Dirk Westerkamp, Kiel

 

Der verklärte Körper

Kleine Ästhetik der Mandorla

 

1.

In der christlichen Ikonologie bezeichnet Mandorla eine ellipsenförmige Gloriole. Anders als beim Nimbus oder Clipeus umhüllt ihr Lichtreif nicht nur das Haupt, sondern das Ganze einer Figur. Ein ebenso eindrucksvolles wie erstaunliches Beispiel dieser ab Mitte des 5. Jahrhunderts aufkommenden Form der Aureole findet sich auf dem Apsismosaik des Katharinenklosters auf dem Sinai (Abb. 1). Schon diese frühe Darstellung gibt zwei entscheidende Hinweise zur Deutung ihrer ästhetischen Funktion. Zum einen zeigt die Mandorla in der dargestellten Transfigurationsszene den verklärten Leib Christi; zum anderen bringt sie in diesem Zeigen die Doppelnatur des Logos als Gott und Mensch, als Licht und Leib zum Ausdruck. Gleich den beiden Brennpunkten einer Ellipse werden in der Mandorla die zwei Naturen Christi angedeutet, deren Einheit die Spannung von Weltzeit und Überzeitlichkeit austrägt.

Es sind durchaus unterschiedliche Formen, in denen die Mandorla zur Darstellung kommt. Sie tritt als sechs- oder achteckige Blitzgestalt, als Rauten- oder Rundform auf, um in verschiedenen Gestalten je eigene ästhetisch-theologische Funktionen zu erfüllen. Ihr ovaler Lichtschein wurde als Doppelnatur von Himmel und Erde, als Schutzhülle, Kosmos oder Thron Christi gedeutet. Kaum zufällig jedoch blieb ihr Einsatz motivisch vor allem an die Darstellung der Verklärung gebunden (Matth. 17,1-12; Mark. 9,2-13; Luk. 9,28-36). In der Transfigurationsszene symbolisiert die Mandorla einen Vorgang des Anderswerdens, des Anders-Erscheinens, und wird zu einem geistigen Energiefeld mit doppelter Wirkung: Nach innen begeistet es den Körper Christi und entzieht das göttliche Wesen unserem Blick; nach außen wirkt es auf die Welt, in die es, symbolisiert durch die Strahlen, das Wort trägt. Auf dem Sinai-Mosaik ist zu sehen, wie ihre Strahlen die Christus auf den Berg Tabor folgenden Jünger Petrus, Johannes und Jakobus geblendet zu Boden werfen. Zugleich berühren die Strahlen auch die Namen der epigraphisch gekennzeichneten Personen und stellen eine diskrete Verbindung von Bild- und Sprachzeichen, von Zeigen und Sagen, [1] von Licht und Namen her, welche auf den selbst namenlosen Grund des göttlichen Lichts verweist.

Zu den Raffinessen des Sinai-Mosaiks gehört, dass es sich dem Betrachter als eine Mandorla in der Mandorla darstellt. Denn in der Aufsicht umrahmt das oval erscheinende horizontale Rund des Sims der Apsis selbst noch einmal das vertikale Oval der Mandorla des Mosaiks (Abb. 1). Bei näherer Betrachtung enthüllt die Darstellung der Lichtaura jedoch etwas Verblüffendes. Sie wird entgegen der Intuition von den Rändern zum Zentrum hin dunkler statt heller. Die Lichtstrahlen dringen nicht aus einem lichten, sondern dunklen Innern in das helle Außen, das sie als Welt erleuchten. Verfolgt man sie nach innen, so verlieren sie sich stufenweise in jenem Dunkel, vor dem die Person Christi steht, um es unserem Blick zu entziehen. In der Detailansicht (Abb. 2) ist zu sehen, wie kunstvoll die Strahlen durch die konzentrischen Schichten der Aura stoßen, indem sie stets aus genau einen Farbton helleren Mosaiksmalten gesetzt sind als die jeweilige Sphärenhülle, die sie durchdringen.

Rätselhafter noch als die Strahlen ist die Darstellung des Innenraums. Denn das von der verklärten Gestalt verdeckte Zentrum der Mandorla bleibt als eigentliche Quelle des Lichts selbst vollkommen dunkel; und noch der Umstand, dass die Mitte dunkel sei, kann nicht gesehen, sondern nur erschlossen werden. Dem entspricht eine zweite Inversion: Im Mosaik wird von der Figur Christi verdeckt, was in der Realität des Verklärungsgeschehens die Figur verdeckt: der Lichtschein der Mandorla. Was es mit dieser auf den ersten Blick »unrealistischen« Darstellung auf sich hat, kann nur aus dem zugrunde liegenden theologischen Bildprogramm erschlossen werden, das auf die paradoxen Sprachformen des zeitgleich im frühen 6. Jahrhundert auftretenden Corpus Dionysiacum zu antworten scheint. [2] Wenige Jahrzehnte vor Vollendung des Sinai-Mosaiks hatte der christliche Neuplatoniker Dionysius Areopagita Erkenntnis lichtmetaphorisch als einen Anstieg beschrieben, der sich in Annäherungen auf den hellsten Punkt zubewegt. Zugleich konnte Dionysius mit der Überlieferung sagen, dass dieser Aufstieg nichts anderes sei als ein Abstieg in das »Dunkel, in welchem Gott ist« (Ex. 20,21).

