieren, dass die Konstitution sprachlicher Bedeutung nicht unabhängig von Anwendungen begriffen werden kann. Es gibt diesem Verständnis zufolge keine Sprache, die hinter einzelnen Akten des Sprechens und Verstehens steht. Vielmehr wird sprachliche Bedeutung nur mit solchen Akten selbst konstituiert. So ergibt sich die Konstitution sprachlicher Ausdrücke aus den Anwendungen sprachlicher Ausdrücke. Konstitution und Anwendung fallen zusammen.

Alle Positionen, die eine in diesem Sinn einstufige Erläuterung des Verhältnisses zwischen Sprache und Sprechen geben, sind so gesehen von einer Alternative geprägt. Diese besagt, dass entweder Sprache das Sprechen bestimmt oder dass das Sprechen aus sich selbst heraus bestimmt ist. Diese Alternative aber ist, so will ich im Folgenden deutlich machen, nicht vollständig. Sie geht davon aus, dass Sprache, sofern sie das Sprechen bestimmt, als eine unabhängig von allem Sprechen konstituierte Größe gedacht werden muss. Mit dieser Voraussetzung bleiben auch neuere pragmatistische Ansätze noch bei einem Begriff von Sprache als einer hegemonialen Instanz. Vorausgesetzt wird, dass Sprache – sofern sie für das Sprechen Relevanz hat – als eine das Sprechen von sich aus bestimmende Instanz gedacht werden muss. Sofern man eine solche Instanz – aus guten Gründen – bestreitet, sieht man sich so zu der bereits erwähnten These genötigt, dass es eine Sprache im Sinne dessen, was viele Sprachphilosophien darunter verstanden haben, nicht gibt. Diese These gilt es aus meiner Sicht richtig zu verstehen: Negiert wird Sprache als eine im erläuterten Sinn hegemoniale Größe. Wenn man mit entsprechenden Negationen konfrontiert ist, muss man sich allerdings fragen, ob Sprache nicht in anderer Weise bestimmt werden kann. Und genau dies ist meines Erachtens sowohl möglich als auch erforderlich. Sprache muss als eine Reflexionsinstanz verstanden werden. Eine solche Instanz geht dem Sprechen nicht voran; sie ist vielmehr ein Produkt von bestimmten Akten des Sprachgebrauchs. Sprache wird von Sprecherinnen und Sprechern etabliert, wenn sie ihr Sprechen mit bestimmten sprachlichen Akten reflektieren.

Den Begriff der Sprache, für den ich plädieren will, kann ich auch dadurch umreißen, dass ich den Begriff einer Sprache hinter dem Sprechen von dem Begriff einer Sprache vor dem Sprechen unterscheide. Eine unabhängig von ihren Anwendungen konstituierte Sprache lässt sich metaphorisch als eine Sprache begreifen, die hinter jedem einzelnen Sprechen liegt und so als Hintergrund-Struktur für alle einzelnen Akte des Sprechens und Verstehens bestimmend wird. [3] Wenn man Sprache hingegen als eine solche begreift, die vor dem Sprechen steht, dann ist Sprache als Reflexionsinstanz zu begreifen, die aus einer offenen Praxis resultiert. Sie wird durch Sprechakte vor das Sprechen gestellt. In dieser Weise dient sie dem Sprechen als Orientierungsgröße. Auch wenn sie dabei immer noch bestimmend werden kann, so ist sie doch nicht hegemonial. Sie kann jederzeit suspendiert, neu formuliert und kritisch umgearbeitet werden. Sprache ist, so verstanden, keine verborgene Größe im Hintergrund. Sofern sie Bestand hat, ist sie eine explizite Größe im Vordergrund.

