Sibylle Schmidt, Berlin

 

Die Spur des Sokrates

Ein Diskurs-Drama

 

Erste Szene

 

Ein Verlies. Der Raum ist leer, bis auf einen Becher, der umgekippt auf dem Boden liegt.

 

Platon (gefolgt von Kriton, betritt die Szene): »Sokrates?«

Kriton: »Gestern Abend war er noch da. Er kann nicht spurlos verschwunden sein!«

Sherlock Holmes (steigt durch ein offenes Kerkerfenster in den Raum. Er glättet seinen Mantel und zündet sich eine Pfeife an): »Wenn Sie erlauben, werde ich den Tatort nach Spuren absuchen. Ein außergewöhnliches Verbrechen ist an sich fast schon eine Spur!« [1]

Die Reinigungskraft: »Entschuldigen Sie, könnten Sie sich bitte beim Eintreten die Schuhe abstreifen? Ich habe nämlich gerade nass gewischt.«

Emmanuel Levinas (ebenfalls durch das Fenster hereinkletternd): »Halt! Hören Sie auf, die Spur des Anderen als ärmliches Indiz seines Vorbeigegangenseins zu betrachten; durch all Ihre Abenteuer hindurch finden Sie doch nur das Bewusstsein als es selbst wieder, kehren in sich zurück wie Odysseus, der bei allen seinen Fahrten nur auf seine Geburtsinsel zurückkehrt! Die Vorliebe der modernen Philosophie (und übrigens auch der Kriminalliteratur!) für die Mannigfaltigkeit der kulturellen Bedeutungen und die Spiele der Kunst nimmt dem Sein seine Andersheit. Verstehen Sie nicht, die Spur ist die Beziehung zu einer Abwesenheit, die alle symbolische oder zeichenvermittelte Erkenntnis transzendiert!« [2]

(Er versucht, Holmes die Lupe zu entreißen.)

Carlo Ginzburg (klettert ebenfalls durch das Fenster herein): »Lassen Sie den Mann seine Arbeit tun. Das Spurenlesen ist ein epistemologisches Modell, ein Wissensparadigma, das wir schon als Jäger und Sammler angewandt haben – denken Sie nur an die Mantik, die Medizin, die Personenidentifizierung in der Moderne, die Psychoanalyse, all die Kriminalromane... Sherlock Holmes gehört in eine Tradition großer Männer, die begriffen haben, dass die Wahrheit wie der Teufel oft im Detail steckt.« [3]

Holmes: »Nun ja, Indizienbeweise – da bin ich eigentlich vorsichtig. Sie scheinen ganz klar eine bestimmte Sache zu beweisen, doch wenn man dann seinen eigenen Blickpunkt auch nur um weniges ändert, können sie zu unserer Überraschung genauso klar etwas völlig anderes zeigen.«

Ginzburg: »Das ist es ja! Bei diesem Wissenstyp kann man nicht einfach vorformulierte Regeln anwenden – vielmehr spielen unwägbare Elemente eine Rolle: Spürsinn, Augenmaß und Intuition!«

(Holmes zuckt mit den Achseln und sucht den Raum weiter mit der Lupe ab.)

Levinas (stellt sich jetzt Ginzburg in den Weg): »Die Spur ist nicht ein Zeichen wie jedes andere. Zugegeben, sie kann auch als Zeichen gelten. Der Detektiv untersucht als Zeichen alles das, was am Ort des Verbrechens auf die willkürliche oder unwillkürliche Tätigkeit des Verbrechers hinweist... Alles geht in einer Ordnung auf, in einer Welt, in der jede Sache die andere enthüllt oder sich in Abhängigkeit von ihr enthüllt. Aber bedenken Sie: Die Spur ist die Gegenwart dessen, was eigentlich niemals da war, dessen, was immer vergangen ist. Nur ein Wesen, das die Welt transzendiert, kann eine Spur hinterlassen. Sie betrachten alles nur als Indiz für ein und dasselbe, wollen zur Deckung bringen, was doch jenseits dieser Ordnung liegt. In Ihrer Rekonstruktion werden Sie nie etwas anderes finden als ein Abbild, eine Darstellung, ein Bild des Vergangenen – über das Ereignis selbst werden Sie nie verfügen. Wir werden uns nur Bilder von der Vergangenheit machen, Darstellungen von Bildern, Abbilder von Darstellungen und uns immer weiter von der Wahrheit entfernen...« (Er sackt in sich zusammen und schüttelt traurig den Kopf)

Kriton: »Bilder von Abbildungen sagen Sie...? Das erinnert mich an die Dichter, die Platon aus der Polis gejagt hat. Sind Sie etwa ein Dichter, Holmes?«

