Bernd Mahr, Berlin

 

Pyramiden

Ein Spaziergang in die Vorstädte der Philosophie

 

Liebe Sybille! Von den Geheimniskrämern erfuhr ich, dass Du in diesem Jahr einen runden Geburtstag begehst, geschätzte Philosophin, im März, einen, der bei mir schon einige Jahre zurückliegt. Sie haben mich gefragt, ob ich zu Deinen Ehren etwas schreibe. Ich soll mich produktiv-performativ mit Deiner Gedankenwelt und Systematik auseinandersetzen und mit Deiner Wissenschafts-Strategie; und Deinem wissenschaftlichen Unbewussten soll ich mich widmen. So wollten die das. Gewissermaßen weiterdenken soll ich Dich, und Spaß soll es machen. So hatten sie sich das vorgestellt. Eigentlich nur, um nicht nein zu sagen, habe ich zugesagt; natürlich auch, weil ich an Dich dachte. Aber dann sah ich, dass die Sache doch schwieriger würde, als sie mir anfänglich erschien. Denn wie sollte ich es anstellen, Dich weiterzudenken? Ich müsste Dich dabei schon mitnehmen. Etwas anderes hätte ja gar keinen Sinn. Dann müsste ich Dich aber erst einmal finden. Denn man soll ja die, mit denen man einen gemeinsamen Weg gehen will, dort abholen, wo sie stehen, wie es eine pädagogisch und therapeutisch korrekte Vorschrift verlangt. Ich hasse diese Vorschrift, aber ich käme doch nicht umhin, Dich zu suchen, wenn wir zusammen gehen sollen. Aber wo? Wo könnte ich Dich finden? In den winkeligen Gassen der Altstadt, auf den großen Plätzen und Märkten, wo man sich zu Diskursen versammelt, in den Häusern der Bürger, bei den Handwerkern oder in den Palästen der Patrizier? Und was wäre dann, wenn ich Dich gefunden habe? Wohin sollte ich dann mit Dir gehen? Du kennst wie kaum ein anderer die Quartiere der Stadt mit ihren Ecken und Sehenswürdigkeiten und mit den gepflegten Liegenschaften der wohlhabenden Schicht. Ich könnte Dir doch kaum etwas Neues zeigen, zumal ich mich im Netz der Straßen nur mäßig auskenne. Du müsstest mich durch die Stadt führen, nicht ich Dich – aber ich hatte doch zugesagt, dass ich Dich weiterdenke und nicht Du mich. Derart in einer schwierigen Lage befindlich, musste ich also überlegen, wie ich mein Versprechen doch noch halten könnte, wenn auch vielleicht nicht ganz im erwarteten Sinn. Und so kam ich auf eine Idee.

 
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Abb. 1: Louis-François Baron Lejeune: Die Schlacht bei den Pyramiden (Ausschnitt), 1808 [1]

 

Ich lade Dich zu einem Spaziergang in die Vorstädte ein, in die Vorstädte der Philosophie. Dorthin, wo die Kultur jung ist, weil sie ständig stirbt und wieder in neuer Form ersteht, wo das Leben von der Tradition der alten Stadt unbeeindruckt ist, wo schnell aus einzelnen Hütten Wohngebiete werden und wo sich die Ränder der Stadt wuchernd ausdehnen, rasant und planlos und ohne die Infrastruktur, mit der man ihre Abwässer kanalisieren und die Straßen sauber halten könnte, und wo es einem deshalb gelegentlich von dem Müll übel wird, der öffentlich herumliegt; wo sich Slums bilden, fremde Kulturen ansiedeln und parallele Welten entstehen; wo es aber auch bemerkenswerte Entwicklungen gibt und viel Potential, wo sich Stile bilden und Trends und manchmal auch Kräfte von schöner Gestalt. Komm! Komm mit! Ich zeige Dir was. Wenn Du mich bei diesem Spaziergang begleitest, dann zeige ich Dir Pyramiden.