Im Folgenden will ich dafür argumentieren, dass Sprache, entsprechend verstanden, für alles Sprechen irreduzibel ist. Dabei gehe ich so vor, dass ich im ersten Schritt eine typische Variante einer einstufigen Erläuterung sprachlicher Bedeutung verfolge. Ich lege dar, dass eine solche Erläuterung eigenständige sprachliche Äußerungen von Sprecherinnen und Sprechern nicht verständlich macht. Dies bringt mich im zweiten Schritt zu einem interaktionistischen Modell der Konstitution sprachlicher Bedeutung. Aber auch dieses Modell ist, so behaupte ich, nicht ohne Probleme. So komme ich im dritten Schritt dazu, ein im engeren Sinn pragmatistisches Verständnis von Sprache aufzugeben und den reflexiven Charakter sprachlichen Verstehens geltend zu machen. Letzterer wiederum lässt sich, so argumentiere ich, nur erläutern, wenn man Sprache als Reflexionsinstanz ins Bild holt. So komme ich zu einer Erläuterung des Zusammenhangs von Sprache und Sprechen, der zufolge alles Sprechen konstitutiv mit Bezügen auf Sprache als eine solche Reflexionsinstanz verbunden ist.

 

Die Normative-Praxis-Konzeption als Explikation sprachlicher Bedeutung

Positionen, die den Zusammenhang von Konstitution und Anwendung sprachlicher Bedeutung zweistufig erläutern, begreifen die Bestimmtheit sprachlicher Bedeutung unter Rekurs auf die Strukturen in der bzw. den Bestand von Sprache. Wenn nun ein solches Verständnis im Rahmen einer einstufigen Erläuterung aufgegeben wird, steht man vor der Aufgabe, die Bestimmtheit sprachlicher Bedeutung anders verständlich zu machen. Wie dies gelingen kann, lässt sich an Positionen betrachten, wie sie im Anschluss an die sprachphilosophischen Überlegungen im Spätwerk Wittgensteins entwickelt worden sind. Wittgenstein hat mit seinen Überlegungen zum Regelfolgen nahegelegt, dass eine kollektive Praxis die Basis der Bestimmtheit einzelner Sprechakte ist. [4] Demnach sind Sprechakte nur als solche bestimmt, die richtig oder falsch ausgeführt werden können. Eine einzelne Sprecherin allerdings kann mit ihren Akten die Alternative von Richtigkeit oder Falschheit nicht begründen. Begründen kann dies aber eine kollektive Praxis. Innerhalb einer solchen Praxis sind Gebrauchsweisen von sprachlichen Ausdrücken etabliert. Der Begriff der Gebrauchsweise von sprachlichen Ausdrücken (im Zusammenhang mit nichtsprachlichen Aspekten von Situationen und Handlungen) [5] ist ein Grundbegriff einer solchermaßen einstufigen Erläuterung sprachlicher Bedeutung. Er soll begreiflich machen, wie Sprache bestimmt sein kann. Die Erläuterung, die hier gegeben wird, hat zugleich Konsequenzen für das Verständnis von Sprecherinnen und Sprechern. Diese werden als Mitglieder einer Sprachgemeinschaft verstanden. Eine Sprachgemeinschaft ist eine Gemeinschaft von Sprecherinnen und Sprechern, innerhalb deren Gebrauchsweisen für sprachliche Ausdrücke etabliert sind. [6] Sofern Einzelne mit ihren Äußerungen verständlich werden wollen, müssen sie sich an die in der Gemeinschaft etablierten Gebrauchsweisen halten. Sie greifen mit jeder ihrer Äußerungen auf den Fundus der Gemeinschaft zurück und setzen ihn damit gleichzeitig fort. Insofern fallen hier Konstitution und Anwendung sprachlicher Bedeutung zusammen. Es ergibt sich ein Bild komplexer Fortsetzungen von Gebrauchsweisen sprachlicher Ausdrücke innerhalb einer Gemeinschaft, das man mit zwei Thesen umreißen kann:

 

(1) Die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke wird durch die in einer Gemeinschaft etablierten Gebrauchsweisen dieser Ausdrücke bestimmt.

(2) Einzelne Mitglieder einer Sprachgemeinschaft sind durch die in dieser Gemeinschaft etablierten Gebrauchsweisen gebunden.

