Sigrid Weigel, Berlin

 

Angelus Novus – Engel der Geschichte und Bote des Glücks

 

Eine der zahlreichen Engelsdarstellungen von Paul Klee, die aquarellierte Ölfarbzeichnung Angelus Novus aus dem Jahre 1920, verdankt ihre Berühmtheit eher der Philosophie als der Kunstgeschichte. Denn bekannt ist dieses Bild doch vor allem durch Walter Benjamins Denkbild vom »Engel der Geschichte« in seinem letzten Text Über den Begriff der Geschichte, in dem sich seine Reflexionen über das Verhältnis von Historie, Messianismus und Glück verdichten. Das Bild von Klee bildet den Fluchtpunkt mehrerer Spuren: seines spannungsreichen Dialogs mit dem Freund Gershom Scholem, einer zwei Jahrzehnte währenden Faszinationsgeschichte, die ihn mit Klees Bild verband, das er im Juni 1921 erworben hatte, und der Arbeit an einem Bilddenken, das hinter den Gegensatz von Begriff und Metapher zurückgeht.

 

Klee_AngelusNovus

Paul Klee: Angelus Novus

 

Der Text Über den Begriff der Geschichte [1] zählt zu den bekanntesten Schriften Benjamins und dessen IX. Reflexion zu den am häufigsten besprochenen, interpretierten und auch missdeuteten Abschnitten daraus. Die folgenreichsten Fehllektüren betreffen den Titel und die Interpretation des IX. Abschnitts als Allegorie. So ist Benjamins eigener Titel, der den Begriff, d.h. die Konzeption von Geschichte ins Zentrum stellt, durch die Rede von den »geschichtsphilosophischen Thesen« nahezu verdrängt worden, wie sie sich in der um die marxistische Geschichtsauffassung kreisenden Rezeption in der Folge der Studentenbewegung eingebürgert hat. Benjamin selbst hat seinen Text in einem Brief an Gretel Adorno (April 1940) zurückhaltender als »Aufzeichnungen und Reflexionen« bezeichnet. [2] Eine Interpretation des IX. Textstücks als Allegorie, durch die das Klee-Bild mit dem »Engel der Geschichte« gleichgesetzt und als bildliche Personifikation von Benjamins Geschichtstheorie interpretiert wird, verkennt Benjamins Arbeit an einem dialektischen Bild. Denn der Text handelt von nichts anderem, als wovon er spricht. Es geht darin genau um die Stellung der theologischen Tradition, der die Figur des Engels entstammt, zur und in der Geschichte. Es geht um Katastrophen, deren Wahrnehmung aus dem Blick der Fortschrittsgeschichte heraus fällt.

Dabei gewinnt Benjamin das Denkbild »Engel der Geschichte« erst aus dem Kontrast zwischen einem poetischen Zitat (Scholems Gedicht) und einer Bildbeschreibung (Klees Bild). Die IX. These setzt nämlich mit einem Motto ein, das in den meisten Interpretationen nahezu regelförmig vergessen wird, mit einer Strophe aus Scholems Gedicht Gruß vom Angelus, aus dem der Vers »ich kehrte gern zurück« durch Kursivierung hervorgehoben ist: »Mein Flügel ist zum Schwung bereit / ich kehrte gern zurück / denn blieb ich auch lebendig Zeit / ich hätte wenig Glück. / Gerhard Scholem, Gruß vom Angelus«. Zu diesen Versen steht die Gestalt des kleeschen Engels in diametralem Gegensatz, denn dessen Haltung erscheint, im Konjunktiv, als Zurückweichen und Erstarrung im Schrecken. Erst nach diesem Gegensatz zwischen dem Rückkehrwunsch des lyrischen Ich, das als Stimme des Engels auftritt, und dem Bild des stummen, erstarrten Engels aus Klees Darstellung wird der »Engel der Geschichte« eingeführt – unmissverständlich gekennzeichnet als Vorstellungsbild: »Der Engel der Geschichte muß so aussehen.« – und in Gegenstellung zu unserem Blick auf die Geschichte positioniert. Damit ist der Blick des Engels buchstäblich als Kehrseite einer ereignisgeschichtlichen Konstruktion von Geschichte gekennzeichnet. Während sich dem Blick des Engels, als Abkömmling und Statthalter der Tradition (hebr. קבלה, Kabbala), dasjenige offenbart, was aus der Konstruktion der Geschichte als Fortschritt ausgeblendet bleibt, ist es ihm aufgrund seiner Position – rücklings inmitten der Fortschrittsgeschichte befindlich und von ihr mit fortgetragen – dennoch unmöglich, die kultischen Handlungen zu vollziehen – »das Zerschlagene zusammenfügen« –, so dass die Trümmer zum Himmel wachsen. Auf diese Weise reflektiert der Text sowohl dasjenige, was sich nur dem Blick der Tradition offenbart, als auch die Ohnmacht einer rückgewendeten Haltung, der nur mehr der Blick auf die Katastrophe bleibt.