 

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Abb. 2: Die Pyramiden von Gizeh [2]

 

Man hat die Pyramiden in den Vorstädten nachgebaut, als wollte man ihre mystische Energie domestizieren. Man will von ihrer viereinhalbtausend Jahre alten Geschichte profitieren, sie in den Dienst der eigenen Sache stellen und aus ihren übersinnlichen Kräften schöpfen. Pyramiden üben auf ihre Betrachter eine große Faszination aus, die man mnemotechnisch nutzen will. Und man will mit der Klarheit ihrer Form dem Chaos des Denkens Einhalt gebieten, das in den vorstädtischen Siedlungen herrscht. In den Vorstädten sind Pyramiden Metaphern, und wenn es darum geht, das Gedachte auf dem Markt zu präsentieren, sind sie Metamodelle der graphischen Form. Ihre Nachbauten sind Diagramme. Daran besteht kein Zweifel. Aber sie gehören dennoch irgendwie nicht zur Stadt. Offenbar verkörpern sie nicht das, was man in der Stadt über Diagramme denkt. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass sie den Stil der Vorstadtkultur prägen.

Die Technisierung des Schließens hat auch den Vorstädten die Bibliotheken des Internets gebracht und die Flut der Bilder; und sie unterstützt mit ihren Mitteln der graphischen Präsentation jeden, der zeigen will, was er denkt. Aber unerwartet nimmt sie dem, der mit Tastendrücken, Mouseclicks und Cursorbewegungen davon Gebrauch macht, die Graphik der Präsentation aus der Hand. Denn computergenerierte Darstellungen zeigen Linien, Ecken und Rundungen in so makelloser Präzision, ebenso auch Färbungen und Schriften, dass sie die Graphik von dem trennen, was gedacht und zu zeigen ist. Die Unmittelbarkeit der Herstellung ist verschwunden, die dem Rückschluss von der Skizze auf das Denken eine Spur legte. Eine handgefertigte Graphik lässt in ihrer Ausführung immer noch die Bewegung der Hand erkennen und eventuell auch den Gebrauch von Zirkel und Lineal; sie offenbart dadurch immer noch etwas von der Körperlichkeit des Subjekts ihrer Produktion, bewahrt Reste von Vorläufigkeit und verdeckt den hypothetischen Charakter ihrer Aussage nie ganz. Man kann ihrer Existenz Beiläufigkeit unterstellen und ihrer Ausführung die Ungeübtheit der Hand zugutehalten.

 

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 Abb. 3: Lageskizze einer möglichen Pyramide in Libyen, anonymer Autor [3]

 

In einer Computergraphik dagegen ist das Leben der Skizze erloschen. Es ist der Perfektion der Formen und Schattierungen erlegen.

 

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Abb. 4: Klassifikation der Lebensmittel [4]

 

Die Präsentation elementarer Beziehungen im klassifizierenden Denken der Vorstädte nutzt zur Darstellung von Äquivalenz und Ordnung Schichten, und zur Darstellung von Quantität und Richtung Verjüngung. Je solider sich die verjüngenden Schichten dem Auge darbieten und je schärfer ihre Kanten den Pyramidenkörper zeichnen, desto zwingender kommt es zur Übertragung der Konnotationen im Analogieschluss von der Metapher auf den Gegenstand. Unabweisbar wird die Präsentation, wenn für den nachfassenden Blick das Gezeigte in einem Licht erscheint, das die Wirklichkeit des Gesehenen durch die Schatten bezeugt, die es wirft. Dadurch treten Denken und Zeigen direkt und ohne vermittelnde Hand in den Vordergrund. Und so können sich in einer professionell arrangierten Präsentation Schwachsinn und Schrott nicht mehr hinter der Unzulänglichkeit einer handgefertigten Skizze verstecken. Kunstvolle Beleuchtung, die Glanz verleihen soll, wirft deshalb nicht selten nur Lächerlichkeit auf ein Nichts.