 

Wenn man einen knappen Begriff für die Position finden will, die sich durch diese beiden Thesen charakterisieren lässt, so kann man von einer Normative-Praxis-Konzeption sprachlicher Bedeutung sprechen. Innerhalb einer Gemeinschaft sind einer solchen Konzeption zufolge Gebrauchsweisen etabliert, die bindend sind und insofern als Normen für die einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft fungieren. Nach dem Verständnis der besagten Konzeption folgen die einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft den besagten Normen. Allerdings zeigt sich an diesem Punkt ein entscheidendes Problem einer entsprechend einstufigen Erläuterung. Sie erläutert nämlich nicht, was sie zu erläutern vorgibt: dass Mitglieder einer Sprachgemeinschaft Normen folgen. Sie erläutert vielmehr, dass alle Mitglieder einer Sprachgemeinschaft in gleicher Weise bestimmte Verhaltensformen realisieren. Ein solches gleichförmiges Realisieren von Verhaltensformen ist kein Normenfolgen. Normenfolgen setzt voraus, dass man bestimmte Verhaltensformen aus freien Stücken zu verfehlen bzw. zu brechen vermag. Einer Norm folgt jemand genau dann, wenn er in Bezug auf die Norm richtig oder falsch agieren kann. Die Normative-Praxis-Konzeption macht aber genau dies nicht verständlich. Ihr zufolge werden die Mitglieder der Sprachgemeinschaft durch die etablierten Gebrauchsweisen festgelegt. Ein Spielraum, diese Gebrauchsweisen als solche zu verfehlen oder zu erweitern, wird nicht begreiflich gemacht. Zwar muss ein Vertreter einer entsprechenden Position nicht leugnen, dass es in der Sprache Veränderung geben kann. Veränderung wird hier aber nur als ein Verhalten verständlich, das nicht den gemeinschaftlichen Festlegungen entspricht. Damit aber lässt sich nicht zwischen einfachen Verfehlungen und bewussten Verletzungen oder Veränderungen von Gebrauchsweisen unterscheiden. Dies liegt darin begründet, dass sprachliche Bedeutung hier an etablierte Gebrauchsweisen als eintrainierte Verhaltensformen gebunden ist. Einzelne Individuen können also nur in dem Maße etwas Bedeutungsvolles äußern, wie sie sich in dem etablierten Rahmen bewegen. Zwar kann eine abweichende Praktik von der Sprachgemeinschaft als neue Gebrauchsweise aufgenommen werden, indem sie Fortsetzungen erfährt. Ihre Bedeutung aber lässt sich nur aus der Perspektive solcher Fortsetzungen in der Gemeinschaft begreifen. Als solche haben abweichende sprachliche Praktiken keine Bedeutung. Ich kann das soweit umrissene Problem mit folgender These festhalten:

 

(3) In einer Normative-Praxis-Konzeption sprachlicher Bedeutung können eigenständige Gebrauchsweisen von Individuen nicht als sprachliche Praktiken mit Bedeutung verständlich gemacht werden.

 

Diese Diagnose lässt sich noch radikalisieren. Sie besagt letztlich, dass in einem solchen Bild niemand etwas von sich aus Bedeutungsvolles hervorzubringen vermag. Dies gilt aber dann auch für alle Praktiken, in denen Individuen den etablierten Gebrauchsweisen entsprechen. Diese Praktiken werden nicht als solche verständlich, die ein Individuum von sich aus unternimmt oder unterlässt. Verständlich wird nur, wie ein Individuum innerhalb der Gemeinschaft darauf programmiert wird, in bestimmten Situationen in bestimmter Weise sprachlich zu agieren.

 

Der Interaktionismus als Explikation sprachlicher Bedeutung

Will man von diesem Stand aus dialektisch weiterkommen, muss man sich einem anderen pragmatistischen Verständnis sprachlicher Bedeutung zuwenden, das in der Gegenwartsphilosophie weit verbreitet ist. Ich bezeichne dieses Verständnis als Interaktionismus. Ein solcher Interaktionismus ist besonders von Donald Davidson profiliert worden. Davidson hat im Anschluss an Quines Gedankenexperiment der radikalen Übersetzung [7] ein sprachphilosophisches Bild gezeichnet, das die Interaktion von zwei Individuen ins Zentrum rückt. Diesem Bild zufolge basiert sprachliche Bedeutung auf der von einzelnen Individuen in wechselseitigen Interaktionen erworbenen Fähigkeit, Äußerungen anderer zu interpretieren und sich mit eigenen Äußerungen verständlich zu machen. [8] Eine Sprecherin erwirbt diese Fähigkeit, indem sie die Äußerungen anderer interpretiert und selbst Äußerungen hervorbringt, die andere interpretieren. Die Konstitution sprachlicher Bedeutung basiert demnach auf dem faktischen Geschehen wechselseitiger Interpretation. Die interaktionistische Erläuterung sprachlicher Bedeutung führt einen neuen Grundbegriff ein: den der interpretierten Äußerung bzw. den der gelingenden sprachlichen Interaktion. Die Praxis der Interpretation von Äußerungen und des Hervorbringens von Äußerungen, die andere interpretieren, macht demnach sprachliche Bedeutung verständlich. Auch diese Position will ich in einer kurzen These umreißen:

