Gottfried Boehm, Basel

 

Nichts als Dies

Etude über Form und Prägnanz

 

Die Farbe zeigt sich

»Hast Du je den Namen Ramakrishna gehört? Es ist ganz gleich […]. Ich weiß manches aus seinem Leben, aber nichts, was mir näher ginge als die kurze Erzählung darüber, wie seine Erleuchtung, oder seine Erweckung vor sich ging, kurz, das Erlebnis, das ihn aus den Menschen aussonderte. […] Es war nichts als dies: Er ging über Land, zwischen Feldern hin, ein Knabe von sechzehn Jahren und hob den Blick gegen den Himmel und sah einen Zug weißer Reiher in großer Höhe quer über den Himmel gehen: und nichts als dies, nichts als das Weiß der lebendigen Flügelschlagenden unter dem blauen Himmel, nichts als diese zwei Farben gegeneinander, dies ewig Unnennbare drang in diesem Augenblick in seine Seele und löste, was verbunden war, und verband, was gelöst war, dass er zusammenfiel wie tot, und als er wieder aufstand, war er nicht mehr derselbe, der hingestürzt war.« [1]

 

Hugo von Hofmannsthal, der diese Geschichte einer eminenten Umkehr in seinen Briefen des Zurückgekehrten erzählt, gab ihr mit der viermal wiederholten Wendung »nichts als dies…« einen auffälligen Nachdruck. Tatsächlich ist es fast nichts, das den Knaben, der durchs Feld geht, niederstürzen lässt: ein Zug von weißen Reihern in großer Höhe. Etwas Sichtbares, das verschwindet, indem es sich auf überwältigende Weise zeigt. Ein »presque rien« löst jene Lebenskrise aus, die ihn zum Weisen und Heiligen machen wird. Die wenige Zeilen umfassende Begebenheit, die der Dichter dem Buch eines englischen Missionars entnommen und entscheidend umgeformt hatte, [2] lässt sich der Reihe bedeutsamer Erweckungsgeschichten zuordnen, die sich mit großen Anfängen und ihren Protagonisten immer wieder verbunden haben. Aber anders als es zum Beispiel Saulus vor Damaskus erging, der seinerseits niedergeworfen wurde, vernimmt der »Ausgesonderte« keine Stimme und er hört kein Wort. [3] Was aber »spricht« ohne etwas zu sagen, sind »diese zwei Farben gegeneinander«, das Weiß gegen das Blau des Himmels. Diese abgründige Lautlosigkeit, auf deren Vorderseite die Plastizität des Sichtbaren umso wirksamer hervortritt, wird als das »ewig Unnennbare« umschrieben, das »hier fast sich zu nennen schien«, wie Hofmannsthal in begleitenden Notizen festhält. [4] Ein Nennen ohne Was, der Topik des »Je ne sais quoi« verbunden.

Die Briefe des Zurückgekehrten von 1907 spiegeln Hofmannsthals »Sprachskepsis«, deren berühmtestes Manifest ein paar Jahre zuvor »Ein Brief« von 1902 gewesen war, der als »Brief des Lord Chandos« berühmt wurde. Der Zerfall der Nennkraft der Sprache begünstigt das exemplarisch Unnennbare: die Macht der Farbe, die Welt des Sichtbaren und des Auges, die aber aufgerufen werden, um den dichterischen Ausdruck zu erneuern. Die Geschichte der Erweckung hat deshalb auch nichts mit einer religiösen, dagegen sehr viel mit einer poetologischen Umkehr zu tun. Sie steht im Kontext einer Neubestimmung der künstlerischen Form, die mit dem Nachweis einsetzt, dass sich sinnliche Empirien nicht auf Sprachliches, insbesondere nicht auf die Logik des Satzes reduzieren lassen. Dieser Nachweis verdient unser Interesse, insbesondere auch in bildtheoretischer Perspektive. Auf diesen programmatischen Aspekt der fiktiven Briefe verweist im Übrigen auch, dass Hugo von Hofmannsthal zwei von ihnen (IV und V) – jene, von denen hier die Rede ist – unter den Titeln »Das Erlebnis des Sehens« und »Die Farben« mehrfach separat gedruckt hat. [5]