 

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Abb. 5: Die Miracle Solutions Pyramide (MSP) der Firma Miracle Software Systems. [5]

 

Aber die Technisierung des Schließens hat nicht nur Werkzeuge verfügbar gemacht, die den Gedanken eine professionelle Erscheinung geben, sondern sie hat auch Mittel der Datenübertragung bereitgestellt, die über die Grenzen der Stadt hinweg die Vorstädte miteinander verbindet. So entstand ein weiter und offener Raum der Kommunikation, der durch die Möglichkeiten des Austausches und der Präsentation, die er bietet, den Vorstädten ein neues Gefühl der Freiheit gegeben hat, der Freiheit im Netz. Dadurch haben sich Äußerungsformen entwickelt, die der Öffentlichkeit online zugänglich machen, was immer und je gedacht und gezeigt werden kann. Der neuen gefühlten Freiheit entspricht deshalb auch ein neues Verständnis des Wissens, das Wissen im Netz.

Nun kann dieses neue Verständnis des Wissens aber nicht unerklärt bleiben und muss sich auch verbreiten. Deshalb braucht es eine Definition, durch die es sich identifizieren lässt, und eine Graphik, mit der es sich ausweist, ebenso im Netz verteilt wie die toten Skizzen, in denen sich die neue Freiheit artikuliert.

 

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Abb. 6: Wissenspyramide, unbekannter Autor [6]

 

Felix Mödritscher erklärt das neue Wissensverständnis der Vorstädte als einen von Interessen geleiteten Pluralismus von Definitionen. »Vom Begriff ›Wissen‹«, schreibt er,

 

»gibt es in der Literatur eine große Anzahl an Definitionen. Ein Grund dafür ist, dass sich sehr viele Disziplinen mit dem Wissensbegriff auseinandersetzen. So findet man philosophische Ansätze in der Erkenntnistheorie oder in fernöstlichen Kulturen. In unserer Gesellschaft wird vor allem der wirtschaftliche Aspekt von Wissen hervorgehoben und Wissen als Produktionsfaktor gesehen. Je nach Standpunkt der Betrachtungen gilt Wissen als an Personen gebunden oder in Dokumenten, Produkten und Systemen manifestierbar, als Ergebnis des Lernens, als praxisbezogen und handlungsorientiert oder als intuitive Komponente. Auch die starke Kontextabhängigkeit ist ein Grund für die Vielzahl an Definitionen von Wissen.« [7]

 

Ist die Einheit des Wissensbegriffs verloren? Lässt sich das Problem der Erklärung von Wissen auf die Pluralität der Interessen reduzieren? Und ist die Wahrheit, die den Wissensbegriff so problematisch macht, im neuen Verständnis zur Definition mutiert?

Wir haben es nicht weit bis zur nächsten Pyramide, die ich Dir zeigen will. Sie erklärt, was in den Vorstädten Wissen ist. Bis wir dort sind, haben wir aber noch etwas Zeit, über den Wissensdiskurs in der Stadt zu sprechen: Ich erinnere mich, gehört zu haben, dass Sokrates damals sehr entmutigt war, als er Theaitetos Wissen nicht ohne Wissen erklären konnte und durch diesen Zyklus in einen unendlichen Regress stets vorauszusetzenden Wissens geriet. Mit dieser »Windgeburt« gelang es Platon offenbar nicht, der bitteren Erkenntnis des Parmenides etwas entgegenzusetzen, der von der Göttin die ewige Wahrheit erfahren musste, dass

 

»die Sterblichen, die nichts wissenden, umherwanken, die doppelköpfigen: denn Ohnmacht lenkt in ihrer Brust ihren schwankenden Verstand, und sie treiben dahin so taub als blind, blöde, verdutzte Gaffer, unterscheidungslose Haufen, bei denen Sein und Nichtsein dasselbe gilt und nicht dasselbe, und es in allen Dingen einen umgekehrten Weg gibt«. [8]

