Mike Sandbothe, Hamburg

 

Kleine Kulturpolitik der Engel

 

Die Idee gefällt mir. Gern lasse ich mich aus Anlass von Sybille Krämers Geburtstag dazu anstiften, »einen Beitrag zu erstellen, der sich produktiv-performativ mit Sybille Krämers Gedankenwelt, Systematik, Wissenschafts-Strategie und ihrem wissenschaftlichen Unbewussten auseinandersetzt« – so heißt es in einer Email vom 11. Mai 2010, Betreff: Geheimniskraemerei. Vor allem das Letztere finde ich spannend: das Unbewusste! Allerdings mögen die HerausgeberInnen es mir nachsehen, dass ich die Grenzlinie zwischen der wissenschaftlichen und der nichtwissenschaftlichen Dimension des Unbewussten ignoriert habe. Meine Überlegungen bewegen sich in dieser Hinsicht transversal.

In der zitierten Email heben Werner Kogge, Alice Lagaay, David Lauer, Simone Mahrenholz, Mirjam Schaub und Juliane Schiffers mit Blick auf die von ihnen initiierte digitale Festgabe hervor: »Unser Ziel wäre am vollkommensten erreicht, wenn dieser Prozess Sie auf Pfade zu locken vermöchte, die abseits dessen liegen, was die wissenschaftliche Welt von Ihnen zu kennen glaubt.«

In den letzten Jahren habe ich in Skandinavien gelebt, gelehrt und geforscht. Im Norden sind die neuen Medien zwar hochaktuell, aber auch der spirituelle Umgang mit feinstofflichen Medialitäten wie Göttern und Engeln, Chakren und Meridianen ist dort viel weiter verbreitet als in Deutschland. Mehr noch: In den skandinavischen Ländern gibt es eine sich zunehmend verstärkende Tendenz zum Exoterischwerden des Esoterischen. Vorreiter dieser Bewegung ist Norwegen. Hier wird Fernheilung per Krankenkasse bezahlt und die potentielle Thronfolgerin von König Harald, Prinzessin Märtha Louise, hat gemeinsam mit Elisabeth Samnøy ein in viele Sprachen übersetztes Buch mit dem Titel Schutzengel begleiten Dich publiziert.

Während meiner Zeit in Skandinavien habe ich von der Entwicklung der medienphilosophischen Debatten in Deutschland wenig mitbekommen. So war ich umso überraschter, als ich bei der Lektüre von Sybille Krämers neuem Buch Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität ein Kapitel über Engel entdeckte.

Freilich: Deutschland ist nicht Norwegen und philosophische Fachbücher sind keine spirituellen Ratgeber. Und doch: Sowohl bei den beiden spirituellen Norwegerinnen als auch bei der deutschen Philosophin geht es um Engel. Mehr noch: Es geht um eine neue Balance zwischen Aktivität und Passivität, zwischen dem Demiurgen- und dem Botenmodell des Menschen.

So hebt Krämer im Epilog als »zentrales Anliegen« ihres Buchs hervor, »die weichenstellende Frage aufzuwerfen, was es heißt, eine Mission zu haben, die wir nur in dem Maße erfüllen können, in dem wir uns selbst zurückzunehmen bereit und in der Lage sind«. [1] In der Sache parallel formulieren Prinzessin Märtha Louise und Elisabeth Samnøy im charakteristischen Ton ihres Metiers:

 

»Hab den Mut und schau hin, was passiert, wenn du die Kontrolle über dich selbst nicht hundertprozentig innehast, und erlaube dir, auf die kleinen göttlichen Zufälle im Leben zu achten«. [2]

 

Folgt man diesem Ratschlag, dann – so die beiden Autorinnen weiter – ist man bereit, Engel zu erfahren. Dabei handele es sich um »Teile der universellen Energie«, die uns nur deshalb »in Menschengestalt erscheinen, damit wir uns leichter mit ihnen identifizieren können«. Zur Kommunikation mit Engeln teilen die beiden Norwegerinnen mit:

 