Offensichtlich scheint die »lichte Wolke« (nephelê phôteinê), von der bei Matth. 17,5 die Rede ist (und die im Anschluss an die Verklärung zu den Jüngern spricht), recht genau auf jene »dunkle Wolke« (hebr.: arafel; gr. LXX: gnophos) in Ex. 20,21 anzuspielen, die im zweiten Buch Mose den wahren Eigennamen, das Tetragrammaton (JHVH), verdeckt. Diesen Riss zwischen Hell und Dunkel, der in den hyperbolisierenden Formulierungen des Dionysius als ein unablässiges Umschlagen zwischen beiden Polen beschrieben wird – »weder Sinneswahrnehmung noch Vorstellung, […] weder Name noch Aussage« (De div. nom. I, 5) –, trägt die Mandorla an sich selbst aus. Sie wird zum Bild des Verhältnisses von Wissen und Unwissen und damit zu einem Medium, welches das menschliche Auge vor dem »überlichthaften« Dunkel und dieses vor den Blicken menschlicher Hybris schützt.

Vielleicht ist die Mandorla das effektvollste Medium der negativ-theologischen Ästhetik spätantik-patristischer Bildprogramme. Dazu bedurfte es allerdings einer Apologie des Bildes, [3] die sich als eine implizite Philosophie der Ikone in der Tat aus Dionysius Areopagitas Schriften gewinnen lässt. Man könnte sagen, dass sich in dieser Ikonologie die Ikonen zu der schlechthin bildlosen göttlichen Güte so verhalten wie die göttlichen Namen (Macht, Weisheit, Licht, Vater, Sohn, Geist) zu dem schlechthin namenlosen Einen. Es ist, als hätte Dionysius Areopagita eine Transfigurationsmandorla vor Augen, wenn er schreibt, es sei notwendig, »Bilder vor das Bildlose und Gestalten vor das Gestaltlose« (De coel. hier. II, 2) zu weben. Ganz offensichtlich umhüllt die Mandorla das Bild Christi vor dem Bild- und Gestaltlosen des göttlichen Dunkels. Nach Dionysius’ Bildtheologie verweisen die Ikonen gerade so auf die eigentliche Unsichtbarkeit des durch sie Vergegenwärtigten wie die Namen auf dessen eigentliche Namenlosigkeit. Für ihn sind die Namen unanschaubare Sprachbilder, die in den unaussprechlichen Zeichen der Übergüte des Einen verstummen.

In einer letzten kühnen Paradoxie lässt Dionysius Areopagita das göttliche Licht in ein »überlichthaftes Dunkel« (hyperphôtos gnophos: De myst. theol. II) kippen. Dieses Oxymoron, das sich in seinen Schriften wiederholt (Ep. 1; 5), zieht die Konsequenz aus einer negativen Methode der Bestimmung der göttlichen Prädikate: Hinter dem Wissen der sprachanalytischen Dekonstruktion der Gottesnamen steckt zuletzt die vollkommene Unwissenheit über den wahren Namen, der sein ganzes Wesen offenbarte. Dieses Nichtwissen repräsentiert die göttliche Finsternis, die im nur scheinbaren Gegensatz zur Rede vom Guten als dem »intelligiblen Licht« steht (phôs noêton ho agathos legetai: De div. nom. IV, 5). Genau dieses Verhältnis von »Wissen und Nichtwissen« (De div. nom. VII, 3) durch die Nachbilder und Namen Gottes wird seit dem 5. Jahrhundert in der mandelförmigen Gloriole um die Person des verklärten Logos reflektiert. Helligkeit, Glanz und Licht fallen – als Überhelligkeit – mit dem Dunkel der Finsternis zusammen. Der Urquell des Lichts selbst ist für unsere beschränkten menschlichen Kapazitäten in das Dunkel der Erkenntnis gehüllt. Der Ursprung aller Sichtbarkeit und allen Wissens ist selbst nicht mehr sichtbar oder erkennbar. Was die Sinai-Mandorla also zu erkennen geben soll, ist die körperliche Präsenz des Logos, der die Welt auf ihren Urgrund durchsichtig macht, dem Erkennen aber zugleich entzogen ist.

 

2.

Feofan Grek hat die Verklärungsszene in eine synthetische Ikone der Zeit gebildet. Offenbar wird dem russischen Ikonenmaler die Mandorla zum Symbol des unendlichen Zeit-Innenraums der Ewigkeit. Der Eigenart präsentisch-flächiger Bildmedialität gemäß muss Grek in seiner Ikone Zeitliches darstellen, um zeigen zu können, was selbst nicht mehr der Zeit unterworfen ist. Synthetische Bilder nennt man bekanntlich Darstellungen, in denen mehrere Zeitphasen in die Simultaneität eines Blicks zusammengeblendet werden. In besonderer Weise fügen sich in Greks synthetischer Ikone Parataxe und Hypotaxe von Zeit zusammen; sie lässt sehen, wie in der Raumkunst des Bildes die verschiedenen Zeitebenen als Verräumlichung dargestellt und die Sukzessivität verschiedener Vorgänge in die Simultaneität eines Bildes gebracht werden müssen: Greks Transfigurationsikone (Abb. 3) zeigt Christus mit den Jüngern Petrus, Johannes und Jakobus nicht nur einmal, sondern dreimal: Zunächst beim Emporsteigen auf den Berg Tabor (links = Vergangenheit), ein zweites Mal, wie die Jünger vom Lichtgewand Christi geblendet zu Boden fallen (Mitte = Gegenwart), ein drittes Mal, wie sie wieder vom Berg herabsteigen (rechts = Zukunft).