 

Und zog nicht Protagoras, den Platon später mit einer Kaulquappe verglich, aus dieser Einsicht die radikale Konsequenz, dass es der Mensch sei, der das »Maß aller Dinge« ist? [9] So wenigstens schien es, als er die Grenzen der Sterblichkeit erkannte und eingestand: »Von den Göttern vermag ich nichts festzustellen, weder, dass es sie gibt, noch dass es sie nicht gibt, noch, was für eine Gestalt sie haben; denn vieles hindert ein Wissen hierüber: die Dunkelheit der Sache und die Kürze des menschlichen Lebens«, [10] eine Äußerung übrigens, die ihn letztlich das Leben kostete. Aristoteles’ salomonisches Urteil, künftig zwei Welten anzuerkennen, die Welt des Sichtbaren und die Welt des Denkbaren, brachte uns dann scheinbar eine Lösung des Problems. [11] Jedenfalls wurde sie von Descartes aufgegriffen, der res extensa und res cogitans unterschied, und von Helmholtz weitergedacht, der die empirische Überprüfung idealisierender Begrifflichkeiten forderte, zu denen wir durch Erfahrungen mit der zu beschreibenden Wirklichkeit gelangen. [12] Erst Husserl widersetzte sich der Idealisierung der Wirklichkeit. Er schimpfte gegen die Limesgestalten der angewandten Mathematik und beklagte die Teilung der Welt als ein Versagen der Wissenschaften und der Philosophie. [13]

In der Stadt hält man bis heute an der Bindung des Wissens an ein Subjekt fest. Unabhängigkeit vom Subjekt kann es nur in der Abstraktion erlangen. Platons problematische Formel, die Wissen als Glauben und Wissen vom Wahren und Falschen bestimmt, wird bei Kant modifiziert. Er sieht im Wissen etwas, dem im Fürwahrhalten sowohl subjektive als auch objektive Gültigkeit zukommt. [14] Und auch bei Max Scheler kommt es zu einer Korrektur. Für ihn ist Wissen die »Teilhabe am Sosein des Seienden, deren Voraussetzung die das eigene Sein transzendierende Teilnahme ist«. [15] Der Kampf um die Bestätigung durch das Wissen von der Wahrheit, durch objektive Gültigkeit, durch empirische Überprüfung und durch die Teilhabe am Sosein des Seienden wird schließlich von Günter Abel pragmatisch entschieden. Er lässt sich nicht auf Weltanschauungen ein. Er sagt, dass »A weiß, dass p, genau dann, wenn A glaubt, dass p, und A mit seinem Glauben recht hat, d.h., wenn dieser [Glaube] mit der Form der Interpretationspraxis zusammenstimmt und sich im Leben bewährt, mithin die mit einem Wissen verbundene Sicherheit gibt«. [16] Dass dabei auch Unsinn Wissen sein kann, ist hier der Interpretationspraxis geschuldet und insofern realistisch. Was an Abels Problemlösung aber hervorzuheben ist, ist zweierlei: erstens die unabdingbare Abhängigkeit des Wissens von einem Subjekt, das, um einen Begriff Searles zu gebrauchen, in einem intentionalen mentalen Zustand des Wissens ist, in dem es etwas weiß, und zweitens, wieder in Anlehnung an Searle, die Gegebenheit einer Erfüllungsbedingung, dass nämlich p von A nicht nur geglaubt werden muss, sondern dass p auch die mit einem Wissen verbundene Sicherheit gibt. Abel meint hier Sicherheit sicherlich in einem weiten Sinn, vom Gefühl der Sicherheit im Subjekt bis hin zum sicheren Erfolg intendierter Handlungen. Der Vorteil der abelschen Problemlösung ist nun, dass wir mit seiner Erfüllungsbedingung jetzt die Erklärungen des Wissensbegriffs befragen können, von Platon bis zu Helmholtz, Scheler und den vielen anderen, die am Diskurs beteiligt waren, auch Russell. Das Wissensverständnis der Vorstädte ist anders. Jetzt sind wir da. Hier ist die Pyramide.