 

(4) Bedeutung gewinnen sprachliche Ausdrücke in Interaktionen von unterschiedlichen Individuen, die ihre Äußerungen wechselseitig interpretieren.

 

Der Interaktionismus löst damit das Problem, das sich der Normative-Praxis-Konzeption stellt. Er macht begreiflich, wie einzelne Sprecherinnen und Sprecher eigenständige Gebrauchsweisen von Wörtern entwickeln können, die Bedeutung haben. Sie können das in dem Maße, wie sie für andere in ihrem Sprechen interpretierbar sind. Der Interaktionismus verzichtet so darauf, eine Größe wie geteilte Gebrauchsweisen in der Erläuterung sprachlicher Bedeutung geltend zu machen. Dieser Verzicht führt dazu, dass Praktiken eines Individuums als solche verstanden werden, die aus dem Individuum heraus eine Bestimmung erhalten. Diese Bestimmung wird dabei nach wie vor in Begriffen von Praktiken gefasst. Dem Interaktionismus zufolge sind es Praktiken sprachlicher Interaktion zwischen Einzelnen, in denen sprachliche Bedeutung sich durch wechselseitige Interpretation konstituiert. Allerdings bleibt im Interaktionismus ein Aspekt des Problems bestehen, auf das ich bei der Normative-Praxis-Konzeption gestoßen bin.

Es handelt sich um das Problem, dass ein Individuum nicht als eigenständiger sprachlicher Akteur gefasst wird. Diese Diagnose mag etwas überraschend klingen. In einer gewissen Hinsicht fasst der Interaktionismus einzelne Sprecherinnen und Sprecher zweifelsohne als eigenständige Akteure. Durch Äußerungen, die interpretierbar sind, stiften sie Bedeutung. Entscheidend aber ist die Einschränkung, dass die Äußerungen interpretierbar sein müssen. Diese Einschränkung besagt, dass die gelingende Verständigung mit Anderen alleiniger Maßstab der Bedeutung von Äußerungen ist. Es handelt sich dabei zweifelsohne um einen wichtigen Maßstab. Allerdings ist dieser Maßstab nicht hinreichend. Was in diesem Maßstab fehlt, kann man an einer paradigmatischen Erläuterung Davidsons verständlich machen.

Davidson vertritt die These, dass Interpretation dann gelingt, wenn ein Sprecher so verstanden wird, wie er verstanden zu werden beabsichtigt. [9] Davidson geht dabei davon aus, dass es zu dem Kriterium, wie ein Sprecher verstanden zu werden beabsichtigt, nichts weiter zu sagen gibt. Ein Sprecher weiß demnach unmittelbar, wie er verstanden zu werden beabsichtigt. Dies aber ist unplausibel. Einerseits gibt es viele Situationen, in denen Sprecher nicht sicher zu sagen wissen, wie sie verstanden zu werden beabsichtigen. Daraus folgt, dass man nach Kriterien in der Praxis fragen muss, an denen entsprechende Absichten sich ausweisen lassen. Andererseits ist die Frage nach solchen Kriterien auch aus einer pragmatistischen Perspektive geboten. Will man sich nicht mit der Auskunft zufrieden geben, dass sich zu den Absichten eines Sprechers, in bestimmter Weise verstanden zu werden, nichts weiter sagen lässt, dann sollte man solche Absichten in Begriffen von Praktiken spezifizieren können. Dies ist möglich, wenn man auf Praktiken rekurriert, in denen ein Individuum aus freien Stücken Bedeutungen dessen, was es sagt, geltend macht. Es handelt sich um Praktiken der folgenden Art: »Wenn ich von einem ›Problem‹ spreche, meine ich etwas, das noch nicht gelöst ist.« Oder: »Ich habe dir gerade eine Frage gestellt! Darf ich dich bitten, mir zu antworten?«