Neben dieser kurzen Zeitspanne, die den horizontalen mittleren Raum ausfüllt, zeigt das Bild mit den Propheten Elia und Moses zugleich die Perspektive einer longue durée (als immer noch gegenwärtige Vorvergangenheit). Als Prototypen der Verklärung Christi (und als Beweis für die Traditionslinie zwischen altem und neuem Bund) erscheinen die Propheten auf den nur im Raum des Bildes benachbarten Bergen Horeb (Elia) und Sinai (Moses) – mitsamt den Höhlen, in denen der alttestametarischen Überlieferung zufolge Moses (Ex. 33,21) und Elia (1 Kön. 19,9) ihre Theophanien empfingen. Die erheblichen Zeitsprünge, sowohl der Verknüpfung von Überlieferung (AT – NT) als auch von Handlung (Aufstieg, Verklärung, Abstieg), werden von Grek in die Simultaneität eines Bildanblicks gebracht: horizontal durch das Nebeneinander der Berggipfel und vertikal durch die Schichtung der Zeitmodi Präteritum, Präsens, Futur in der Handlungsverknüpfung der Transfigurationsereignisse (Bergbesteigung), des Plusquamperfekts (Elia, Moses) und eines absolut präsentischen Futurs als Ewigkeit, das gleichsam über den Bildrahmen hinausgeht.

Dass Bilder schweigen, ist eine Trivialität. Doch es ist eine Trivialität, die über den Unterschied von aisthetischer und diskursiver Medialität zu denken gibt. Wort und Bild stehen für zwei grundsätzlich unterschiedene, nicht aufeinander reduzierbare, aber aufeinander verwiesene Medien. Sybille Krämer und Dieter Mersch haben gezeigt, dass aisthetische Medien wie Bild und Ton primär »die Bereitstellung und Erzeugung von Wahrnehmungen (aisthesis) betreffen, sie beziehen sich bevorzugt auf Sehen und Hören, wohingegen es diskursive Medien« – das Wort und die Zahl – »im eigentlichen Sinne mit Struktur- und Bedeutungsprozessen zu tun haben; sie verweisen auf die Bereiche der Sprache, der Syntax, der Ordnungsmaße überhaupt.« [4] Dieter Mersch hat diese Unterscheidung von aisthetischen und diskursiven Medien auf die Differenz zusammengezogen, dass die »Besonderheit des Bildlichen im Zeigen, nicht im Sagen« liegt (Mersch 2002, S. 189). Bildern eignet eine besondere Strategie des »Sichtbarmachens«, das auf einem »Präsentmachen« beruht.

Haben Bilder diesen Vergegenwärtigungscharakter, so müssen sie allerdings jedes »zeitliche Nacheinander in ein räumliches Nebeneinander« verwandeln. Dieses Fehlen zeitlicher Sukzessivität, das

 

»kein Mangel ist, sondern zugleich Chance, zugleich Fähigkeit, kulminiert im Fehlen der Negation. Und indem Bildern die Negation abgeht, fehlt ihnen auch die binäre Strenge der Rationalität. […] Erst Verneinungen konstituieren deshalb auch diskursive Strukturen. Hingegen besitzen Bilder eine prinzipiell affirmative Struktur. Sie offenbaren z.B. ›rot‹, aber nicht ›nicht-grün‹. Zwar lassen sich Widersprüche malen oder abbilden, doch stets wieder so, dass beide Momente des Widerspruchs gleichberechtigt nebeneinander stehen, oder die Form einer Vexierung, eines Aspektwechsels […] einnehmen« (ebd., S. 186).

 

Folgen diskursive Medien einer Logik des Sagens, die auch in unserer Rationalität der Begründung und Rechtfertigung von Aussagen steckt, so eignet aisthetischen Medien eine eigene, »paralogische« Bildlogik.

Dieser Zusammenhang ist für das Verständnis der Transfigurationsmandorla relevant. Denn dem naiven Blick zeigt Greks Bild einen unrealistischen Umstand: die Personen Jesus, Johannes, Petrus und Jakobus sind auf demselben Bild dreimal präsent. Diese vermeintliche Unlogik löst sich auf, wenn die räumliche Simultaneität der vier Personen als zeitliche Sukzessivität verstanden wird. Der Primat des Räumlichen besteht darin, nur im Präsens, als Gegenwart zeigen zu können. Entsprechend müssen – wie in Greks Bild – auch Präteritum, Futur und Ewiges präsentisch dargestellt sein. Zwar können alle Zeitmodi reflektiert werden, aber stets nur auf der gleichen Bildoberfläche. So kann auch Greks Transfigurationsmandorla den überzeitlichen Charakter der Verklärung nicht durch eine diskursive Negation von Zeit darstellen. In der affirmativen Struktur aisthetischer Medialität wird die Zeit stattdessen durch eine Darstellung ihrer Ubiquität negiert. Greks Ikone macht die Mandorla zum Medium eines Zeit-Raums: Die gezackten bzw. linearen Lichtstrahlen symbolisieren nicht eine lineare Verräumlichung von Zeit, sondern die Überzeitlichkeit des Geistes, der den Körper zum Leib verklärt.

Dionysius Areopagita hatte eine ähnliche Überlegung über die Natur aisthetischer Vergegenwärtigung formuliert. Negation kann eine Ikone oder Skulptur nur an dem ausdrücken, was sie fortlässt, auf das sie aber in bestimmter Negation verweist. Daher gleicht die Methode der Verneinung der göttlichen Namen der von Bildhauern, die »das im Stoffe ruhende Standbild aus ihm gestalten durch Beseitigung aller Hindernisse, die der reinen Schau der darin verborgenen [Form] sich entgegenstellen und durch die bloße Beseitigung die verborgene Schönheit an und für sich erscheinen lassen« (De myst. theol. II). Zu Ende gedacht ergibt die Metapher eine so verstörende wie absichtsvolle Pointe. Denn an dem Punkt der Namen- und Bilderlosigkeit entsteht die Schönheit der Gestalt gerade in seiner Nicht-mehr-Sichtbarkeit, dann nämlich, wenn der Marmorblock des Bildhauers vollkommen abgetragen ist und nur noch ein Nichts zum Vorschein bringt.