»Die Antworten der Engel erreichen uns auf unterschiedliche Weise: Vielleicht liest du ›zufällig‹ etwas in einer Zeitschrift oder es sagt jemand etwas Bedeutsames zu dir; du hörst etwas im Radio oder siehst es im Fernsehen; möglicherweise kommt dir auch mit einem Mal etwas längst Vergessenes in Erinnerung. Es kann eine Feder sein, die dir plötzlich vor die Augen fliegt – ein Mal oder auch öfter«. [3]

 

Die Prinzessin und ihre Ko-Autorin legen nahe, dass Menschen, die sich auf diese Art von Erfahrung einlassen, die skeptische Existenzfrage »Hat denn wirklich jeder von uns seinen eigenen Schutzengel?« mit einem einfachen und klaren »Ja, das stimmt« beantworten. [4]

Anders Krämer. Gleich im ersten Abschnitt ihres Engelkapitels hebt sie hervor: »Es gibt keine Engel«. Aber, so die Autorin weiter, »es gibt eine Vielzahl religiöser bzw. künstlerischer Darstellungen und Vorstellungen von Engeln«. Und erläuternd fügt sie hinzu: »[N]ur diese bilden das Sujet unserer Überlegungen«. [5]

Im gleichen Jahr (2008) wie Krämers Kleine Metaphysik der Medialität ist Richard Rortys Philosophie als Kulturpolitik in deutscher Übersetzung erschienen. Der Eröffnungsaufsatz von Rortys Buch trägt den Titel Kulturpolitik und die Frage der Existenz Gottes. Was Rorty über die Frage nach der Existenz Gottes schreibt, lässt sich auf die Frage nach der Existenz göttlicher Himmelsboten anwenden.

Zu Beginn des erwähnten Aufsatzes bezieht sich Rorty auf William James. Dieser habe sich in seinem berühmten Essay The Will to Believe (1896) für das Recht ausgesprochen, »an die Existenz Gottes zu glauben, sofern dieser Glaube zum eigenen Glück beitrage.« [6] Rortys weiterer Schritt besteht darin, James’ pragmatischen Vorschlag so zu transformieren, dass die ontologische Frage nach der Existenz Gottes durch eine kulturpolitische Problemstellung ersetzt wird. Diese lautet:

 

»Wollen wir eine oder mehrere der verschiedenen religiösen Traditionen (mitsamt dem jeweils dazugehörigen Pantheon) mit unseren Gedanken über moralische Dilemmata verknüpfen sowie mit unseren zutiefst verwurzelten Hoffnungen und unserem Bedürfnis nach Erlösung aus der Verzweiflung?« (S. 45)

 

Tatsächlich gehören Engel in vielen Religionen zu dem von Rorty erwähnten Pantheon. Was spricht dafür und was dagegen, die Rede von Engeln zu verwenden, »wenn wir unser Selbstbild zusammensetzen und bestimmen, was für uns das wichtigste ist« (ebd.)?

Die Antwort, die Rorty nahe legt, rekurriert auf die politisch-normativen Standards, die sich in demokratischen Gesellschaften im Umgang mit Fragen der Religionsfreiheit herausgebildet haben. Der erste Teil seiner Antwort bezieht sich auf die private Religionsausübung und lautet:

 

»Die zunehmende Privatisierung der Religion während der letzten 200 Jahre hat eine geistige Atmosphäre entstehen lassen, in deren Rahmen den Menschen das gleiche Recht auf idiosynkratische Fragen der Religionsausübung zugesprochen wird wie auf das Schreiben von Gedichten oder das Malen von Bildern, die außer ihnen selbst kein Mensch verstehen kann.« (S. 53)

 

Der zweite Antwortteil bezieht sich auf den Bereich der öffentlichen Religion. Mit James und Mill ist Rorty der Ansicht, »daß an Kirchen nichts auszusetzen sei, sofern ihre Aktivitäten keinen gesellschaftlichen Schaden anrichten« (ebd.). Ob und in welchen Fällen »wirklich existierende Kirchen tatsächlich sozialen Schaden anrichten« (ebd.), lässt sich Rorty zufolge nicht pauschal beantworten, sondern nur im Kontext der kulturpolitischen Debatten, die über konkrete Streitfälle faktisch geführt werden.