Genau solche Praktiken sind wesentlich dafür, dass ein Individuum etwas Eigenständiges zu sagen vermag. Wie ich im nächsten Teil deutlich machen will, kommen sie in dem Bild, das der Interaktionismus zeichnet, nicht in den Blick. Dem Interaktionismus zufolge liegt die Eigenständigkeit eines Individuums nur darin, dass es selbst bestimmte Äußerungen hervorbringt und Äußerungen anderer interpretiert. Damit aber ist nicht begreiflich gemacht, wie ein Individuum in dem Sinne eigenständig ist, dass es spezifisch etwas aus seinem Sprechen zu machen versteht. Im Interaktionismus trägt die einfache sprachliche Interaktion zwischen Sprecherinnen und Sprechern nach wie vor eine zu starke Erklärungslast. Es wird ein Bild sprachlicher Verständigung gezeichnet, dem zufolge eine Sprecherin in dem Maße etwas Bedeutungsvolles sagt, wie ihre Äußerungen für andere interpretierbar sind. Eine Sprecherin bleibt aber damit immer in einer problematischen Weise an die Perspektiven anderer gebunden. [10] Sie wird nicht als eine solche begreiflich, die in eigenständiger Art und Weise sprachliche Äußerungen zu entwickeln und andere mit solchen eigenständigen Entwicklungen zu konfrontieren vermag. Dies aber ist wesentlich dafür, in eigenständiger Weise zu sprechen. Ich will auch das Defizit des Interaktionismus in einer knappen These festhalten:

 

(5) Der Interaktionismus macht nicht begreiflich, wie eine Sprecherin sich in der Interaktion mit anderen in eigenständiger Art und Weise diesen anderen gegenüber zu behaupten vermag.

 

Die Reflexivität sprachlicher Bedeutung und die Sprache vor dem Sprechen

Das Defizit, auf das ich nun gestoßen bin, will ich dadurch angehen, dass ich kurz eine Interaktion zwischen zwei Individuen betrachte. Nehmen wir an, ein Individuum A sagt: »Das finde ich ganz schön abgezockt von ihm.« Daraufhin entgegnet ein Individuum B: »Hältst du ihn für einen Idioten?« Daraufhin A: »Ich halte doch niemand, den ich für abgezockt halte, für einen Idioten. Wer abgezockt ist, hat was drauf. Auch wenn ich das nicht für richtig halte …« Man mag geneigt sein, einen solchen Dialog interaktionistisch zu begreifen. Hier werden jeweils Äußerungen getätigt, die in dem Maße aneinander anschließen, wie sie für die beteiligten Individuen interpretierbar sind. Jeweils kann man die Antworten als Reaktionen begreifen, die auf Interpretationen dessen beruhen, was der andere gesagt hat. Dies aber ist eine irreführende Erläuterung. Die zweite Äußerung von Individuum A basiert nicht nur auf einer Interpretation dessen, was Individuum B gesagt hat. Sie bezieht sich auch auf das, was Individuum A selbst zuvor gesagt hat. Das Individuum A interpretiert selbst seinen Gebrauch des Ausdrucks »abgezockt«. Diese Interpretation aber geschieht explizit. Sie ist mit einer spezifischen Form des Sprachgebrauchs verbunden, die ich vorerst folgendermaßen charakterisieren kann: Eine Äußerung bezieht sich auf eine bestimmte andere Äußerung. Sie expliziert Zusammenhänge, in denen diese Äußerung steht. In diesem Sinn handelt es sich um eine Äußerung zweiter Stufe.