 

3.

Im Medium der Ikone ist die Mandorla selbst ein Medium, das Unterschiedenes aufeinander bezieht. In einer Illustration, die der Renaissancephilosoph Carolus Bovillus zur Darstellung seiner Theorie der Seinsordnung gewählt hat, wird sie zur weltumspannenden Gloriole, deren Linien die Seinssphären miteinander verbinden (Abb. 4). Gemäß der mittelalterlichen und noch frühneuzeitlichen Ontologie – paradigmatisch in den beiden ersten Kapiteln des anonymen Liber de Causis [5] befindet sich das natürliche Sein in einer gestuften Ordnung, die zugleich eine Wahrheitshierarchie ist. In ihrer Stufenfolge bei Bovillus zu sehen als: Deus, Angelus, Homo, Animal, Planta, Minerale, Materia, Nichil – gilt jeweils die Ursache der nächstfolgenden Seinssphäre für wahrer als das Verursachte. Der Wahrheitsgehalt einer Sache bemisst sich also an ihrem Wirklichkeitsgehalt. Je wirklicher, desto wahrer ist sie, wobei Wirklichkeit gleichbedeutend ist mit Tätigkeit (actus) und Erkenntnisvermögen (virtus intelligendi). Entsprechend unterscheiden sich die Grade an Wirklichkeit durch den Grad an Verwirklichung ihrer inneren Möglichkeiten.

Dieser Lehre zufolge ist das Sein der Materie immer ein Verursachtsein. Dazwischen erscheinen Formen, die verursacht sind, aber auch selbst verursachen, wie es etwa der selbst Menschen zeugende oder Artefakte herstellende Mensch ist. Manche Formen können nicht anders als in Materie sein (formae quae non possunt esse nisi in materia) und entfernen sich dadurch vom ersten Prinzip (sunt distantes a primo principio), welches als die reine Tätigkeit oder Aktualität zugleich absoluter Beweger und Hervorbringer ist. [6] Andere Formen, etwa die »Mediologie« [7] der separaten Substanzen, sind unabhängig von Materie. So erscheint unter der Ebene des Actus purus ein dreifach abgestuftes Seinsgefälle alles Erschaffenen (causata):

 

1) höchste und reine Tätigkeit (actus primus et purus)

2) materieunabhängige Formen (formae non habentes dependentiam ad materiam)

3) materieabhängige Formen (formae habentes dependentiam ad materiam)

4) Materie (materia als reine possibilitas dependentium formarum).

 

Als zugleich vernunftbegabtes und leibliches Wesen repräsentiert der Mensch die Mitte der beiden Mitten, also den Ort zwischen der zweiten und der dritten Seinssphäre: eine Wesenheit, deren Form sowohl unabhängig als auch abhängig von Materie ist. Demgegenüber können die Formen, die der ersten Ursache näher stehen, die Intelligenzen, ohne Materie subsistieren (sine materia subsistentes), weil die Wesenheit ihrer Substanzen (quidditas) nichts anderes als ihre Form selbst ist (forma ipsa).

Es kann kein Zufall sein, dass Bovillus diese Seins- und Weltordnung von einer Mandorla umspannen lässt. Sie zeigt, wie der ordo in seinem Inneren durchdrungen und in seinem Äußeren sphärisch verklammert ist. Sie zeigt auch, dass methodisch die Betrachtung dieser Ordnung in einer absteigenden Linie verfahren muss, um die Ursache dieser Weltordnung selbst von allen materiellen Eigenschaften freizusprechen (theologia negativa), während sie umgekehrt allem Weltlichen und Wirklichen dessen immateriell geistige Verursachung zuspricht (theologia affirmativa). [8] Was die Linien anzeigen, ist trotz aller Suggestivkraft der Darstellung nicht bis ins Letzte klar. So scheinen die linken Ordnungslinien die formale Abkünftigkeit der Sphären aus der obersten anzugeben, während die rechten an ihre materiale Geschöpftheit aus dem Nichts (nichil) erinnern. Verklammert werden Ideales und Reales durch die Sphäre des Schöpfers und des von ihm selbst geschöpften Nichts, in die alle Linien zusammenlaufen.

Zur Darstellung dieser komplexen Verhältnisse bedurfte es allerdings einer Vermittlung der Medien Bild und Wort. Die affirmative aisthetische Medialität des Bildes allein würde nicht ausgereicht haben, um die Bewegung des Absprechens von Prädikaten, um also das Negative als Negatives darstellen zu können. Bovillus’ Ordo-Ikone bedarf des Mediums der Schrift, um als Bild zu gelingen. Damit schöpft seine Mandorla der Seinssphären die Möglichkeiten aisthetischer Medialität aus, um zugleich ihre Grenze zu reflektieren: Sie zeigt im Medium affirmativer Darstellung, was eigentlich nur durch Verneinung abgesprochen werden kann.

 

4.

Wie aber lässt sich Verschwinden bildlich darstellen? Offenbar, indem man Präsenz zur Repräsentation von Abwesendem macht. Diese ästhetische Aufgabe erfüllt die zersprungene Mandorla in Rembrandts Emmaus-Skizze (Abb. 5). Man wird einwenden, dass der flimmernde Lichtschein bei Rembrandt allenfalls ein Zerrbild der in der griechisch-orthodoxen Ikonenkunst üblichen sechs- oder achteckigen Mandorla sein kann. Mandorlaähnlich an ihm bleibt aber, dass es sich um ein Eigenlicht handelt, das ein Ganzes umschließt – nur eben nicht mehr das Ganze einer Person, sondern das ihres Verschwundenseins.