 

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Abb. 7: Wissenspyramide

 

Sie zeigt Wissen als ein durch die Vernetzung von Informationen ermöglichtes Handlungsfeld und akzeptiert als Wissensbegriff alles, was man auf diese oder jene Weise beschreiben kann. »Eine Möglichkeit, Wissen zu beschreiben«, fährt Felix Mödritscher mit seiner Erklärung fort,

 

»ist das Aufzeigen der Beziehungen zwischen den Ebenen Information, Daten und Zeichen, wie Abbildung [7] in Form einer Pyramide zeigt. Hier wird sogleich auch die Wertigkeit der Begriffe – Wissen ist höherwertig als Information, Information ist höherwertig als Daten, usw. – vermittelt. […] Grundlage der Betrachtungen sind Zeichen aus einem bestimmten Zeichenvorrat, die, wenn sie einer bestimmten Syntax folgen, als Daten zu verstehen sind. Ein Empfänger gewinnt nun aus Daten Informationen, wenn er diesen eine Bedeutung zuordnen kann. Erst die Vernetzung von Informationen ermöglicht deren Nutzung in einem bestimmten Handlungsfeld, welches als Wissen bezeichnet werden kann.« [17]

 

Ich bin mir nicht sicher, ob Mödritscher hier wirklich meint, dass Wissen ein Handlungsfeld bezeichnet. Spätere Textstellen seines Traktats lassen vermuten, dass er im Wissen etwas sieht, das zu Handlungsvoraussetzungen gehört, nicht aber selbst das Feld der Handlungen ist, die es ermöglicht. Wie auch immer, Wissen entsteht hier aus vernetzten Informationen, und in einem Kreislauf, den der Nachbau der Pyramide aus statischen Gründen nicht darstellen kann, sind Informationen wiederum aus Wissen abgeleitet. Sokrates hätte dieser Zyklus vermutlich zur Verzweiflung gebracht. In den Vorstädten ist das kein Problem. Man denkt einfach nicht weiter und bleibt lokal. »Bei der Wissensverarbeitung«, zitiert Mödritscher hierzu seinen Kommilitonen Gerald Reif,

 

»handelt es sich um jene Wissenschaft, die sich mit der Beschleunigung, der Rationalisierung und Automatisierung der Transformation von Wissen in Information und umgekehrt befasst. Dabei werden einerseits Informationen aus der Umgebung exzerpiert und als Wissen gespeichert, andererseits werden aus gespeichertem Wissen Informationen gewonnen, um sinnvolles Handeln und Entscheiden zu ermöglichen«. [18]

 

Befragt man mit der abelschen Erfüllungsbedingung dieses Wissensverständnis, dann zeigt sich, dass eigentlich nicht ein Subjekt etwas weiß, sondern das Informationssystem im Netz. Das hat aber keine Gefühle und es handelt auch nicht. Wissen steht dem Subjekt dadurch gegenüber wie ein Objekt. Auf dieses Objekt bezogen könnten sich natürlich Glaube und Sicherheit einstellen, aber der Bezug zum Gegenstand des Wissens, zu dem, worüber die Proposition p etwas aussagt, ist dadurch faktisch im Netz verteilt und dem Subjekt nur noch sehr vermittelt zugänglich. Das Netz wird damit zur Autorität und das Subjekt verblasst.