Holmes: »Bisweilen muss der Detektiv dichterisch werden, ja.«

Platon: »Hauptsache, Sie lügen nicht. [4] Ich muss nämlich unbedingt erfahren, was Sokrates zugestoßen ist, sonst habe ich kein Ende für meinen Dialog!« [5]

Holmes: »Dieser Becher hier...«

Levinas: »Es geht hier doch nicht um Enthüllung historischer Tatsachen – die Frage lautet doch: Wofür zeugt Sokrates’ Tod?«

Platon (drängt ihn beiseite): »Zeugen! Ein gutes Stichwort, fragen wir doch die Wärter, was sie gesehen haben.«

Kriton: »Aber durch das Zeugnis anderer können wir doch kein Wissen, nur wahre Meinung gewinnen!« [6]

Platon: »Na und, besser als nichts!«

 

 

Zweite Szene

 

Erster Wärter: »Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie Sokrates entführt wurde. Sie sind in diese Richtung geflüchtet!«

Zweiter Wärter: »Nein, sie sind dort hinausgegangen!«

(Sie zanken sich.)

Kriton: »Na bitte, die Hälfte aller Augenzeugen irrt sich!« [7]

Platon: »Noch einmal von vorne: Was ist geschehen?«

Erster Wärter: »Sokrates schlief – «

Zweiter Wärter: »Er hat die Nacht kein Auge zugetan!«

Erster Wärter: »Da erschien eine Frau mit weißem Schleier –«

Zweiter Wärter: »Eher ein Mann mit vollem Bart.«

Erster Wärter: »Er gab ihm den Becher und Sokrates trank –«

Zweiter Wärter: »Was für ein Becher? Er hat nicht getrunken, sondern alles verschüttet!«

Platon: »Genug! Wer von euch ist der echte Zeuge, wer sagt die Unwahrheit?«

(Einer der Wärter nimmt seine Maske ab. Es ist Jacques Derrida.)

Derrida: »Das Zeugnis ist stets mit der Möglichkeit zumindest der Fiktion, des Meineids und der Lüge verbunden. Wäre diese Möglichkeit eliminiert, so würde kein Zeugnis mehr möglich sein und hätte auf jeden Fall seinen Sinn als Zeugnis verloren.« [8]

Kriton (fasst sich entnervt an den Kopf): »Platon, erkläre ihm doch, dass dies nichts mit unserem philosophischen Verständnis von Erkenntnis zu tun hat.«

Thomas Reid (spaziert herein): »Dann ist aber der größte Teil dessen, was wir gemeinhin als Wissen bezeichnen, gar kein Wissen und wir verfallen einem schrecklichen Skeptizismus. Wo bleibt Ihr Commonsense? Vertrauen ist eine Grundoperation unseres Geistes!« [9]

David Hume (plötzlich auch auf der Bühne): »Was die Leute so alles glauben! Wunder über Wunder. Als aufgeklärte und einigermaßen vernunftbegabte Wesen müssen wir prüfen, wem und warum wir Glauben schenken – auch wenn wir in vielen Situationen auf das Wort anderer bauen, so tun wir dies doch aufgrund unserer bisherigen Erfahrung! Darauf müssen wir uns jederzeit verlassen.« [10]

Derrida: »Mr. Hume, finden Sie es vor dem Hintergrund Ihrer bisherigen Erfahrungen nicht völlig unwahrscheinlich, dass Sie in diesem Augenblick hier sind, mit Platon und mir in einem griechischen Kellerverlies? Vielleicht sollten auch Sie nicht alles glauben, was die Autorin dieses Stückes Ihnen so erzählt hat.«

(Hume blättert verdutzt in seinem Textbuch und geht.)

Ludwig Wittgenstein (steigt aus dem Souffleurkasten, hebt den Schierlingsbecher auf): »Wie weiß ich, dass diese Farbe gelb ist? Gibt es ein Warum? Muss ich nicht irgendwo anfangen zu vertrauen? D.h. ich muss irgendwo mit dem Nichtzweifeln anfangen.« [11]

Reid: »Ganz richtig, Vertrauen ist oft die Basis für unser Wissen – nicht umgekehrt.«

Kriton: »Platon, Du sagtest doch, wahrhafte Erkenntnis kommt nicht von andern, sondern aus uns selbst – weißt Du noch, echtes Verständnis können wir nicht vermitteln, nur aus uns selbst hervorbringen wie eine verschüttete Erinnerung.« [12]

Levinas: »Nein, nein, nein! Erinnern heißt ja wieder Identität, Aneignung, und wieder haben Sie es nicht begriffen! Die Alterität, das Fremde, Unbegreifbare, darauf müssen wir uns einlassen! Das Jenseits unserer Erinnerung, was uns nur durch das Zeugnis des Anderen zugänglich ist!«