Anders Krämer. Ihr Epilog beansprucht, »den Angelpunkt [zu] diagnostizieren, an dem das Potenzial, ›eine Mission zu haben‹ (...) bedrohliche Züge annimmt«. Dies nämlich – so Krämer weiter – sei genau dann der Fall, »wenn der mediale Mechanismus der Selbstneutralisierung und Selbstlosigkeit als Instrument der Selbstermächtigung zum Einsatz kommt«. [7]

Was das hinsichtlich der Frage nach den Engeln bedeutet, macht Krämer in ihrem Engelkapitel unter der Überschrift Dämonische Umkehrung deutlich: »Je näher der Engel Gott ist, umso eher auch will er sein wie Gott. Doch der die Gottgleichheit anstrebende Lichtträger wird zur Erde geschleudert«. Unter den faustischen Bedingungen der Moderne bedeutet das Krämer zufolge, dass Satan nicht länger himmlische Botschaften überträgt. Stattdessen bleibe ihm nur »der Kauf der Seele durch den Austausch von Dienstleistungen im Teufelspakt«. [8]

Wie ist vor diesem Hintergrund die Kosten-Nutzen-Rechnung aufzustellen, die sich aus der nicht nur in Norwegen blühenden Engelratgeberliteratur ergibt? Wo wollen wir den Übergang ansetzen, an dem die esoterische, also mehr oder weniger private Nutzung von angel healing in eine gesellschaftliche Praxis einmündet, die zunehmend exoterischen (also öffentlichen) Charakter hat?

Bevor ich dazu abschließend noch ein paar Hinweise gebe, erscheint mir eine Zwischenbemerkung angebracht. Bisher hatte ich das Gefühl, mich im Großen und Ganzen an dem von den HerausgeberInnen vorgeschlagenen Motto zu orientieren, das lautet: »Was Sie schon immer von Sybille Krämer lesen wollten, diese aber bislang nicht zu denken wagte.« Für die nun folgenden Schlussüberlegungen gilt der Anspruch nicht mehr, mich mottogemäß im Unbewussten der theoretischen Philosophin zu bewegen, die durch diese Internetplattform so festlich bedacht wird.

Engel haben Konjunktur. Nicht nur in Norwegen, sondern auch in England und den USA, zum Teil sogar in Deutschland. Seit 2006 treffen sich jährlich EngelexpertInnen aus aller Welt auf dem Internationalen Engelkongress, der 2011 wieder in Hamburg stattfindet.

Aus Rortys Formulierungsvorschlag ergibt sich mit Blick auf diese Situation die folgende Fragestellung: Wollen wir die Rede von Engeln mit »unseren Gedanken über moralische Dilemmata verknüpfen sowie mit unseren zutiefst verwurzelten Hoffnungen und unserem Bedürfnis nach Erlösung aus der Verzweiflung?« (S. 45) Rortys Rede von »unserem Bedürfnis nach Erlösung aus der Verzweiflung« klingt pathetisch. In meiner eigenen Begegnung mit der Engeltherapie aber hat sie eine ganz konkrete und überaus pragmatische Bedeutung erlangt. Mir selbst sind die Engel nämlich zum ersten Mal beim Zahnarzt begegnet. Allein in Hamburg gibt es mindestens zwei Zahnärztinnen, die komplementär zur üblichen Behandlung auf die heilende Kraft von Engeln setzen.