Mödritscher ist nicht der Erfinder dieses Wissensverständnisses. Es entwickelte sich seit den zwanziger Jahren zur DIKW-Theorie, unter anderem mit Beiträgen von T.S. Eliot und Frank Zappa. Besonders in den Vorstädten verbreitete es sich schnell, offenbar stark befördert durch die eingängige Metapher der Pyramide. Hier sind noch andere Nachbauten: 

 

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Abb. 8: Wissenspyramide der DIKW-Theorie; erweiterte DIKW-Pyramide [19]

 

Sie platzieren an der Spitze der Pyramide die Weisheit, die »entsteht, wenn jemand die grundlegenden Prinzipien, auf die sein Wissen aufsetzt, so erfassen kann, wie sie wirklich sind«. [20] Wissen, derart vernetzt und auf Knoten verteilt, ist systemisch. Wissen, das im System existiert, wirft aber Fragen auf. Denn wo ist dann die Verantwortung, die auch das Wissen betrifft? Ist sie ebenso verteilt? Und ist das Haben des systemischen Wissens mehr als Verfügbarkeit, verstanden als Produkt aus Bandbreite und Erreichbarkeit? Offensichtlich ist es vom Geist befreit und im Netz angesiedelt, und dadurch im Denken nicht mehr Inhalt, sondern Zitat, schon wegen seines Umfangs, der alle Dimensionen physischer Bibliotheken sprengt. Wenn es so ist, dann ordnen Hüter des Wissens den Verkehr im Netz, würden als Gutachter oder Verlage aber freiheitliche Rechte der neuen Wissensordnung beschränken. Muss sich die Stadt nicht diesen Entwicklungen stellen? Vielleicht ist das alles übertrieben, und ich will auch nicht den Teufel an die Wand malen, aber zurzeit vollzieht sich ein Wandel im Verständnis von Freiheit und Wissen, der doch Anlass zum Nachdenken gibt.

Lassen wir das. Ich will Dir noch einen anderen Nachbau zeigen. Er hat in den Vorstädten durch die Art seiner graphischen Gestalt einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Wir müssen nicht weit gehen; wir bleiben im Viertel des Wissens. Auf dem Weg dorthin kommen wir noch bei einer anderen Pyramide vorbei, die besonders wegen ihrer kühnen Architektur sehenswert ist. Wir wollen uns bei ihr aber nicht länger aufhalten.

 

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Abb. 9: Dreidimensionale Wissenspyramide als Scheibe mit Schatten und frei schwebender Schrift [21]

 

Nur soviel, sie ist reiner Stil der neuen Wichtigkeit und vor allem deshalb bemerkenswert, weil sie dreidimensional ist und nur partiell Schatten wirft, und weil sie sich von der traditionellen Bindung der Schrift an einen Schriftkörper gelöst hat.

Jetzt sind wir auch schon am Ziel. Was Du gleich siehst, gehört zu einer Galerie im Netz, in der sich sieben Fotographien finden, neun Screenshots und zwölf Graphiken, zu denen auch die Pyramide gehört, die wir gleich näher ansehen. Die Galerie wird von Bernard Ladenthin gepflegt, der auch der Künstler ist, der die ausgestellten Werke geschaffen hat. Es gibt mehrere Kopien des Originals im Netz. Eine davon befindet sich an einem besonders frequentierten Ort, im Eintrag Wissen der Wikipedia-Bibliothek. [22] Dadurch gehört Ladenthins Graphik in Schulen und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten zu den bevorzugten Informationsquellen und ist auch in den Strategieetagen der großen Unternehmen präsent. Wie kommt sie zu diesem Ansehen? Zunächst ist zu sagen, dass sich die platonische Geringschätzung der Bilder auch in den Vorstädten erhalten hat. Bilder werden nicht wie Textstellen zitiert. Und so ist auch Ladenthin ein Opfer des Plagiats, weil ihn Wikipedia nicht nennt.