»Sagte ich nicht, die Farben der Dinge haben zu seltsamen Stunden eine Gewalt über mich?« [6] Von dieser hermetischen Gewalt, die ein Phänomen am Himmel mit einem verbindet, der auf dem Boden dahingeht, beide ganz plötzlich kurzschließt, wird nun die Rede sein. Welche, womöglich bildartige, Organisationsweise der Farben, welche Formgestalt gibt der inhärenten Bewegung jenen Nachdruck, der sich auf so unwiderstehliche Weise übertragen hat? Hofmannsthals Formulierung von den »lebendigen Flügelschlagenden« beschreibt ein ephemeres Geschehen, das freilich im Moment seines Aufscheinens, im Augenblick seines Gesehenwerdens, eine höchste Präsenz gewinnt. Man könnte von einem Artefakt der Natur auch deshalb sprechen, weil das Bild des Reiherzuges dazu dient, die künstlerische Form, das Artefakt der Kunst, anders zu formulieren und zu verstehen.

Dieser Transfer gewinnt eine weitere Dimension, wenn man Hofmannsthals Beschreibung des Vogelzugs so wörtlich nimmt, wie das neuerdings jene Diskurse getan haben, die sich mit dem Schwarm und seiner Übertragbarkeit auf kulturelle, politische oder ökonomische Bereiche beschäftigen. Sind »Züge« auch »Schwärme«? Und was wäre daraus zu lernen? Zugleich manifestiert sich in den »lebendigen Flügelschlagenden« nicht nur eine quantitative Fortbewegung in der Zeit, die von A nach B führt, sondern auch eine qualitative Bewegung im Augenblick, die imstande ist, sich auf den Knaben zu übertragen, die Motion in ein Movens, in eine Emotion zu verwandeln. [7] Die damit verbundene Kommunikation wollen wir ins Auge fassen. Ganz offensichtlich hat sie nicht den Zweck ein Wissen mitzuteilen. Sie ist, wie gesagt, ohne Was: Nichts als dies. Auch dient sie nicht dazu, Bedeutungsgehalte zu symbolisieren. Diese Mitteilung gehört zu einer dritten, einer prägnanten Art – so unsere These. Das exemplarische Ereignis, von dem Hofmannsthal spricht, vermittelt sich durch Übertragung, es ist nur so überhaupt identifizierbar. Ein Unnennbares, das diskursiv nicht zu bezeichnen ist, sich aber zugleich als höchst prägnant erweist. So wie es war, genau so musste es sein. Mit Prägnanz kommt ein besonderer Modus der Implikation und der Verkörperung von Sinn ins Spiel, ein Modus, den die Form beglaubigt.

Doch versichern wir uns zuvor noch eines Aspektes der Briefe, der für unseren Kontext von Bedeutung ist, nämlich der engen Verknüpfung des Naturbildes mit dem Kunstbild, der Farbe, organisiert durch Licht, Wind, Wetter oder Lebewesen, und der Farbe als malerisches Pigment. Der Ramakrishna-Episode gehen Zeilen voraus, die den eigentlichen Gewährsmann der Farbe ins Spiel bringen, den großen Unbekannten, mit Namen Vincent van Gogh. Um die Jahrhundertwende verkörperte er jenes Beben, das die kulturellen und künstlerischen Fundamente des Westens umgestürzt hatte, und andererseits erschien er als einer, der es vermocht hatte, die magmatischen Naturkräfte an Farbe und Struktur zu binden, sie mittels Bildern zu formen und zu kultivieren. Dabei blickte er auch nach Osten, über die Grenzen eines sich als ermüdet erfahrenden europäischen Kulturkreises, insbesondere nach Japan. Darin folgt ihm auch der Schreiber dieser Briefe. Hofmannsthal war schon zuvor durch Vermittlung Julius Meier-Graefes mit dem Oeuvre van Goghs bekannt geworden, und als er sich im Sommer des Jahres 1907 daran machte, die Briefe aufzuschreiben, vertiefte er sich in dessen Studie über den »Impressionismus«, [8] in der van Gogh eine maßgebliche Rolle spielt. Meier-Graefe schlägt einen Ton an, in dem sehr deutlich die damalige Virulenz dieser Malerei und ihres Autors zu vernehmen ist. Von einem »Paroxysmus der Naturauffassung« [9] ist die Rede und durchgehend von der untergründigen Energie der Farbe, die der Kunsthistoriker mittels Schwärmen von Metaphern zu umschreiben sucht. Es ist jedenfalls eine Auffassung der Natur, die sie als eine energetische Größe versteht und nicht als jene stabile Kulisse, in der sich ruhiggestellte Objekte dem Blick darbieten. Diese dynamische Natur des Bildkonzepts von van Gogh ist auch heute unbestritten – da sie nicht mehr die europäischen Eliten, sondern die Massen weltweit fasziniert.

