Oliver Jahraus, München

 

»She sends me.«
Große Metaphysik des Boten

 

Sybille Krämers Buch Medium, Bote, Übertragung aus dem Jahre 2008 [1] hat viel Aufmerksamkeit erfahren [2] – und das ganz zu Recht, geht es doch in diesem Buch nicht nur darum, ein neues medientheoretisches Modell auf der Basis der Figur des Boten als »Reflexionsfigur« (S. 108) zu etablieren, nicht nur darum, in der Figur des Boten eine Urszene der Medialität zu beschreiben, sondern auch darum, medientheoretische Überlegungen grundsätzlich anzugehen und mithin Medientheorie in genuine Medienphilosophie, die diesen Namen auch verdient, zu überführen. Interessant sind für meine folgenden Überlegungen nicht jene Reaktionen, die die Leistung und Bedeutung des Buches herausstreichen, sondern eher diejenigen, die es kritisieren. Das hat einen spezifischen, geradezu lustvollen Grund: Ich möchte mir in den folgenden Überlegungen erlauben, an einem literarischen Beispiel einige medienphilosophische Gedanken von Sybille Krämer aufzugreifen und zum Anlass zu nehmen, ihre Gedanken in eine Richtung weiterzuspinnen, die ihr Buch nicht intendiert. Dazu dienen mir die negativen Kritiken geradezu als Ansporn, weil ich ihnen unterstellen will, dass sie dieses Buch grandios missverstanden haben. Ich glaube beispielsweise nicht, dass in diesem Buch alter Wein in neuen Schläuchen verkauft wird, wie man lesen konnte. [3] Ich glaube vielmehr, dass in dem Buch mit seinem Titel und Untertitel sogar eine große Metaphysik des Boten verborgen liegt.

Einer der Hauptkritikpunkte war jedoch derjenige, dass die Urszene des Botengangs eben nicht als Modell einer allgemeinen Medialität dienen könne. Ob dabei die Figur des Boten mit einer Szene verwechselt wurde, spielt dabei keine Rolle, zumal Sybille Krämer nicht nur auf Figur und Institut des Boten aufmerksam gemacht, sondern immer auch auf den Botengang mit seiner aktionalen und performativen Dimension verwiesen hat. Eine Rolle spielt aber wohl, dass der Botengang ein Modell darstellt, dessen Modellhaftigkeit vielleicht noch gar nicht annähernd durchschaut ist. Dies wenigstens im Ansatz zu versuchen, soll Aufgabe dieser Überlegungen sein.

Es ist interessant zu beobachten – und Sybille Krämer spricht es selbst an (S. 21) –, dass Philosophie in den letzten Jahren verstärkt zu einer Reflexionsform von Medium, Medien und Medialität geworden ist, ja dass selbst diese Ausdifferenzierung der Begriffe, die Bestimmung insbesondere des Medialen und der Medialität, zu einer philosophischen Aufgabe geworden ist, von der offensichtlich beide Seiten – die Medientheorie und die Philosophie – profitieren. Die Philosophie erhält nicht nur ein neues Aufgabengebiet und Denkterrain, das sich in eine Reihe mit anderen Aufgaben oder innerphilosophischen Disziplinen stellen lässt, sondern wesentliche Formen philosophischen Nachdenkens kommen zum Einsatz und verändern die Konturen dessen, was man unter Philosophie versteht, wenn sie sich dem Medialen und der Medialität widmet. Die Bestimmungen einer möglichen Medienphilosophie reichen daher von einer philosophischen Medientheorie bis hin zu einer heftig diskutierten prima philosophia [4] im neuen Gewand. [5]

Ein Begriff spielt dabei eine herausragende Rolle, nämlich der Begriff der Metaphysik. Sybille Krämer bezeichnet ihre Überlegungen im Untertitel des genannten Buches als »Kleine Metaphysik der Medialität«. Es scheint gerade so zu sein, dass sich viele der Diskussionen um Begriff und Konzept einer Medienphilosophie gerade auf den Begriff der Metaphysik fokussieren ließen, der in verdichteter Form das spezifisch Philosophische des Nachdenkens über Medien, mehr noch über das Mediale und Medialität, zum Ausdruck bringt. So scheint die medientheoretische Grundfrage, was denn ein Medium sei, nicht nur von sich aus von den technischen Medien weg hin zur Medialität zu führen, sondern deswegen auch eine metaphysische Frage par excellence zu sein, worauf Marion Hiller in ihrer Rezension des Buches mit dem bezeichnenden Titel Was ist ein Medium? aufmerksam gemacht hat. [6]