Rembrandt nutzt in seiner Feder- und Pinselzeichnung von 1648/49 verschiedene Mittel, um Eigenlicht, Licht der Gloriole und Tageslicht zu unterscheiden. Sein Bild hat nicht die Transfiguration selbst, sondern eine – wie Rembrandts Zeichnung uns überhaupt erst aufschließt – verwandte Szene zur Grundlage: Luk. 24,30–32. Der wiederauferstandene Jesus tritt auf Drängen zweier Männer aus Emmaus in deren Haus ein: »Und als er mit ihnen bei Tisch war, nahm er das Brot, sprach den Lobpreis, brach das Brot und gab es ihnen. Da gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten ihn. Er aber verschwand vor ihnen.« Rembrandt deutet in der Simultaneität des Bildes, was Worte und Zeichen im biblischen Text nur im Nacheinander (»und«, »da«, »und« etc.) berichten können. [9] Daher illustriert die Zeichnung eigentlich keine erzählte Handlung, sondern setzt den geistigen Vorgang ins Bild: dass den Emmaus-Männern etwas klar wird.

Was aber mit Worten in eine zeitliche Sukzession des Brotbrechens, des Erkennens der Person und ihres Entscheinens gefasst werden muss, erscheint im Bild als ein und derselbe Vorgang, der die drei Momente zu einem dramatischen Moment zusammenzieht: Der Augenblick des Brotbrechens (die Teller auf dem Tisch), der Augenblick der Erkenntnis (in den Gesichtszügen und Gesten der Männer) und der Augenblick des Entscheinens Christi fallen in eins. Daher ist der Auferstandene nur noch in seinem »Weggegangensein« zu ahnen, seine Präsenz bleibt allein als jenes Licht zurück, das in seiner Phänomenalität zwar gesehen, in seiner Realität aber nur im Glauben verstanden werden kann. Das Bild zeigt eine Präsenz, die wir nicht mehr sehen können, oder besser: eine Präsenz, die wir nur noch in ihrer zurückgelassenen Absenz sehen können. Die unglaubhafterweise wiederauferstandene Person Christi entzieht sich der Wahrnehmung und gerade die entzogene Sichtbarkeit und Gewissheit schlägt um in eine glaubhafte Wahrheit. Wahrheit beruht auf dem Entzug von Wahrnehmung. Interpretierend spielt Rembrandt auf Joh. 20,29 an (vgl. Fischer 1996, S. 98): »Selig sind die, die nicht sehen und doch glauben«. Am Ende beleuchtet die Mandorla des Entscheinens doch keinen Erkenntnisvorgang; was die Emmaus-Männer begreifen, ist vielmehr ihr Nichtverstehenkönnen der Realpräsenz des Logos.

Anders jedoch als die Mandorla der Transfigurations-Ikonographie bleibt die blitzartig strahlende Gloriole Rembrandts leer: Sie zitiert Christus nur als absconditus. Dennoch ist es kein Zufall, dass Rembrandt im Unterschied zur ostkirchlichen Ikonenmalerei nicht das göttliche Dunkel zurücklässt, sondern gleißende Helle: Der neuzeitlichen westlichen Bildtradition fehlt die Form radikaler Apophase. Das Licht um die entschwundene Präsenz ist nicht das Licht einer für uns vollkommen dunklen Wesenheit, sondern das Licht eines Geists, der nur scheinbar ein absconditus ist, in Wahrheit aber zum Urbild des neuzeitlichen Ego cogito wird. Rembrandts zum Blitz eines »Plötzlich« verzerrte Mandorla erfüllt aber durchaus noch die Funktion eines Eigenlichts, wie es für das ostkirchliche Bildverständnis zentral ist (vgl. ebd., S. 84f.). Denn seine Zeichnung wird nicht aus einer fremden oder äußeren Lichtquelle angestrahlt, sondern erhält ihr Licht allein aus dem Entscheinen der Person Christi und der leeren Mandorla, die es zurücklässt. Rembrandt setzt ins Bild, wie sich der göttliche Logos erst im Erscheinen und Verschwinden seiner menschlichen Gestalt zeigt.

 

5.

Indem die Mandorla einen Innenraum eröffnet, grenzt sie zugleich ein Außen ab. Darstellungstechnisch lässt dies die Möglichkeit der Verschachtelung verschiedener Mandorla-Ebenen zu, die das Verhältnis von Hervorbringen und Verschwinden reflektieren. Dass nach ostkirchlicher Ästhetik nicht das Licht unseres Auges die Ikonen zentralperspektivisch erhellt (eine europäisch-neuzeitliche Vorstellung), sondern vielmehr aus den Ikonen das göttliche Licht auf uns strahlt, zeigte schon die zum Auge geformte Rundmandorla der Verklärungsikone Feofan Greks (vgl. oben Abb. 3): Nicht wir betrachten die Ikone, sie blickt auf uns. Diesen Umstand zeigt die Transfigurationsdarstellung einer berühmten Novgoroder Ikone des 15. Jahrhunderts eindrucksvoll in einer zur Pupille zusammengezogenen Mandorla, deren dunklen Urgrund der zum Leib verklärte Körper Christi verdeckt (Abb. 6). Deutlicher als bei Grek wird in dieser Ikone das Haupt selbst noch einmal von einem Clipeus umhüllt, doch entbehrt sie jener kunstvollen Verschränkung der Zeitebenen, die Greks Bild zu einer synthetischen Ikone der Zeit werden ließ.