Das viermal wiederholte »nichts als dies…« betrifft das stumme Gegeneinander der Farben und seine Wirkung gleichermaßen. Es vollzieht eine Wahrnehmung, die sich ihrer Erfahrung vergewissert, ohne sie bezeichnen zu können. Worum es geht, das zeigt sich, und in der repetitiven sprachlichen Formel klingt das Erstaunen mit, dass es jenseits der Sprache überhaupt einen Sinn zu erfahren gibt. Hofmannsthal sichert ihn ab, indem er einen aufgeklärten Einwand vorwegnimmt. Er findet sich der Sache nach im Übrigen schon in der herangezogenen Quelle. [10] In den Briefen liest er sich so: »Ein heftiger optischer Eindruck ohne allen höheren Inhalt […] Sie sehen, es handelt sich um ein anormales Nervensystem.« [11] Die Gleichung, welche der Text zwischen dem Gegeneinander der Farben und dem Erfahrungshaushalt des Knaben eröffnet, lässt sich auf dem Wege der Kürzung eines der Koeffizienten, desjenigen der Wirksamkeit, gewiss nicht lösen.

 

Der Zug der Reiher, oder: Bewegung und Form

Mit wenigen Sätzen skizziert der Text komplexe Sachverhalte, die es aufzuspüren lohnt. Dazu gehört zunächst, dass mit dem Gegeneinander von Weiß und Blau nicht nur zwei Farben benannt sind, sondern auch eine bewegte Form. Die Reiher fliegen bekanntlich nicht irgendwie, sondern von Natur aus in Zügen organisiert. Mit ihrem Weiß ist nicht nur eine Farbe benannt, sondern eben auch eine Figuration, die in der Wechselwirkung des Kontrastes zur Geltung kommt. Was seiner faktischen Bestimmung nach geschichtet erscheint, stößt sich voneinander ab, setzt eine Bewegung in Gang: die Dynamik der »lebendigen Flügelschlagenden« zwischen Blau und Weiß. Das bewegte Bild verschränkt, wie gesagt, auch zwei ganz unterschiedliche Zeitmomente: das ephemere Vorüberstreichen, das Dahinrauschen der Vögel mit der Präsenz eines starken Augenblicks. Aber was bedeutet es für das Verständnis der Form, wenn sie dermaßen temporalisiert wird?

Erste Hinweise lassen sich den Forschungen entnehmen, die sich mit der Schwarmbildung von Lebewesen, von Insekten, Fischen und nicht zuletzt von Vögeln befasst haben, oft in der Absicht, daraus Erkenntnisse zu gewinnen, die auch jenseits der Sphäre der Biologie zutreffen. [12] Insbesondere die digitale Rechenbarkeit hat dazu geführt, das Verhalten von Lebewesen als Modell ganz unterschiedlicher Bereiche, z.B. der politischen Organisation, des Finanzmarktes oder auch des Militärs zu applizieren. Als besonders attraktiv erwies sich der Freiheitsgrad, der im Strukturmodell des Schwarms wirksam wird. Hier schließt auch der Text Hofmannsthals an, wenn er das lebendige Kollektiv der Reiher als eine starke Konfiguration beschreibt.

Die biologischen Modelle des Schwarms nehmen im Übrigen eine Tradition auf und setzen sie fort, die schon Goethe begründet hatte, als er wohl als erster die Metamorphose und Morphologie organischen Lebens und deren Gesetze mit Prozessen der ästhetischen Formung und Gestaltfindung in Verbindung brachte und damit Beziehungen zwischen Wachstum und Form eröffnete. [13]