Unter Rekurs auf Äußerungen zweiter Stufe lässt sich nun das Problem lösen, das ich im Interaktionismus ausgemacht habe: Individuen gewinnen dadurch den Status, eigenständige Akteure zu sein, dass sie mittels Äußerungen zweiter Stufe ihren Sprachgebrauch behaupten. Solche Äußerungen haben den Charakter von Selbstinterpretationen. Mit ihnen entwickeln und prägen Sprecherinnen und Sprecher ihren Sprachgebrauch. Sie legen sich in ihrem Sprachgebrauch fest. Sofern solche Festlegungen von anderen anerkannt werden, gewinnen Individuen den Status, in ihrem Sprechen eigenständig zu sein. So erkennt man den wahren Kern und das Problem des Interaktionismus. Der Interaktionismus macht zu Recht geltend, dass Sprecherinnen und Sprecher immer aneinander gebunden sind, damit ihr Sprechen Bedeutung gewinnt. Allerdings wird, und dies ist sein Problem, die wechselseitige Bindung zu schmal gefasst. Der Interaktionismus geht davon aus, dass die Interpretierbarkeit einer Äußerung immer aus der Perspektive derjenigen, die interpretieren, bestimmt wird. Genau damit aber wird die Eigenständigkeit von Sprecherinnen und Sprechern nicht verständlich. Sie wird es erst, wenn man sagt: Die Interpretierbarkeit einer Äußerung wird immer auch wesentlich durch Selbstinterpretationen von Sprecherinnen und Sprechern bestimmt. Die Relevanz solcher Selbstinterpretationen bzw. Selbstexplikationen will ich mit folgender These fassen:

 

(6) Eine Sprecherin gewinnt dadurch eine Eigenständigkeit in ihrem Sprechen, dass sie ihr eigenes Sprechen anderen gegenüber mittels Äußerungen zweiter Stufe zu explizieren vermag.

 

Unter Rekurs auf Äußerungen zweiter Stufe lässt sich nun eine Reformulierung einer interaktionistischen Position (im Sinne einer Erweiterung dieser Position) gewinnen. Wenn ein Sprecher Äußerungen zweiter Stufe hervorbringt, dann kann er damit eine Eigenständigkeit seiner sprachlichen Praktiken verständlich machen. Er ist damit nicht nur verwiesen auf die Interpretationen anderer, an ihre Anschlüsse und an das Gelingen der Verständigung zwischen ihnen. Er kann vielmehr auch eigene Perspektiven geltend machen. Dabei kommt es mit Selbstinterpretationen zu reflexiven Tätigkeitsformen. Bestimmte Formen des Sprachgebrauchs werden reflektiert.

Wie eine entsprechende Reflexion zu begreifen ist und welchen Status sie hat, kann man noch deutlicher machen, wenn man das oben begonnene Beispiel ein wenig fortsetzt. Gehen wir davon aus, dass Individuum B mit den Explikationen von A nicht zufrieden ist. »Du kannst doch jemanden nicht abgezockt nennen, wenn du denkst, dass er was drauf hat.« A mag das verwundern: »Warum sollte ich das nicht machen?« Daraufhin sagt B: »Jemand ist doch dann abgezockt, wenn er sich unmoralisch verhält. Jemand, der sich unmoralisch verhält, kann nichts drauf haben.« Unabhängig davon, wie ein solcher Dialog weitergeht, lässt sich aus ihm eines ersehen: Reflexive Explikationen des Sprachgebrauchs können in Interaktionen als solche weiterentwickelt werden, die Individuen miteinander teilen. Sprecherinnen und Sprecher können sich zum Beispiel darüber einigen, was »abgezockt« besagt. Wenn sie dies nicht vermögen, so einigen sie sich vielleicht darüber, was man als »moralisch« bezeichnet. Und wenn dies nicht, so einigen sie sich vielleicht darauf, was ein »Adjektiv« ist. Sie entwickeln damit Verständnisse ihres Sprechens. Man kann nun mit gutem Grund sagen, dass solche Verständnisse des Sprechens Sprache ausmachen. So kann ich sagen: Sofern Sprecherinnen und Sprecher sich in reflexiven sprachlichen Praktiken auf Verständnisse ihres Sprechens einigen, entwickeln sie (ihre) Sprache. Von einer entsprechenden Entwicklung kann man in zwei Hinsichten sprechen: Erstens können die Sprecherinnen und Sprecher damit ihre eigenen sprachlichen Praktiken verändern, zum Beispiel verfeinern oder besser kontrollieren. Zweitens bringen sie dabei etwas hervor, das wir als Sprache bezeichnen können: einen Bestand sprachlicher Ausdrücke sowie Regeln zu ihrer Formung und Kombinierbarkeit. Mit reflexiven Praktiken kommen wir so zur Sprache.