Dieses Ineinander von Zeit- und Überzeitlichkeit bringt das Frontispiz von De nihilo (1510) in die Pupillenform einer Rundmandorla (Abb. 7). Bovillus’ Illustration ist eine Ikone der Produktivität des Logos. Sie zeigt das göttliche Wort personifiziert im sog. »Alten der Tage«, ein Typus, der in der Trinitätsdarstellung Christus als Gott-Vater darstellt [10] und darin wiederum mit der Präsenz (Christus) von Absenz (Gott) spielt. Als performativer Sprechakt, d.h. als Wort, das zugleich Sprache und Handlung ist, dringt der Logos durch die Mandorlasphäre eines schwarzen Nichts, um in diesem Nichts erst einen Raum und in diesem dann die Welt zu emanieren. Dieser Einfluss erfolgt nicht durch Strahlen, die das Nichts durchdringen, sondern durch eine Art Sprachrohr, das dem Nichts die Welt injiziert. Das Weiß des rechteckigen Foliantenblatts umrahmt das schwarze Mandorla-Nichts abermals mit einer weißen Fläche, auf welcher der personifizierte, mit Clipeus versehene Logos die schwarze Umhüllung der geschaffenen Welt in den Händen hält.

Bovillus’ Schrift, die im Titel das Nichts zitiert, ist in Wahrheit keine Theorie des Nichtseins, sondern der Produktivität. Das Frontispiz illustriert den Vorgang der Poiesis effektvoll als ein Heraustreten aus dem Nichts durch den Logos: Kraft seines performativen Sprechakts erhält das Nichts zunächst einen Raum im absoluten Sein selbst (symbolisiert durch das weiße Foliantenblatt). In diesen Raum der Identität setzt der Logos Differenzen, d.h. eine Welt von Seiendem. Doch auch vor der Erschaffung von Welt war der göttliche Logos nicht untätig. Vielmehr erschuf er, in sich selbst, jenes Nichts, aus welchem sein Anderes allererst hervorgehen konnte. Indem nun der Begriff des Nichts einmal als Substantiv (nichilum), ein anderes Mal als Indefinitpronomen (nichil; nil) gebraucht wird, kann Bovillus spitzfindig unterscheiden zwischen dem Nicht-Schaffen und dem das Nichts Erschaffen. [11] Denn der Satz Deus creavit nihil verbirgt den impliziten Unterschied der beiden möglichen Deutungen, weil der fehlende Artikelgebrauch im Lateinischen hier eine Differenz verschleift, um die doppelte apophatische Geste von Offenbarung und Verbergung auch sprachlich zu imitieren.

Die Doppelmandorla des Frontispiz ist nicht nur Ausdruck des Spiels von Offenbarung und Verbergung, sondern auch der Kontraktion von Produktion und Nichts-Produktion, die diese Form der Poiesis kennzeichnet, welche »von seiner Substanz das Nichts hervorbringt« (De nihilo IV, 1). »Creatio de nihilo« meint deshalb nicht ein Hervorbringen aus Nichts, sondern vom Nichts, aber aus der absoluten Substanz, die zuvor in sich dem Nichts Raum gegeben hat. Diese Produktion hat – wie das Bild zeigt – die Gestalt eines performativen Akts von Verneinung und Verdrängung. Die göttliche Substanz schafft das All, indem sie das Nichts zusammendrängt, d.h. in einem sprachlichen Akt negiert. Diese Selbstverschränkung oder Kontraktion geschieht als ein Zur-Sprache-Kommen des Sprachlosen. Auf dem Frontispiz kommt dies als Licht zum Vorschein, das sich aus dem im unerkennbaren göttlichen Grund geschaffenen Nihilum gebiert. Bovillus’ Logos-Mandorla ist der schwarze Schein dieses Nichts, das sich um den lichten Punkt legt, der für den Renaissance-Denker die Welt ist.

 

6.

Kasimir Malewitsch hat sein erstmals 1915 ausgestelltes »Schwarzes Quadrat auf weißem Grund« (Abb. 8) eine »Ikone« [12] genannt. Es ist aus einer langen Reihe von Skizzen und Bühnenbildentwürfen für das futuristische Stück Sieg über die Sonne (1913) hervorgegangen. Doch fast scheint es, als hätte Malewitsch in dem wohl prägnantesten Bild des modernen Suprematismus jenes von Bovillus neuzeitlich gedachte Nichts zum schwarzen Innenraum einer quadrierten Mandorla invertiert. Bovillus’ schwarzer Kreis, der das Nichts symbolisierte, wird umgestülpt und bei Malewitsch zu einem schwarzen Viereck aus Nichts, welches das Weiß der Schöpfung als viereckige Gloriole zum Rahmen eines leeren Bilds macht. Im »Schwarzen Quadrat auf weißem Grund« verstellt uns das dunkle Quadrat, wie in den Transfigurationsikonen, wieder den Blick auf ein weißes, »überwesentliches« Licht. Der dunkle elliptische Mandorlagrund wird so sehr zur Vierung des Nichts totalisiert, dass alles, was außerhalb ist und von Malewitschs Bild nicht mehr dargestellt werden kann, per se heller als dieses Quadrat erscheinen muss.