Aber ist es überhaupt sinnvoll und möglich, Vogelzüge als Schwärme zu beschreiben? – Nur dann, wenn man signifikante Differenzen festhält. Der Zug der Reiher, beispielsweise, ähnelt dem unkontrollierbaren Gewimmel, etwa von Starenschwärmen, keineswegs. Die Konfiguration des Zugs erscheint luzide, einer freien geometrischen Form angenähert, in unserem Fall einem sphärischen Pfeil, dessen Spitze sich in Bewegungsrichtung erstreckt. Die Formation hält sich durch, auch und gerade dann, wenn sie von der Umgebung affiziert wird, flexibel auf sie reagiert. Die Gesamtheit des Zuges lässt aber jene Polyzentrik vermissen, welche es Schwärmen erlaubt, zum Beispiel plötzliche Wendungen zu vollziehen, die Flugrichtung abrupt zu wechseln, sogar gegensätzliche Bewegungsimpulse simultan miteinander zu koordinieren. Dennoch: In beiden Fällen handelt es sich um »Kollektive ohne Zentrum«, [14] deren Struktur aus biologischen Optimierungsinteressen resultiert. Der Vergleich mit einem Zug von Soldaten würde schon deshalb in die Irre führen, weil da ein Erster ausgezeichnet ist, einer, der das Sagen hat. Im Falle des Reiherzuges wirken zwei Faktoren auf die Herausbildung der Formation ein. Zum einen nutzt jeder Vogel möglichst den Auftrieb, der durch den Flügelschlag des Vorausfliegenden erzeugt wird – woraus sich die Struktur des Nacheinanders ergibt. Zum anderen nimmt jeder eine Position ein, die es ihm gestattet, ungehindert in Flugrichtung zu blicken, nicht lediglich blind zu folgen, sondern sich jederzeit selbst zu orientieren – was zur räumlichen Staffelung, zur sphärischen Pfeilform führt. [15]

Die bewegte Form setzt sich nicht aus Haupt und Gliedern zusammen, vielmehr sind alle Agenten gleichermaßen und gleichzeitig: steuernd und gesteuert. Damit ist ein ästhetisches Formdenken verabschiedet, welches seit der Antike die westliche Kultur dominiert hatte. Es folgte einer Orientierung an der Maßhaltigkeit des menschlichen Körpers, dessen Gliederung hierarchisch und vielfältig übertragen worden ist, zum Beispiel auf die Ordnung des Bildes. Und es folgte dem ontologischen Modell des Hylemorphismus, das mit einer Verschränkung der ideenhaften Form mit der dumpfen Materie operiert. Beide Aspekte verbinden sich im Bestreben, die Form in Dauer und Halt zu vollenden, ihren Zeitgehalt zu sublimieren.

Die Struktur des Vogelzugs ist davon weit entfernt. Ihre Temporalität und ihre Freiheitsgrade beruhen auf einer Organisationsform, welche subtile Differenzen zur Geltung bringt, deren Gegen- und Miteinander nicht nur die beiden Farben betrifft. Ihre Macht entspricht keineswegs nur koloristischen Valeurs, sondern einer Form, die sie allererst zur Wirkung bringt. Das dominante Himmelsblau reicht soweit, wie das Auge zu blicken vermag: von Horizont zu Horizont. Ein Kontinuum, dem die Farbe nirgendwo anhaftet, wie wir es sonst gewohnt sind, zum Beispiel auf der Oberfläche der Dinge oder der Leinwand. Die Tagesbläue ist von anderer Beschaffenheit, sie erscheint gleichermassen immateriell wie unverrückbar. Der Blick taucht ein, ohne je durchzudringen. Ihre Tiefe oder Höhe entzieht sich der wahrnehmenden Messbarkeit, obwohl die Rede vom »Himmelsgewölbe« anderes nahelegt. Das Blau des Himmels ist eine Erscheinung des Lichtes und doch nicht mit Begriffsoppositionen wie Transparenz versus Opazität zu erfassen. Vor diesem abgründigen Grund figuriert das ganz anders geartete Weiß der Reiher. Es figuriert: bringt die Distinktion sich wiederholender Körperformen ins Spiel, die sich im blauen Kontinuum bewegen.