Der Düsseldorfer Humanmediziner und Zahnarzt Hans Peter Brors hat die beiden Hamburger Zahnärztinnen in der Engeltherapie ausgebildet. Für alle drei steht fest, dass sie in ihrer zahnärztlichen Praxis das berechtigte Bedürfnis der PatientInnen nach Erlösung aus der Verzweiflung durch die Integration der Engeltherapie erheblich besser befriedigen können. Die Lehrmeisterin von Brors ist die Österreicherin Ingrid Auer. Sie hat die Arbeit mit den Engeln im deutschen Sprachraum publik gemacht und zugleich erfolgreich kommerzialisiert. In dem von ihr gemeinsam mit Gerd Schwank veröffentlichten Buch Wie Engel wirken weist Auer darauf hin, dass es neben der zahnmedizinischen eine Vielzahl weiterer ärztlicher Anwendungsbereiche der von ihr so genannten »Körper-Energiearbeit« gibt. Darüber hinaus benennt die Autorin »Persönlichkeitsentwicklung und Lebenshilfe« und »Spirituelle Entwicklung und Aufstiegsprozess« als Wirkungsfelder außerhalb der ärztlichen Praxis. [9]

Damit sind Bereiche angesprochen, die in Rortys Formulierung an die Frage rühren, ob wir das Engelvokabular »mit unseren Gedanken über moralische Dilemmata (...) sowie mit unseren zutiefst verwurzelten Hoffnungen« (S. 45) verknüpfen wollen. Meiner Ansicht nach sind kulturpolitische Initiativen für den Einsatz von Engeltherapie im Kontext der Komplementärmedizin schon heute eine sinnvolle Sache. Dabei erscheinen mir sogar Überlegungen erwägenswert, die darauf hinauslaufen, diesen Verfahren (nicht zuletzt auch durch die Krankenkassen) eine ähnliche öffentliche Anerkennung zu Teil werden zu lassen wie der Homöopathie. Bei den beiden anderen, von Auer erwähnten Wirkungsfeldern bin ich noch etwas zurückhaltend. Diese mögen im Einzelfall durchaus sinnvoll und wichtig sein, sollten aber – aufgrund ihrer engen Verknüpfbarkeit mit umfassenden Weltbildfragen, moralischen Grundhaltungen und religiösen Bewegungen – vorübergehend noch stärker dem Bereich des Privaten und Idiosynkratischen zugeordnet bleiben.

Wenn ich nun vom Ende her auf meine Kleine Kulturpolitik der Engel zurückschaue, dann scheint sie mir zumindest in einer Hinsicht den Schreibrichtlinien der HerausgeberInnen durchgehend treu geblieben zu sein. Ich meine die sympathische Herausforderung der KollegInnen, die da lautet: »Im Idealfall sollte Ihr Text Sie selbst überraschen und das Verfassen Ihnen mehr Lust bereiten als die Erstellung üblicher wissenschaftlicher Aufsätze.« Ich danke den HerausgeberInnen für diese Möglichkeit. Und ich danke Sybille Krämer dafür, dass Sie sowohl Ihren kreativen MitarbeiterInnen als auch vielen anderen PhilosophInnen, KulturwissenschaftlerInnen und Intellektuellen durch ihre wundervollen Texte immer wieder die Gelegenheit gibt, sie und sich selbst auf lustvolle und unvorhersehbare Weise zu überraschen.

 

 

 



 

 

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Endnoten

[1] Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a.M. 2008, S. 345, fortan zit. als Krämer 2008.

[2] Prinzessin Märtha Louise, Elisabeth Samnøy: Schutzengel begleiten Dich, Burgrain 2010, S. 164.

[3] Alle Zitate ebd., S. 166.

[4] Alle Zitate ebd., S. 167.

[5] Alle Zitate Krämer 2008, S. 125.

[6] Richard Rorty: Philosophie als Kulturpolitik, Frankfurt a.M. 2008, S. 19. Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf dieses Werk (vgl. hierzu auch Alexander Gröschner und Mike Sandbothe (Hrsg.): Pragmatismus als Kulturpolitik. Beiträge zum Werk Richard Rortys, Berlin 2011).

[7] Krämer 2008, S. 348.

[8] Ebd., S. 131 u. S. 132.

[9] Ingrid Auer, Gerd Schwank: Wie Engel wirken. Erfolge und Erfahrungen mit den Engelsymbolen, Engelessenzen und Engelölen, Amstetten 2008, S. 140.