Horst Bredekamp, Berlin

 

Die Maratonista

 

Im Ziel lag auf dem Gesicht der Jubilarin eine gelöste Freude. Es war der 20. Juni 2007, Tag des jährlich veranstalteten Berliner Lauftreffs, bei dem hunderte von Mannschaften im Tiergarten gegeneinander antreten. Das Wissenschaftskolleg zu Berlin nahm mit mehreren aus Fellows und Mitarbeitern gebildeten Mannschaften teil, zu denen auch Sybille Krämer und ich selbst gehörten.

Durch Zufall wurden wir an die zweite Position unserer Teams gelost. Es war einer der kältesten Junitage seit Menschengedenken und in dem Moment, als wir uns aufgestellt hatten, begann es wie aus arktischen Wolken zu regnen. Eine gewisse Linderung brachte das Trippeln auf dem zur Verfügung stehenden Fleck, weil immer wieder ganze Gruppen in dieselbe Schrittfrequenz verfielen, so dass die Vereinzelung, die das Frieren in besonderer Weise bewirkt, in der akustischen Gemeinschaft der stampfenden Körper gemindert wurde. Aber als sich die Schuhe mit Wasser füllten, transmutierten die Läufer in eine Schar zitternder, nasser Vögel. Es dauerte lange, bis unsere Staffelpartner erschienen. Sie kamen nicht gleichzeitig, hatten aber so geringen Abstand, dass Sybille Krämer und ich eine gewisse Strecke gemeinsam laufen konnten.

Es geschah, was den Reiz des Langlaufs ausmacht. Das Auf und Ab der Körper erzeugt nach einer gewissen Zeit eine Umstülpung der Aufmerksamkeit nach innen, weil die Stereotypie der Bewegungen in die Reservoire der Einbildungskraft dringt, die, von außen angestoßen, das Äußere vergessen lassen. Die körperliche Konzentration lässt den Akteur von sich selbst Abstand gewinnen und mit dieser Distanzbildung eine intrinsische Sphäre eröffnen. Hier realisiert sich Gottfried Wilhelm Leibniz' unerhörtes Bild vom Gehirn als einer sperrig zerknitterten, aber straff gespannten Leinwand, die durch Außenimpulse in Schwingung gesetzt wird und dabei autopoietische Prozesse der Selbstentfaltung erzeugt. [1]

Schon nach wenigen Minuten war die Kälte verdrängt, der Regen vergessen und die Anstrengung in Trance verkehrt. Diesem Effekt hat der französische Schriftsteller Jean Echenholz ein literarisches Denkmal gesetzt, [2] und Hans Ulrich Gumbrecht hat diesem halluzinatorischen Tunnel mit dem Spruch des mehrfachen Goldmedaillengewinners Pablo Moralez eine wohl unübertreffbare Formel gegeben: »Lost in focussed intensity«. [3]

Zudem hat Gumbrecht in politisch unkorrekter und darin umso treffenderer Weise darauf hingewiesen, wie das Laufen in seiner immanenten Versenkung den Ideologien gleichsam davonlaufen kann; hiervon zeugt ihm zufolge Leni Riefenstahls Umschmeichelung des so athletischen wie geschmeidigen Sprinterleibes von Jesse Owens in Olympia. [4] Zu den vielleicht eindrucksvollsten, jenseits aller politischer Zurichtungen gedrehten Abschnitten des Films gehört jedoch die Dokumentation des Marathonlaufs, weil die Regisseurin in einer seltenen Intuition nicht den Kampf der Läufer untereinander, sondern deren Introspektion mit den Stilmitteln der surrealen Überblendung darzustellen versucht hat.

 

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Abb. 1 und 2

 

Thematisiert wird selbstverständlich auch die Härte des Laufes, die Auszehrung in der spürbaren Hitze und die Selbstüberwindung vor allem der asiatischen Läufer (Abb. 1). Aber dies nimmt Riefenstahl zum Anlass, um über die Innenbewegung des angestrengten Läufers und über die Ich-Spaltung, die sich hier vollzieht, zu berichten. Während die Kamera auf den Kopf eines der Marathonisten geht, überlagern die schwebenden Innenbilder diese Dokumentation (Abb. 2). In dieser Überblendung ist der Läufer ein Subjekt der Mechanik und zugleich ein Objekt seines Phantasiereservoirs. Was sich bewegt, ist die Kraft seines Innenlebens. Dieses Motiv kommt am Ende zum Ziel, wenn der Läufer in die Außenarchitektur des Stadions projiziert wird und mit ihr bei der Näherung verschmilzt (Abb. 3).

 

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Abb. 3

 

Hierin könnte das Element einer faschistischen Verschmelzungsästhetik gesehen werden, aber ein solcher Eindruck wird relativiert durch Szenen, die den Schatten in den Mittelpunkt stellen. Die Kamera nimmt einen Standpunkt hinter und über den Läufern ein, um den Blick als Strahl der hoch am Himmel stehenden Sonne zu simulieren, wodurch der Schatten nicht hinter, sondern vor dem Läufer auf die Straße fällt, so dass er vor diesem herläuft. (Abb. 4) Das dunkle Selbst des Läufers tanzt ihn ziehend mit sich: wohl selten ist die Triebkraft des Inneren in ein stärkeres Bild gefasst worden.

 

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Abb. 4

 

Riefenstahl hat festgehalten, was jeder Läufer, der über ein gewisses Maß an Training verfügt, erleben kann. Der Lauf im Tiergarten bot Regen und keine Hitze, die Läufer waren Mittel- und nicht Weltklasse, und der Anlass war Vergnügen und kein Wettkampf. Dennoch war der Effekt vergleichbar: eine bewegungsgesteuerte Introspektion in Gedankensphären, die auf andere Weise kaum erzeugbar sind.

Dass die Jubilarin eine bemerkenswerte Läuferin ist, liegt an ihrer Disposition für das Doppelspiel des Laufens. Der Trias Ausdauer, Verlässlichkeit und Präzision steht der Dreiklang der Konzentration, der Phantasie und des Transitorischen zur Seite. Ich wünsche Sybille Krämer die permanente Abrufbarkeit jenes Glücksmomentes, als sie nach dem Regenlauf des Tiergartens aus dem Tunnel der weitblickenden Introspektion wieder auftauchte. Liebe Sybille, keep on running!

 

 

 



 

 

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Drehmomente_Bredekamp.pdf

 

 

Endnoten

[1] Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Hamburg 1996, II, XII.

[2] Jean Echenholz: Laufen, Berlin 2009.

[3] Hans-Ulrich Gumbrecht: Lob des Sports, Frankfurt a.M. 2005.

[4] Alle folgenden Filmstills aus Olympia – Fest der Völker (D 1938, Regie: Leni Riefenstahl).