Diesen Schritt der Tilgung aller Farb- und Formsemantik in die reine Syntax der Möglichkeit des Erscheinens-von … hat die klassische Moderne offenbar nicht nur aus der immanenten Logik ihrer Entwicklung der Defiguration und Ungegenständlichkeit über Manet, Monet, Cézanne, Picasso und Mondrian gewonnen, sondern auch aus der mystischen Theologie der Ikone. Hintersinnig hat Kasimir Malewitsch sein »Schwarzes Quadrat« (1913/15) in die Ikonentradition gereiht und es zugleich durch seine Ungegenständlichkeit aus ihr herausgerissen. So wird es zum »letzte[n] Bild der Kunstgeschichte«, [13] zu einer letzten Ikone. Indem sie sich ans Ende der Tradition ostkirchlicher Ikonenmalerei stellt, löst sie diese zugleich auf: Malewitsch lässt die orthodoxe Ikonentradition wieder in ihren eigenen Ikonoklasmus umschlagen; aber so, dass das Schwarze Quadrat diese gesamte Bildtradition paradoxerweise dadurch aufhebt, dass sie ihr ursprüngliches Motiv wieder ernst nimmt und ihm die ihr einzig gemäße Gestalt, nämlich die eines erneuerten Bilderverbots zurückgibt: Die Undarstellbarkeit der göttlichen Wesenheit kann nur als das absolut Ungegenständliche dargestellt werden. »Gott der Geistige und Gott der Gegenständliche«, sagt Malewitsch, »werden aufgehen in der Einheit der Ungegenständlichkeit«. [14]

Viel spricht dafür, dass Malewitsch mit der Quadratur des ikonischen Nichts nicht nur die ostkirchliche Bildtradition, sondern auch die Grenzen aisthetischer Medialität, ihre Form affirmativer Darstellung, zu überschreiten gesucht hat. Gegenständliche aisthetische Medialität lässt ja eine nur diskursiv darstellbare Verneinung nicht zu. Dazu müsste die Malerei in Richtung auf eine Indexikalität oder Schriftlichkeit überschritten werden, mit deren Arbitrarität auch jede Gegenständlichkeit dahin ist. Dass diese Verabschiedung der natürlichen Formen die Malerei dem diskursiven Medium des Texts annähert, nötigt offenbar zu einem tiefgreifenden Wechsel der Arbeitsweise: »Es scheint, als könne man mit dem Pinsel nicht erreichen, was mit der Feder möglich ist«. [15] Das Schwarze Quadrat ist für Malewitsch Ausdruck einer »reinen« Malerei, die sich von natürlichen Formen, von Subjekt und Objekt lossagt. In dieser Bewegung erreicht der Suprematismus, wie er 1916 schreibt, die »Nullstelle der Form«, um aus dem »Nichts zur Schöpfung« zu kommen. [16] Der angemessene Ausdruck dieser Konvergenz von aisthetischer Medialität und Diskursivität scheint die Null (0), die ja selbst an die Form einer Mandorla gemahnt, aber als Zahl nicht mehr Bild, sondern arbiträres Zeichen ist. Kaum zufällig hieß die Ausstellung in Sankt Petersburg, die das Schwarze Quadrat erstmals zeigte, »0,10«. Denn die Nullstelle, diese Ikone der Un-Gegenständlichkeit, ist der Zusammenfall von Bild und Schrift, von aisthetischer und diskursiver Medialität und zugleich positive Darstellung des Unendlichen, indem sie den Wendepunkt einer unendlichen Zahlenreihe …,6,5,4,3,2,1,0,1,2,3,4,5,6,… zeigt (ein Verhältnis, das sich bei Dionysius Areopagita als die negative Bewegung der Tilgung aller göttlichen Prädikate darstellte, die sich mit der affirmativen Bewegung der Nennung aller Gottesnamen in dem Nullpunkt eines unnennbaren Eigennamens trifft.)

Alle Gegenständlichkeit, die bei Bovillus noch aus dem göttlichen Logos in die Welt emanierte, ist nun getilgt, defiguriert und auf die formalen, ungegenständlichen Möglichkeiten der Darstellung von … überhaupt reduziert: Form und Hell-dunkel-Kontrast. Mit anderen Worten: Bei Malewitsch ist aus der Mandorla der Transfigurationsikone eine Defigurationsikone geworden.

 

7.

An dieser höchst selektiven Typologie lässt sich möglicherweise ein übergreifender Aspekt festhalten: Die Mandorla ist ein Medium im Medium. Sie ist der Schein, der zwischen Geist und Leib, Idealem und Realem, Ungegenständlichkeit und Gegenständlichkeit vermittelt. Im Bild übersetzt die Mandorla die Doppelnatur des Logos in ein mediales Kraftfeld, das (1) die Präsenz eines selbst nicht präsenten Ursprungs zeigt, (2) das Verhältnis von Bild, Zeitlichem und Überzeitlichem darstellt, (3) die Sphären der Weltordnung miteinander verschränkt, (4) dem Verschwinden von Gegenwart Ausdruck verleiht, (5) zum pupillenartigen Anblick der die Ikone Anblickenden und schließlich, (6) zur Rundaura oder quadratischen Gloriole des Nichts wird.

Was das Medium der Mandorla zeigt, ist nicht ein Nichtwahrnehmbares, »sondern die Nichtwahrnehmbarkeit von etwas, das gleichwohl in der Präsenz dieser seiner Nichtanwesenheit wirksam wird« (Krämer 2008, S. 138). Im Anschluss an die von Sybille Krämer erforschte Mediologie metaphysischer Übertragungs- und Überbringungsverhältnisse lässt sich von der Darstellung der Mandorla vielleicht sagen, dass sie zugleich einen Wunsch und eine Ahnung über das Medium selbst auszusprechen scheint. Es ist der Wunsch, dass Vermittlung zur Klarheit führe, dass das Medium seine Botschaft nicht selbst verändere, sondern ihr zur scheinlosen Durchsichtigkeit von Übermittlung verhelfe.