Es handelt sich aber nicht um eine Sprache, die hinter allem Sprechen läge und dieses von Grund auf bestimmte. Vielmehr handelt es sich um eine Sprache, die Sprecherinnen und Sprecher – metaphorisch gesagt – vor ihr Sprechen stellen. Sie entwerfen Sprache, indem sie sich explikativ auf ihren Sprachgebrauch beziehen. Eine so entworfene Sprache kann als Orientierungsgröße für alles Sprechen fungieren. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Sprecher etwas sagen wie: »Wenn wir etwas als ›abgezockt‹ bezeichnen, dann sprechen wir von etwas, das moralisch verwerflich ist.« Solche Äußerungen legen weitere Äußerungen fest. Dies geschieht aber nicht gewissermaßen von hinten. Es geschieht von vorn, offen und explizit.

Auf der Basis der bisherigen Überlegungen kann ich einen Versuch unternehmen, die Frage zu beantworten, inwiefern zum Sprechen Sprache gehört. Die Antwort auf diese Frage fällt folgendermaßen aus: Die Sprache gehört aus dem Grund zum Sprechen, weil Sprecherinnen und Sprecher nur dadurch eine Eigenständigkeit in ihrem Sprachgebrauch erlangen, dass sie ihren Sprachgebrauch zu explizieren vermögen. Wenn sie über entsprechende Explikationen verfügen, dann können sie ihr Sprechen bestimmen. Sie können dies von sich aus leisten, ganz unabhängig davon, ob sie sich an Bestimmungen halten, die sie mit vielen anderen teilen, oder ob sie eigene Bestimmungen geltend zu machen versuchen. [11]

Um allerdings überhaupt Bestimmungen des Sprechens geltend machen zu können, müssen Sprecherinnen und Sprecher in einer Praxis stehen, in der grundlegende Explikationen des Sprechens geteilt werden. Solche geteilten Explikationen sind erforderlich, um eigene Gebrauchsweisen sprachlicher Ausdrücke anderen gegenüber zu bestimmen. Die geteilten Explikationen sind aber nichts anderes als Sprache. Dabei ist die Sprache, auf die Sprecherinnen und Sprecher sich beziehen, erstens keine feste Größe und zweitens kein selbstverständlicher Hintergrund allen Sprachgebrauchs. Vielmehr wird sie in bestimmten sprachlichen Praktiken etabliert. Sie wird in all den vielen Situationen etabliert, in denen der Gebrauch von Sprache thematisiert wird. Dies kann im alltäglichen Streitgespräch genauso geschehen wie in Lehr- und Lernsituationen und in sprachwissenschaftlichen Zusammenhängen, in denen Normen von Sprache formuliert werden. Viele Praktiken in solch unterschiedlichen Kontexten führen dazu, dass Sprache als eine Reflexionsinstanz für sprachliche Praktiken etabliert wird. Vor dem Hintergrund eines solchen Verständnisses des Zusammenhangs von Sprechen und Sprache kann ich den Interaktionismus noch einmal in neuer Weise fassen:

 

(7) Sprachliche Bedeutung wird in interindividuellen Interaktionen im Zusammenhang mit all den Praktiken konstituiert, in denen Formen des Sprachgebrauchs expliziert werden und damit Sprache als Reflexionsinstanz für sprachliche Praktiken etabliert wird.

 

Von dieser These aus kann ich nun noch einmal auf die Alternative zurückkommen, bei der meine Überlegungen ihren Ausgang genommen haben. Ich habe dargelegt, dass sich in Bezug auf die Erläuterung sprachlicher Bedeutung die Alternative zwischen einer zweistufigen und einer einstufigen Konzeption anbietet. Entweder muss die Konstitution sprachlicher Bedeutung demnach unabhängig von ihren Anwendungen begriffen werden oder sie muss so erläutert werden, dass Konstitution und Anwendung zusammenfallen. Nach meinen Überlegungen verstehe ich diese Alternative in der folgenden Weise als unvollständig: Sie rechnet nicht damit, dass das Zusammenfallen von Konstitution und Anwendung auf unterschiedliche Weise gedacht werden kann. Es kann entweder so gedacht werden, dass beides in einer einheitlichen – unter Rekurs auf eine normative oder eine interaktive Praxis zu erläuternden – Struktur geschieht. Oder es kann so gedacht werden, dass eine komplexe Struktur von Praktiken unterschiedlichen Typs in ihrem Zusammenspiel verständlich gemacht wird. Erst wenn Letzteres der Fall ist, wird verständlich, inwiefern sprachliche Bedeutung gleichermaßen von Individuen wie innerhalb gemeinschaftlicher Interaktionen bestimmt ist. Nur wenn man Sprache nicht aus der Erläuterung sprachlicher Bedeutung verabschiedet, sondern sie auf die richtige Weise ins Spiel bringt, gelangt man zu einem Bild, das dem Zusammenhang zwischen der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke und den expressiven Fähigkeiten von Individuen Rechnung trägt.