In einer Eintragung aus dem Konvolut der Notizen zum Text wird diese Problemstellung auf die kurze Formel einer »grundlegenden Aporie« gebracht: »Die Tradition als das Diskontinuum des Gewesenen zur Historie als dem Kontinuum der Ereignisse«; die Überschrift lautet »{Problem der Tradition I} Die Dialektik im Stillstande« (GS, I.3, S. 1236). Dies weist die Arbeit am Geschichtsbegriff als Seitenstück zum Passagen-Projekt aus. Aus ihm ist das Motiv der erkenntnistheoretischen Auseinandersetzung mit der Theorie des Fortschritts erwachsen (vgl. GS, V.1, S. 570–611). »Dialektik im Stillstand« bezeichnet Benjamins Alternative zur Konstruktion der Geschichte als Kontinuum: eine Erkenntnis- und Darstellungsweise, die auf jene Dialektik antwortet, die den untersuchten Phänomenen selbst innewohnt, indem sie deren Bewegung im Interesse der Erkenntnis gleichsam stillstellt: als Bild. »Mit anderen Worten: Bild ist Dialektik im Stillstand. Denn während die Beziehung der Gegenwart zur Vergangenheit eine rein zeitliche, kontinuierliche ist, ist die des Gewesenen zum Jetzt dialektisch: ist nicht Verlauf sondern Bild, sprunghaft.« (Ebd., S. 577) Den Zusatz, dass der Ort, an dem man echte dialektische Bilder antrifft, die Sprache sei, hat Benjamin mit seinem Bild vom »Engel der Geschichte« selbst eingelöst. Gegenüber der Formel von der Aporie von Tradition und Historie gelingt es diesem Denkbild, die Komplexität der Problemstellung sprachlich zurückzugewinnen. Dabei handelt es sich weder um eine Metapher, die um der Anschaulichkeit willen einen Gedanken in ein Bild überträgt, das einem fassbareren Feld entlehnt ist, noch um eine Allegorie zur Versinnbildlichung oder Veranschaulichung eines auch anders formulierbaren Gedankens.

In den Notizen zu einer »Vorbemerkung« hat Benjamin die Fragestellung wie folgt skizziert: »Im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die es uns verbietet, die Geschichte grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in theologischen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen.« (Ebd., S. 1235) Der Engel der Geschichte nimmt diese nicht atheologische Position des Eingedenkens inmitten einer enttheologisierten Historie ein. Damit entwirft Benjamin den Blick der jüdischen Tradition als Counterpart zur Affirmation von Säkularisierung und Moderne. Auf diese Weise hat er eine Lösung für eine Problemstellung gefunden, die er bereits zwei Jahrzehnte zuvor, in den als Theologisch-Politisches Fragment bekannten Aufzeichnungen, als »wesentliche[s] Lehrstück der Geschichtsphilosophie« formuliert hatte. Dort ging es um die Beziehung des Historischen bzw. der »Ordnung des Profanen« auf das »Messianische«, eine Frage, von der es dort heißt, dass »deren Problem in einem Bilde sich darlegen läßt«. Es ist das Bild einer gegenstrebigen Fügung:

 

»Wenn eine Pfeilrichtung das Ziel, in welchem die Dynamis des Profanen wirkt, bezeichnet, eine andere die Richtung der messianischen Intensität, so strebt freilich das Glückssuchen der freien Menschheit von jener messianischen Richtung fort, aber wie eine Kraft durch ihren Weg eine andere auf entgegengesetzt gerichtetem Weg zu befördern vermag, so auch die profane Ordnung des Profanen das Kommen des messianischen Reiches.« (GS, II.1, S. 203f.)