 

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Abb. 10: Wissenspyramide, Graphik von Bernard Ladenthin [23]

 

Anders als die Gedanken der städtischen Patrizier, die Wikipedia sorgfältig zitiert, ist seine Graphik offenbar Allgemeingut. Sie wird in der auch aus städtischer Perspektive beeindruckenden und langen Liste von Referenzen des Eintrags nicht erwähnt. Vielleicht deshalb, weil Ladenthin aus den Vorstädten kommt. Vielleicht auch deshalb, weil ihr propositionaler Gehalt schon bekannt ist, so dass auch dessen graphische Aufbereitung als Folklore gesehen wird, zumal auch die Metapher der Pyramide nicht von ihm stammt, sondern weit verbreitet ist. So sehen die Leute von Wikipedia in Ladenthins Graphik wahrscheinlich nur einen Stil und nicht eine Idee, die eine Nennung ihres Autors wert ist. Andererseits befindet sich seine Graphik in der Bebilderung des Eintrags in bester Gesellschaft: Außer ihr gibt es die Fotographie einer Statue in der antiken Bibliothek von Ephesos, ein Foto des älteren Noam Chomsky, die Graphik eines hypothetischen semantischen Netzes nach Collins und Quillian, eine vereinfachte Darstellung der drei Ebenen eines neuronalen Netzes, eine Fotographie des Portraits, das Frans Hals von René Descartes gemalt hat, und ein bekanntes Bild von Immanuel Kant. Durch ihre Anonymität fällt Ladenthins Graphik deshalb aus dem Rahmen.

Ladenthins Graphik ist kein Abklatsch gängiger Symbolisierung. Sie ist weit mehr. Was sie so besonders macht, ist ihr fehlerhaftes und unsinniges Design. Im Stil der neuen Transparenz errichtet, ist sein Nachbau weitgehend missgestaltet. Zwar zeigt er die Gestalt der Pyramide in klaren Linien und Proportionen, aber seine Graphik irritiert schon beim ersten Blick mit ihrer nachlässigen Beschriftung. Im Gegensatz zu Daten und Wissen ist der Schriftzug Information nicht mittig und die anderen Textstellen tanzen typographisch aus der Reihe; zudem sind sie in ihren Rahmen schief. Und schließlich markieren die Anführungszeichen einen Unterschied, der nicht klar ist, weil ja die Formulierung Infos mit intelligentem Netz nicht weniger lax ist als Rohmaterial.

 

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Abb. 11: Fotographie von Francis Frith, 1862 (Ausschnitt); Wissenspyramide nach Bernard Ladenthin

 

Bemerkenswert ist die Dreidimensionalität der Pyramide. Ladenthin war offenbar nicht bereit, sich der Zweidimensionalität des Graphischen zu beugen, und deshalb gezwungen, den Sprung in die dritte Dimension zu wagen; vielleicht um eine möglichst realistische Darstellung zu erreichen oder weil er Platz für die Erklärung der Begriffshierarchie brauchte. Die Waghalsigkeit seines Sprungs wird besonders an den eigenwilligen Schnitten deutlich, die den Pyramidenkörper, den Begriffen entsprechend, in drei übereinander liegende Segmente zerlegen. Weil er die Trennung der Segmente nicht durch Linien nur andeutet, sondern, einer Explosionszeichnung nicht unähnlich, räumlich gestaltet, gewährt die Pyramide dem betrachtenden Auge Einblick in ihr Inneres: Es ist ganz und gar ausgefüllt, wie das Ganze des Seins des Parmenides, das wir Sterbliche nicht wissen können, wie ihm die Göttin gesagt hatte; und es ist weiß wie Papier und unterscheidet sich deshalb nicht von der Oberfläche der Pyramide. Man sieht also nichts. Dieser sinnlose Einblick hat dennoch seinen Preis. Denn das Auge muss erkennen, dass Ladenthin bei der Trennung der Segmente an den Gesetzen der Perspektive scheitert. Alles ist aus der Form und der Betrachter wird durch das, was die Zwischenräume der Segmente ihm zeigen, in eine Mehrzahl von Positionen gezwungen, die er unmöglich zugleich einnehmen kann. Er muss sich deshalb bei der Wahl seiner Position entscheiden, was er ist: Frosch oder Kavalier. Und möchte er die Segmente der Pyramide wieder so aufeinander setzen, dass sich keine Zwischenräume mehr ergeben, entstehen schneidende Kanten, die als Brüche die Oberfläche durchziehen.