Entscheidend für die starke Wirkung der Konfiguration ist freilich, dass sich in ihr die ephemere Fortbewegung in ein augenblickliches Zugleich verwandelt. Mit erheblichen Folgen: Denn der Blick geht aus der Orientierung an einem zeitlichen Nacheinander in die einer simultanen Gleichzeitigkeit über. Es ist diese konfliktuöse Verschränkung unterschiedlicher Zeiten, die durch die spezifische Form des Zuges organisiert wird. Auf ihn bezieht sich Hofmannsthals »nichts als dies…«, die Exposition einer Unnennbarkeit, die im Vagen nicht diffundiert, ihre starke Kraft vielmehr aus dem Vor-Augen-Stellen, aus der Deixis zieht. Seine Sprachskepsis kräftigt das Zeigen gegenüber dem Sagen, möchte die offene Gleichung zwischen Sehen und Nennen zu einer neuen Lösung führen.

Für diese ist nicht nur das Gegeneinander der Farben, sondern auch die Position des Blickenden charakteristisch. Der Knabe, so heißt es, hob seinen Blick zum Himmel und erfuhr sich ausgesondert, d.h. vermutlich zunächst: einer starken Erfahrung ausgesetzt. Sie hat damit zu tun, dass er das Gesehene nicht in gewohnter Weise auf Abstand halten, es betrachten und beurteilen konnte. Das horizontale Gegenüber mit seiner perspektivischen Logik weicht einem vertikalen Bezug, in dem sich in steiler Falllinie die höchste Höhe mit dem Boden blitzartig verbindet. Hofmannsthals Beschreibung der Erleuchtung bringt eine gewaltige und sublime Disproportion ins Spiel, zwischen dem Ausgesonderten unten und den »lebendigen Flügelschlagenden« oben. Mit dem Dispositiv des steilen Aufblicks verbindet sich immer auch die Umkehrung der fallenden Schräge. Sie modelliert auch die Struktur der Erfahrung, denn sie stärkt die pathischen Momente, welche sich in Umkehr und Erleuchtung spiegeln, von der die Erzählung berichtet.

 

Prägnanz

Wie aber kann sich Unnennbares überhaupt manifestieren, im kulturellen Raum erscheinen und darin Bedeutung erlangen? »Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen?« [16] Oder, anders gesagt: was spricht, wenn nicht die Sprache spricht? Hofmannsthal gibt darauf eine deutliche, seine Antwort, wenn er auf Auge und Farbe setzt. Wie aber spricht das in den Briefen entworfene Bild, wenn es schon nichts »sagt«? Denn offensichtlich geht es dem Autor nicht darum, dass der Erleuchtete Adressat einer Botschaft geworden wäre, die ihn auf dem Wege einer dramatischen Eingebung von Oben erreicht hätte. Das Ereignis hat keinen Inhalt, aber gleichwohl einen Sinn. Um eine herausgehobene Form der Information, die sich des Telegraphen des Reiherzuges bedient hätte, ist es nicht zu tun. Aber auch das Verfahren der Symbolisierung scheidet aus. Was da spricht, ist kein sinnbeladener Archetypus.

Worum handelt es sich stattdessen? Um eine dritte Art von Kommunikation, die, abgesehen von Hofmannsthals Sprachskepsis, von genereller Bedeutung in bildtheoretischem Zusammenhang sein dürfte. Wir umschreiben sie mit dem Begriff der Prägnanz, deshalb, weil wir es mit einem Sinn zu tun haben, der gerade hervorgebracht wird, der soeben ans Licht kommt, dabei ist, sich zu artikulieren. Wer einen solchen Sinn erfährt, der achtet nicht auf Semantik (die es noch gar nicht gibt), sondern auf das Wie der Konfiguration, auf den Prozess der Formung und auf die bewegende Energie, die er überträgt. Prägnanz meint mithin das Ereignis einer Aktualisierung, das sich zwischen bloßer Möglichkeit und semantischer Eindeutigkeit vollzieht. Und sie meint Leiblichkeit, zum Beispiel jene des Kollektivkörpers eines Zuges von Reihern. Bewegung ist ihm unverzichtbar, weswegen ja auch die Transformation des physischen Reiherzuges in eine affektive Wirkungsgröße von größter Bedeutung gewesen ist. Prägnanter Sinn übermittelt sich über ein Feld organisierter Intensitäten. Was als Zeichen oder physische Faktur eingesetzt ist, wird als bewegter Rhythmus erfahren, wird zu einem Geschehen, in dem sich Form mit Zeit, Formung mit Veränderlichkeit verbindet.