 

Im Anschluss an Sigmund Freuds dialektische Konzeption von Todes- und Lebenstrieb in dem soeben erschienenen Text Jenseits des Lustprinzips (1920), [3] in dem der Todestrieb als Angleichung des Organischen an das Anorganische beschrieben und der Eros/Lebenstrieb als Gegenenergie dazu gedacht ist, entwirft Benjamin eine Theorie des Glücks, in der er sich auf den Messianismus bezieht. Darin definiert er den »Rhythmus der messianischen Natur« als Glück: »Denn im Glück erstrebt alles Irdische seinen Untergang, nur im Glück aber ist ihm der Untergang zu finden bestimmt.« (GS, II.1, S. 204) Die zwanzig Jahre, die den Versuch, im Theologisch-Politischen Fragment die Wirkungsweise des Messianischen in der profanen Welt zu beleuchten, von den Aufzeichnungen zum Geschichtsbegriff trennen, sind dieselben Jahrzehnte, in denen Benjamin Klees Angelus Novus besaß und in denen er wiederholt mit seinem Freund Gershom Scholem über die Haltung zur Tradition gerungen hat.

Das Motiv einer messianischen Theorie des Glücks verbindet das Theologisch-Politische Fragment wiederum mit Benjamins Reflexionen über Klees Angelus Novus, der ihn zwanzig Jahre begleitet hat. Bereits im Oktober 1917 bezeichnete Benjamin Klee als den einzigen »Maler unter den neuen«, der ihn berühre (GB, I, S. 394), und motiviert daraus das Vorhaben, sich mit den »Grundlagen der Malerei« zu beschäftigen, um von der Ergriffenheit zur Theorie fortzuschreiten. 1920, als seine Frau Dora ihm zum Geburtstag Klees Vorführung des Wunders schenkt, heißt es über Klee: »Ich liebe ihn sehr und dieses ist das schönste von allen Bildern die ich von ihm sah.« (GB, II, S. 93)

 

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Paul Klee: Vorführung des Wunders

 

Der Erwerb des Angelus Novus ein Jahr später veranlasste ihn in einem Brief an Scholem, in dessen Münchner Wohnung er das Blatt zunächst zurücklassen musste, zu spielerischen Assoziationen über Kabbala, Angelologie und Dämonologie, in deren Zusammenhang der »A.N.« als »neu-erschaffener Kabbalabeschützer« tituliert (ebd., S. 160) wird. Und ein Jahrzehnt später, als er anlässlich des Bezugs einer eigenen Wohnung deren »Bildausstattung« Scholem gegenüber kommentiert und sich »mit Schrecken« Rechenschaft gibt, »dass in meiner Kommunistenzelle [...] nur Heiligenbilder hängen«, nimmt er den Angelus Novus als »einzige[n] Botschafter der Kabbala« davon aus (GB, 4, S. 62).

Für Benjamin, der stets darauf bedacht war, den Abstand der Historie zur Welt der Offenbarung zu beachten, stellt der Angelus Novus gerade das Andere des Menschen dar, den Nicht- oder Unmenschen, so wie er es am Ende des Karl Kraus-Essays (1930/31) explizit formuliert: »Als ein Geschöpf aus Kind und Menschenfresser steht sein Bezwinger [der des Dämons, S.W.] vor ihm: kein neuer Mensch; ein Unmensch; ein neuer Engel.« (GS, II.1, S. 367) Insofern müssen ihn Scholems Verse auf Klees Blatt »Denn blieb ich auch lebendige Zeit / ich hätte wenig Glück« irritiert haben, wird darin doch die »lebendige Zeit« in einem angelischen Verkündigungston als glücklos deklariert. Im Theologisch-Politischen Fragment antwortet Benjamin darauf mit dem Entwurf einer messianischen Theorie des Glücks.