Primae philosophiae, also philosophische Konstruktionen mit dem Anspruch auf Letztbegründung, hat es immer wieder gegeben, und nicht nur philosophiegeschichtlich sind die Umbruchstellen – man könnte fast sagen: die Paradigmenwechsel – von besonderem Interesse auch für die Medienphilosophie, weil damit implizit oder explizit der Anspruch erhoben wird, auch sie könnte eine solche philosophische Revolution vollziehen. Hier käme insbesondere jene transzendentalphilosophische Umbruchsituation seit Descartes – radikalisiert durch Kant und den deutschen Idealismus – ins Spiel, die alte Metaphysikmodelle desavouiert und stattdessen von einem epistemologisch bestimmten Apriori ausgeht, also die Epistemologie an die Stelle der Metaphysik setzt und aus ihr im Zuge eines methodischen Zweifels oder einer Kopernikanischen Wende in der Erkenntnistheorie eine prima philosophia macht.

Wo diese Wende im Subjekt der Erkenntnis eine Instanz inthronisierte, war sie offen für eine fundamentale Kritik, die sich davon absetzen konnte, weil sie das, wovon sie sich absetzte, als Metaphysik denunzierte und oftmals gleich mit der Kritik der Metaphysik das Ende der Philosophie ausrief. Die Geschichte der Philosophie kann daher auch als eine Geschichte der Metaphysikkritik rekonstruiert werden. [7] In einigen Varianten der Medienphilosophie scheint es so zu sein, als ob nun die Medien selbst oder mehr noch das Mediale oder die Medialität an die Stelle einer Letztbegründungsfigur getreten sind, so dass sie nicht nur das Erkenntnissubjekt, sondern auch noch dessen Dekonstruktion beerben könnten. Alles, was wir wüssten, wüssten wir durch Medien, und selbst die Unbegründetheit eben noch dieses Wissens sei den Medien geschuldet.

Sybille Krämer greift den Metaphysikbegriff auf, verbindet ihn aber mit einem kleinen Epitheton, besser gesagt, mit einem kleinen Protheton, mit einem kleinen und daher autologischen Wort: klein. Das mag man zunächst als Ausdruck eines Bescheidenheitstopos verstehen, pragmatisch ebenso wie konzeptionell. Er würde besagen: Hier liegt nicht das letzte Buch über Medien oder Medialität vor, sondern ein Entwurf, eine Skizze, die durchaus essayistischen Charakter und vor allem den Charakter eines denkerischen Vorschlags hat. Es geht darum, »auszuprobieren, was sich zeigt, sobald wir uns mit Medien im Horizont der Frage, was ›hinter den Erscheinungen‹ liegt, auseinandersetzen« (S. 26). Und genau daraus resultiert Krämers Begriff von Metaphysik; ich setze das Zitat direkt fort: »Wir wollen also diesem Gestus einer Aufmerksamkeit für das ›Dahinterliegende‹ zuerst einmal folgen und uns mit Medien und der Medialität in dieser metaphysischen Perspektive auseinandersetzen« (S. 26; Hervorh. im Original). Interessant ist auch, dass Hans Urich Gumbrecht einen solchen Begriff von Metaphysik, gerade angesichts der großen metaphysikkritischen und zugleich die Philosophie destruierenden und beendenden Unternehmungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts, gleichermaßen verwendet, wenn er seine »Abkehr von der Metaphysik« als Rückkehr zur »bloß physischen Oberfläche« charakterisiert. [8] Wo es Sybille Krämer um eine Physik der Medien geht, geht es Hans Ulrich Gumbrecht um eine Präsenz des Physischen.