Der Begriff der Prägnanz steht in enger Verbindung mit biologischer Semantik: mit Schwangerschaft und Geburt. Er bezeichnet deshalb besonders angemessen das Geschehen einer lebendigen Artikulation, das Hervorkommen eines Sinnes, der sich ausschliesslich zeigt. Prägnanz meint aber auch Implikation: ein hohes Entfaltungspotential, das sich als ein Zugleich manifestiert.

Hofmannsthal hat in den Briefen der Brüchigkeit der Worte mit der Erfahrung gesteigerter Lebendigkeit abzuhelfen versucht. Ihren stärksten Rückhalt hat dieses Leben in der Farbe und in der Bewegungskraft der Natur, für die die Wendung von den »lebendigen Flügelschlagenden« steht. Dass sie zum »Sprechen« kommt, ohne sich der Worte zu bedienen, dazu bedarf es des Ereignisses der Form, das in der Natur bereits angelegt ist: eben im Zug der Vögel, aber auch anderswo, zum Beispiel in der Farbigkeit aufschäumender Wellen. Von ihr handelt die nächste Seite der Briefe: »Diese Farbe, die ein Grau war und ein fahles Braun und eine Finsternis und ein Schaum […] ein Tod und ein Leben […] warum wühlte sich hier vor meinen schauenden Augen mein ganzes Leben entgegen […]?« [17] Dann nimmt er mit Emphase die ihn leitende Intuition auf, bekräftigt, dass die Farben, und nur sie, die Sprache sind, in der »das Wortlose […], das Ungeheure […] sich hergibt«. [18]

Mit dem deiktischen »nichts als dies…« wird der Blick frei auf die Fülle eines Sinnes, dem man nicht ankreiden kann, dass er sich dem Satz entzieht. Die Logik der Form erscheint darüber hinaus als ein geeignetes theoretisches Instrument, um diesem anderen Sprechen zu begegnen. Sie konfiguriert sich unabsehbar und auf vielfältige Weise, sie schlägt Brücken, über die wir uns hinwegbewegen: zwischen dem Diesseits und dem Jenseits der Sprache.

 

 

 



 

 

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Endnoten

[1] Hugo von Hofmannsthal: Erfundene Gespräche und Briefe, Sämtliche Werke, Bd. 31, hrsg. v. Ellen Ritter, Frankfurt a.M. 1991, S. 172, fortan zit. als Hofmannsthal 1991 (Hervorhebung G.B.).

[2] Es handelt sich um Max Müller (vgl. Hofmannsthal 1991, S. 450). Ramakrishna (1836-1886) war der Protagonist eines modernen Hinduismus. Er sah in allen Weltreligionen legitime Wege zu einer Wahrheit. Die religiösen Aspekte spielen in Hofmannsthals Text keine weitere Rolle.

[3] Vgl. Apostelgeschichte 9,3 bis 9,9.

[4] Hofmannsthal 1991, S. 447.

[5] Ebd., S. 416ff.

[6] Ebd., S. 172.

[7] Vgl. Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels (Hrsg.): Schwarm(E)Motion: Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg 2007, Einleitung.

[8] Vgl. Julius Meier-Graefe: Impressionisten. Guys – Monet – van Gogh – Pissarro – Cézanne, München, Leipzig 1907.

[9] Ebd., S. 136.

[10] Hofmannsthal 1991, S. 452.

[11] Ebd., S. 172.

[12] Vgl. die von Eva Horn verfasste Einleitung zu Eva Horn, Lucas Marco Gisi (Hsg.): Schwärme. Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009, S. 7 (fortan zit. als Horn 2009).

[13] Vgl. Gottfried Boehm: Die Frage der Form. Was Bilder sprechen lässt, ungedrucktes Manuskript.

[14] Vgl. Horn 2009, S. 12.

[15] Nach Reynolds folgen die einzelnen am Schwarm beteiligten »boids« drei Regeln, die er als Kohäsion, Separation und Ausrichtung beschreibt (vgl. Craig W. Reynolds: »Flocks, Herds and Schools, A Distributed Behavioral Model«, in: Computer Graphics 21 (1987), S. 25-34).

[16] Sybille Krämer, Ekkehard König (Hrsg.): Gibt es eine Sprache hinter dem Sprechen, Frankfurt a.M. 2002, S. 7ff.

[17] Hofmannsthal 1991, S. 173.

[18] Ebd.