Auch in den stark verschlüsselten autobiographischen Reflexionen Angesilaus Santander (GS, VI, S. 520-523), deren zwei Fassungen im August 1933 auf Ibiza entstanden sind, in einer Situation von Verlassenheit, existentieller Not und einer glücklosen Liebesgeschichte, tragen die Züge des »Neuen Engels« »nichts Menschenähnliches«. Wie in der Schlusspassage des Kraus-Essays bringt Benjamin die Figur des Engels auch hier mit einer jüdischen Legende in Verbindung: »Die Kabbala erzählt, daß Gott in jedem Nu eine Unzahl neuer Engel schafft, die alle nur bestimmt sind, ehe sie in Nichts zergehen, einen Augenblick das Lob von Gott vor seinem Thron zu singen.« Die anschließende Reflexion kommentiert die Dauer, während derer der Neue Engel als Bild an der Wand seines Zimmers hängt, als – ungebührliche – Unterbrechung des Legendengeschehens: »Nur fürchte ich, daß ich ihn ungebührlich lange seiner Hymne entzogen habe«. Indem der Auftritt des Engels als Kunstwerk in der irdischen Welt als Unterbrechung und Aufschub des Lobgesangs gedeutet wird, tritt die Kunst in ein ähnliches Verhältnis zur Offenbarung wie das Leben – als Streben nach Glück – zur Erlösung. Eine persönliche Wendung des Textes deutet die unerreichbare Geliebte als »weibliche Gestalt«, die der Angelus seiner »männlichen im Bilde auf dem längsten, verhängnisvollsten Umweg« nachgeschickt habe, um auf diese Weise seine Geduld auf die Probe zu stellen. Im Unterschied zur scholemschen Aneignung der angelischen Stimme, betrachtet Benjamin die Figur des Engels als Gegenüber und reflektiert, auf welche Weise sie ihn ›trifft‹, »nämlich wartend«; und schon im Surrealismus-Essay hatte er das Warten als Haltung »profane[r] Erleuchtung« gedeutet (GS, II.1, S. 297).

Die Aufzeichnungen Angesilaus Santander lesen sich als eine Art kabbalistischer Metamorphose, die Benjamin an der Gestalt eines ›Schutzengels‹ vornimmt, um wiederum in Überlegungen zum Glück zu münden, in diesem Falle mit einem subjektiven Gestus: das Glück als Widerstreit zwischen dem Neuen, noch Ungelebten, und dem Nocheinmal, dem Gelebten. »So wie ich, kaum dass ich zum ersten Male dich gesehen hatte, mit dir dahin zurückfuhr, woher ich kam.« Wenn er das Motiv des Glücks dann im II. Abschnitt seiner Aufzeichnungen zum Begriff der Geschichte wieder aufnehmen wird, bringt er es explizit mit der Erlösung in Verbindung: »Es schwingt, mit anderen Worten, in der Vorstellung des Glücks unveräußerlich die der Erlösung mit.« (GS, I.2, S. 693)

 

 

 



 

 

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Endnoten

[1] Walter Benjamin: »Über den Sinn der Geschichte«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Hermann Schweppenhäuser u. Rolf Tiedemann, 7 Bde., Frankfurt a.M. 1977-1989, Bd. I.2, S. 690-708. Die Gesammelten Schriften werden fortan zitiert als GS.

[2] Walter Benjamin: Gesammelte Briefe, hrsg. v. Christoph Gödde u. Henri Lonitz, 6 Bde., Frankfurt a.M. 1995-2000, Bd. VI, S. 435. Die Gesammelten Briefe werden fortan zitiert als GB.

[3] Sigmund Freud: »Jenseits des Lustprinzips«, in: Ders.: Psychologie des Unbewußten, Werke, Studienausgabe, Bd. III, Frankfurt a.M. 1975, S. 213-272.