Nun könnte man allerdings fragen, ob es überhaupt kleine Metaphysiken geben könne, ob es sich nicht vielmehr um eine contradictio in adiecto handele. Klein ist diese Metaphysik deswegen, weil sie jeden fundamentalen Anspruch vermeidet und stattdessen den Begriff der Metaphysik von seinem systemischen Charakter befreit, um ihn zu einem heuristischen und geradezu methodischen Instrument zu machen. Eine Metaphysik der Medien versucht in den Blick zu bekommen, warum sich Medien, um überhaupt etwas vermitteln und übertragen zu können, invisibilisieren müssen (um eine visuelle Medienmetapher zu verwenden). Damit wird ein Spiel zwischen Vorder- und Hintergrund eröffnet, der insbesondere dort ›sichtbar‹ wird, wo man Medien und Zeichen gegeneinander hält: »In der semiologischen Perspektive ist das ›Verborgene‹ der Sinn hinter dem Sinnlichen; in der mediologischen Perspektive dagegen ist das ›Verborgene‹ die Sinnlichkeit hinter dem Sinn.« (S. 34) Sowohl aus der ›an-aisthetisierenden‹ Funktionsweise der Medien als auch aus der Gegenläufigkeit semiologischer Prozesse folgert Sybille Krämer daher: »Die Metaphysik der Medialität führt somit auf eine ›Physik der Medien‹« (S. 35, vgl. auch S. 27). Wenn nun die Metaphysik der Medialität die Physik der Medien gerade eben nicht transparent, sondern überhaupt erst dinglich sichtbar werden lässt, dann ist damit ein bestimmtes Kommunikationsmodell notwendigerweise impliziert, dessen mediale Ausprägung im Boten und Botengang besteht: »Wir verändern mit der Einnahme der Botenperspektive unser ›Axiomensystem‹, indem nicht mehr der interaktive, stimmenbasierte Dialog im Nahraum des Leibes, vielmehr die Kommunikation unter den Bedingungen raum-zeitlichen Entferntseins der Kommunizierenden für uns zu einer ›Urszene‹ wird.« (S. 109)

Zuvor hatte Sybille Krämer schon ein postalisches von einem erotischen Prinzip des Boten geschieden: »Das postalische Prinzip entwirft Kommunikation als das Herstellen von Verbindungen zwischen räumlich entfernten körperlichen Instanzen. Das dialogische Prinzip hingegen modelliert Kommunikation als ein Zusammenfallen und eine Vereinheitlichung vormals divergierender Zustände von Individuen. [...] Die personale Perspektive mit ihrem Telos, voneinander Geschiedenes zusammenfallen zu lassen, birgt eine latent erotische Dimension.« (S. 15) Und das wiederum bedeutet, dass mit Figur und Institut des Boten die erotische Dimension der Kommunikation in den Hintergrund gedrängt wird, dass sie, wie es Sybille Krämer selbst ausdrückt, latent bleibt, was im Zusammenhang mit ihren Überlegungen zur Psychoanalyse ein besonderes Gewicht erhalten könnte, und dass die postalische Dimension der Kommunikation tendenziell un-erotisch ist.

An dieser Stelle wechsle ich meine Rolle, spreche nicht mehr philosophisch, sondern literaturwissenschaftlich und literarhistorisch und nutze Literatur als großes, exzeptionelles kulturelles Archiv, das es erlaubt, solche Kommunikationsmodelle auch in medienphilosophischer Hinsicht historisch zu perspektivieren. Sybille Krämer selbst nennt »fünf Dimensionen am Botenmodell«, die den Umstand illustrieren, dass er »zwischen heterogenen Welten« vermittelt (S. 110), unter anderem »Drittheit als Keimzelle der Sozialität«. Die sogenannte Figur des Dritten ist mittlerweile zu einem herausragenden kulturwissenschaftlichen Forschungsgebiet geworden, [9] das wiederum zahlreiche andere – z.B. die prominente Theorie des Parasiten durch Michel Serres [10] – umfasst und sowohl historische als auch systematische Figuren der Vermittlung, der Dialektik, der In-Beziehung-Setzung vereint. In der Figur des Dritten überlagern sich zunächst einmal die semiologische und die mediale Dimension der Kommunikation. Ein »Ins-Mittel-Treten« der Sprache [11] wird immer begleitet sein von einem In-die-Mitte-Treten einer medialen Instanz (S. 37). Genau an diesem Punkt müssen sich daher auch die gegenläufigen Tendenzen der Bewegung von Davor und Dahinter, von Physik und Metaphysik begegnen. Es ist der Umschlagspunkt – sofern man noch ganz im Rahmen der topologischen Metapher von Sybille Krämer verbleibt, mit der sie ihren Metaphysikbegriff untermauert – zwischen dem Sinnlichen und dem Sinn. [12]