 

 

 



 

 

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Endnoten

[1] Donald Davidson: »Eine hübsche Unordnung von Epitaphen«, in: Wahrheit, Sprache und Geschichte, Frankfurt a.M. 2008, S. 151-180, hier S. 180, fortan zit. als Davidson 2008.

[2] Mit dieser Unterscheidung stütze ich mich unter anderem auf Überlegungen aus Robert Brandom: »Einige pragmatistische Themen in Hegels Idealismus«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999), S. 355-381.

[3] Vgl. hierzu besonders die sprachphilosophischen Arbeiten von Sybille Krämer, insbesondere Sprache – Sprechakt – Kommunikation, Frankfurt a.M. 2001; vgl. auch Ekkehard König, Sybille Krämer (Hrsg.): Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen, Frankfurt a.M. 2002.

[4] Vgl. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1984, § 185ff., bes. § 202. Die umstrittene Wittgenstein-Deutung von Saul Kripke hat den Akzent auf die gemeinschaftliche Praxis gelegt (vgl. Saul Kripke: Wittgenstein über Regelfolgen und Privatsprache, Frankfurt a.M. 1987). Diesem Akzent folgen auch viele seiner Kritiker, vgl. dazu exemplarisch John McDowell: »Wittgenstein on Following a Rule«, in: Mind, Value, and Reality, Cambridge/MA 1998, S. 221-262.

[5] Wittgenstein führt für den gesamten Zusammenhang von Gebrauchsweisen sprachlicher Ausdrücke und nichtsprachlichen Aspekten von Situationen und Handlungen den Begriff des Sprachspiels ein. Ein Zug im Sprachspiel ist demnach die kleinste Einheit von Sprache, die bedeutungsvoll ist.

[6] Ein solches Verständnis von Sprachgemeinschaft ist besonders in der Position von John McDowell deutlich geworden. McDowell expliziert sie mit den hermeneutischen Begriffen der Tradition und der zweiten Natur und erläutert damit die Sprachgemeinschaft als Basis allen Sprachgebrauchs (vgl. u.a. John McDowell, Geist und Welt, Paderborn 1998, 6. Vorlesung).

[7] Davidsons paradigmatische Adaption von Quines Gedankenexperiment findet sich in Donald Davidson: »Radikale Interpretation«, in: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt a.M. 1986, S. 183-203.

[8] Besonders markant wird dieses Bild gezeichnet in Davidson 2008 sowie in Donald Davidson: »Der soziale Aspekt der Sprache«, in: Wahrheit, Sprache und Geschichte, Frankfurt a.M. 2008, S. 181-205, fortan zit. als Davidson 2008a.

[9] Davidson 2008a, S. 198.

[10] Brandom hat diese Konsequenz des Interaktionismus in vielen Texten ausgearbeitet. Vgl. in erster Linie Robert Brandom: Expressive Vernunft, Frankfurt a.M. 2000, 3. Kap. Deutlich wird eine entsprechende Konsequenz unter anderem auch in allen Texten Brandoms, die eine Interpretation der Philosophie Hegels zu geben beanspruchen. Charakteristisch für das hier gezeichnete anti-individuelle Bild sozialer Interaktion ist besonders Robert Brandom: »Selbstbewusstsein und Selbst-Konstitution. Die Struktur von Wünschen und Anerkennung«, in: Christoph Halbig u. a. (Hrsg.): Hegels Erbe, Frankfurt a.M. 2004, S. 46-77.

[11] Vgl. hierzu Georg W. Bertram: Die Sprache und das Ganze, Weilerswist 2006, 5. Kap.