Während uns in der medialen Moderne [17] zunehmend die verändernde Formierung des Vermittelten durch das Vermittelnde selbst bewusst zu werden beginnt, scheint die Transfigurationsmandorla noch ein Urbild körperloser, medialer Durchsichtigkeit zu sein. Das ist aber nur oberflächlich der Fall. Denn bereits ihre frühchristliche Darstellung zeugt von einer Ahnung: Dass auch die Mandorla nichts anderes als jene Halbdurchsichtigkeit von Vermittlung zeigt, die den Logos offenbart, aber die Wesenheit seines Urhebers zugleich verbirgt. Das lässt darauf schließen, dass es ihrer Darstellung nie um sein Anwesendmachen, sondern um die Form der Vermittlung seines Logos ging. Die frühchristlich-neuplatonische Symboltheorie der »unähnlichen Ähnlichkeiten« (De coel. hier. II, 4) hatte dies in eine negative Hermeneutik des Wissens gefasst: Wir verstehen nur das Halbverständliche, sehen nur durch das Halbdurchsichtige eines sowohl uns als auch den Urgrund selbst schützenden Mediums. Die Ikonen zeigen, wie das Wort eine ihm andere, körperliche Gestalt annehmen und materiell werden muss, um durchsichtig und verständlich werden zu können. In der Transfigurationsmandorla wird der verklärte Körper zur verkörperten Klarheit.

 

 

Ich danke Frau Heike K. Behnke und Herrn Johann N. Schmidt für zahlreiche Hinweise und die kritische Durchsicht des Textes.

 

 

 



 

 

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Bildlegende

Abb. 1: Verklärung Christi, Apsismosaik, Katharinenkloster, Sinai, um 560 n.Chr.

Abb. 2: Detail von Abb. 1.

Abb. 3: Feofan Grec, Verklärung Christi (um 1403), Tretjakov Galerie, Moskau.

Abb. 4: Carolus Bovillus, Illustration aus De nichilo (1510).

Abb. 5: Rembrandt, Emmaus (um 1648/49), Fitzwilliam Museum, London.

Abb. 6: Verklärung Christi, Novgorod, 15. Jahrhundert.

Abb. 7: Carolus Bovillus, De nichilo (1510), Frontispiz.

Abb. 8: Kasimir Malewitsch, Das schwarze Quadrat (um 1915).

 

Endnoten

[1] Vgl. Sybille Krämer: »Sagen und Zeigen. Sechs Perspektiven, in denen das Diskursive und das Ikonische in der Sprache konvergieren«, in: Zeitschrift für Germanistik (Neue Folge) 3 (2003), S. 509–519.

[2] Dionysius Areopagita: Corpus Dionysiacum, 2 Bde., (Patristische Texte und Studien, Bde. 32 u. 36), hrsg. v. B.R. Suchla, G. Heil, A.M. Ritter, Berlin, New York 1988-1991. Die Schriften des Corpus werden im Text mit den folgenden Siglen zitiert: De div. nom. = De divinis nominibus; De myst. theol. = De mystica theologia; De coel. hier. = De coelesti hierarchia; De eccl. hier. = De ecclesiastica hierarchia; Ep. = Epistulae.

[3] Vgl. Moshe Barasch: Icon. Studies in the History of an Idea, New York, London 1992.

[4] Dieter Mersch: Kunst und Medium. Zwei Vorlesungen, Kiel 2002, S. 169, fortan zit. als Mersch 2002.

[5] »Le Liber de causis – édition établie à l’aide de 90 manuscrits avec introduction et notes«, hrsg. v. A. Pattin, in: Tijdschrift voor Filosopfie 28 (1966), S. 90–203.

[6] Vgl. Thomas von Aquin: De ente et essentia, in: Opera omnia (ed. Leonina), Bd. XLIII, Rom 1976, IV.

[7] Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a.M. 2008, S. 122-136, fortan zit. als Krämer 2008.

[8] Vgl. Dirk Westerkamp: Via negativa. Sprache und Methode der negativen Theologie, München 2006.

[9] Vgl. Helmut Fischer: Die Welt der Ikonen. Das religiöse Bild in der Ostkirche, Frankfurt a.M. 1996, S. 96–99, fortan zit. als Fischer 1996.

[10] Vgl. Karl Christian Felmy: Das Buch der Christus-Ikonen, Freiburg u.a. 2004, S. 63–67.

[11] Vgl. Carolus Bovillus: De nihilo, in: Liber de sapientia [u.a.], Paris 1510, Nachdr. Frankfurt a.M. 1970 [recte: 1973], III, 3, fortan zit. als De nihilo.

[12] Kazimir Malewitsch: Essays on Art 1915–1928, hrsg. v. T. Andersen, Copenhagen 1968, S. 45, fortan zit. als Malewitsch 1968.

[13] Aage A. Hansen-Löve: »Der Suprematismus oder die Quadratur des Nichts«, in: Das schwarze Quadrat. Hommage an Malewitsch, Katalog Hamburger Kunsthalle, Hamburg 2007, S. 192–200, hier S. 197.

[14] Kazimir Malevič: Suprematismus – die gegenstandslose Welt, Köln 1962, S. 240.

[15] Malewitsch 1968, S. 127.

[16] Malewitsch 1968, S. 37.

[17] Vgl. Claus-Artur Scheier: Ästhetik der Simulation. Formen des Produktionsdenkens im 19. Jahrhundert, Hamburg 2000.