Reid: »Finden Sie Ihren Zeugnisbegriff nicht ein wenig esoterisch? Die Sache ist doch ganz einfach: Wenn ich jemanden nach dem Weg frage, und er beschreibt mir den Weg, so weiß ich ihn.«

Derrida: »Der Zeuge hat einen exklusiven Zugang zu dem Bezeugten und diesen kann er nicht übertragen. Wir können nie in die Lage kommen zu wissen, was der Zeuge weiß, sonst wäre er ja überflüssig. Der Zeuge erzeugt keine Evidenz. Das ist logisch und das müssen doch sogar Ihre angelsächsischen Kollegen zugeben.«

Reid: »Derri-hier oder Derri-da, hier geht es doch schlicht um die alltäglichen Phänomene des Bezeugens – ›people telling us things‹! Nicht um Wunderzeugnisse, sondern um das alltäglichste Wissen durch Worte anderer!«

Derrida: »Ich verstehe Ihren Ärger. Die Exklusivität des Zeugen widerspricht Ihrem aufklärerischen Ideal, Ihrer demokratischen Epistemologie, dass Wissen prinzipiell jedem selbst zugänglich ist, sei es durch Erfahrung oder Vernunft. Aber das Zeugnis ist nicht demokratisch.«

Reid: »Ich versuche nur, auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben.«

Holmes: »Da muss ich Ihnen widersprechen. Es gibt nichts Trügerischeres als eine offensichtliche Tatsache. [13] Was ich Ihnen schon die ganze Zeit sagen will, dieser Becher hier...«

(Er hebt den Schierlingsbecher prüfend ans Licht. Doch sein Hinweis geht im Lärm der gegenseitigen Beschimpfungen der Anwesenden unter.)

 

 

Dritte Szene

 

(Spot auf den Zuschauersaal. Das Licht fällt auf Sören Kierkegaard, der aufsteht und zum Publikum spricht.)

Kierkegaard: »Vielleicht ist ja der Gegenstand, nach welchem wir suchen, kein Wissen, sondern eine Kunst, eine Realisation. Sokrates Verschwinden ist wie seine Gegenwart als Akt der Maieutik zu denken: eine indirekte Mitteilung, weil das, was mitgeteilt werden soll, nicht mitgeteilt werden kann. Es geht nicht um objektive Rekonstruktion, sondern um eine ethische Mitteilung!« [14]

(Alle schweigen und denken nach.)

Holmes (hinter der Bühne): »Ich tappe im Dunkeln!«

Platon: »Aber was ist denn nun letzte Nacht geschehen? Wie endet mein Theaterstück? Wie soll ich es beenden, wenn ich nicht weiß, wie es eigentlich gewesen ist?«

Derrida (legt den Arm um den weinenden Platon): »Lieber Platon, Zeugnis und Fiktion sind ein Echo von Dichtung und Wahrheit. [15] Schreiben Sie! Ihnen wird schon eine gute Theorie einfallen.«

(Alle Philosophen ab.)

Die Reinigungskraft (allein auf der Bühne, mit Wischmob in der Hand): »Na toll. Da kann ich ja nochmal von vorne anfangen.«

(Sie verwischt die Spuren.)

 

 

 



 

 

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Endnoten

[1] Vgl. Sir Arthur Conan Doyle: »Das Geheimnis von Boscombe Valley«, in: Ders.: Sherlock Holmes' Abenteuer. Klassische Kriminalerzählungen, Frankfurt a.M u.a. 1984, S. 32, fortan zit. als Conan Doyle 1984.

[2] Vgl. Emmanuel Levinas: »Die Spur des Anderen«, in: Ders.: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg, München 1999, S. 209-235, hier S. 211.

[3] Vgl. Carlo Ginzburg: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 2002.

[4] Vgl. Platon: Der Staat, Buch X, 595a-608.

[5] Gemeint ist der Dialog Kriton, Anm. d. Verf.

[6] Vgl. Platon: Theaitetos, 201a-c.

[7] Vgl. Jürgen Kaube: »Die Hälfte aller Augenzeugen irrt sich«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.12.2006.

[8] Vgl. Jaques Derrida: Bleibe, Wien 2010, S. 25, fortan zit. als Derrida 2010.

[9] Vgl. Thomas Reid: Philosophical Works, Hildesheim 1967, S. 194.

[10] Vgl. David Hume: An Inquiry Concerning Human Understanding, Oxford 1975.

[11] Vgl. Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit, Frankfurt a.M. 1984, § 150.

[12] Vgl. Platon: Menon, 83b-85e.

[13] Conan Doyle 1984, S. 34.

[14] Vgl. Sören Kierkegaard: Die Dialektik der ethischen und der ethisch-religiösen Mitteilung, Bodenheim 1997.

[15] Vgl. Derrida 2010, S. 9f.