Was Ladenthins Graphik dennoch vermittelt, ist der Fortbestand einer gewissen Menschlichkeit. Wie die ungeübte Hand den Zeichner einer Skizze erkennen lässt, kann der Betrachter des unmöglichen Nachbaus das Scheitern an der Gestaltung beobachten. Nicht nur, dass der Dreidimensionalität und der räumlichen Trennung im propositionalen Gehalt des Diagramms nichts entspricht, es sind gerade diese nutzlosen Elemente der Graphik, deren Ausführung fehlschlägt. Vielleicht liegt ja darin das Geheimnis der Aufmerksamkeit, die dieser Nachbau auf sich zieht. Denn Ladenthin vermeidet den Lackglanz der neuen Wichtigkeit und bewahrt dadurch etwas von der vertrauten Unzulänglichkeit. Der Weg zurück in die Stadt ist nur kurz.

 

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Abb. 12: Weltwunder

 

 

 



 

 

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Endnoten

[1] Das Bild (Öl auf Leinwand) befindet sich im Musée National des Châteaux de Versailles.

[2] Markus Kindler: Pyramiden von Gizeh, Quelle: Ägypten-Magazin.

[3] Beweise für Atlantis, Quelle: expedition-atlantis.com

[4] Adeline Bally: Notions de base, Quelle: abcdiet.wifeo.com

[5] Miracle Software System: Miracle solution pyramid, Quelle: miraclesoft.com

[6] Perspectives on Data, Information and Knowledge, Quelle: gollner.ca.

[7] Felix Mödritscher: Wissensmanagement in großen und verteilten Technologie-Unternehmen, Diplomarbeit an der Universität Graz, 2002, S. 7, fortan zit. als Mödritscher 2002.

[8] Parmenides: Vom Wesen des Seienden – Die Fragmente, Frankfurt a.M. 1969, S. 17–19.

[9] Platon: Theaitetos, in: Sämtliche Werke, Bd. V, Zürich, München 1974, 161c-d und 151e.

[10] Protagoras: »Von den Göttern«, zitiert nach Wilhelm Capella: Die Vorsokratiker, Stuttgart 1940, S. 333.

[11] Aristoteles: Metaphysik, zitiert nach Wilhelm Capella: Die Vorsokratiker, Stuttgart 1940, S. 333–334.

[12] Hermann von Helmholtz: Abhandlungen zur Philosophie und Geometrie, Cuxhaven 1987.

[13] Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Hamburg 1982.

[14] Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1990, S. 739ff.

[15] Zitiert nach Heinrich Schmidt: Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart 1969, S. 665.

[16] Günter Abel: Sprache, Zeichen, Interpretation, Frankfurt a.M. 1999, S. 310.

[17] Mödritscher 2002, S. 7. Die Abbildung findet sich ebd., S. 18.

[18] Ebd., S. 9.

[19] Vgl. den Wikipedia-Eintrag »DIKW-Theorie«. Hinweise zur Geschichte finden sich auch in Gene Bellinger, Durval Castro, Anthony Mills: Data, Information, Knowledge, and Wisdom. Quelle der linken Abbildung: drmiguele blog; Quelle der rechten Abbildung: bime.blog.

[20] Mödritscher 2002, S. 8.

[21] Vgl. Fred Beringer: Music on the future of data and predictive analytics.

[22] Vgl. Bernard Ladenthin: http://commons.wikimedia.org/wiki/User:Bernard_Ladenthin und den Wikipedia-Eintrag »Wissen«.

[23] Vgl. Bernard Ladenthin: http://commons.wikimedia.org/wiki/User:Bernard_Ladenthin.