Doch dies ist nur eine formale und abstrakte Beschreibung. Will man diesen Punkt qualitativ bestimmen, so bietet es sich an, die Überschneidung zu konkretisieren und zu benennen. Zu fragen wäre also, in welchen spezifischen Situationen denn in ihrer Gegenläufigkeit Medien und Zeichen, bzw. Sinn und Sinnlichkeit, Physik und Metaphysik, oder noch konkreter, das Körperliche und das Geistige, das Materielle und das Immaterielle sich treffen. Will man dies zuspitzen, so könnte man nach einer Situation fragen, in der es darum geht, das Getrennt-Sein und Different-Sein soweit zu invisibilisieren, zu an-aisthetisieren, dass die Illusion des Eins-Seins entsteht.

Als Antwort auf diese Frage will ich zwei Situationen benennen, die sich selbst wiederum überlagern: Es ist die Liebe und es ist das Gespräch und mithin die spezifische Überlagerung der erotischen und der hermeneutischen Dimension der Kommunikation. An der Figur des Dritten kann diese Überlagerung manifest werden. Dabei will ich gar nicht von jenen Moderatoren oder Postboten reden, die das Gespräch steuern und die Briefe im postalischen Prinzip zustellen. Grundsätzlich allerdings muss man sehen, dass es die Figur des Dritten ist, die konstitutiv notwendig ist, wenn es gilt, das eine und das andere überhaupt in Beziehung zu setzen. So mag man anführen, dass es wohl kein literarisch vermitteltes Liebespaar in der Literatur gibt, das nicht erst durch einen Dritten, ob nun mit besten oder schlechtesten Absichten, überhaupt erst zum Paar geworden ist. In Kafkas Roman Das Schloss (1921) beispielsweise findet kein einziger Intimkontakt statt, bei dem nicht Dritte (als Beamte, als Gehilfen) anwesend wären. Und so sehr sie in der Alltagswelt stören, so konstitutiv ist ihre Anwesenheit auf der Ebene einer metaphysischen Organisation von Welt und Text. Sybille Krämers Buch zeigt auf seinem Umschlag den Gott als Boten oder umgekehrt den Boten als Gott, Hermes (oder Merkur, von dem sie auch im Buch spricht). Man mag hierzu die wunderbare Monographie von Jochen Hörisch zur Wut des Verstehens [13] lesen, in der er seine Abrechnung mit der Hermeneutik gleichermaßen mit einer Urszene oder mit einer ganzen Reihe von Urszenen beginnen lässt, die figural konkretisiert werden, nämlich im bösen Treiben von Hermes, das deswegen böse ist, weil er beständig hintertreibt, was er doch stiften will, weil er Verstehen immer mit Unverständnis durchsetzt, aber damit gerade auf eine tiefere Weisheit aufmerksam macht, dass nämlich das Nicht-Verstehen zur Voraussetzung des Verstehens unabdingbar dazugehört, dass jede Position genau das, was sie konstitutiv verwirft, immer auch in sich und mit sich wieder aufnehmen muss. Hermeneutik wäre in diesem Sinn ein Verfahren zur Stiftung von Einssein – man versteht sich – und mithin zur Lösung jenes Problems, das überhaupt erst – folgt man Jochen Hörisch – mit Hermes oder vielmehr mit der Hermeneutik in die Welt gekommen ist.

Umberto Eco hat gleichermaßen dieses Botenmodell aufgegriffen, um eine zumindest potenziell hermeneutische Konstellation im Verhältnis von Interpretation und Schrift bzw. Text aufzuzeigen. [14] Er greift dabei gleich zu Beginn seines Buches über die Grenzen der Interpretation eine Geschichte von John Wilkins aus dem Jahre 1641 auf, in der erzählt wird, wie ein Bote mit einem Korb abgezählter Feigen und einem beiliegenden Brief, in dem die Anzahl der Feigen verzeichnet war, von einem Sender zu einem Empfänger geschickt wurde. Der Bote, ein illiterater Sklave, isst unterwegs von den Feigen, verändert also die Botschaft, und ist verwundert, dass dieser Diebstahl durch den beiliegenden Brief – in seinen Augen regelrecht – entdeckt wird. Eco nutzt dieses Beispiel, um die Grenzen der Interpretation aufzuzeigen, also aufzuzeigen, wo die Grenze verläuft zwischen einer Botschaft, die der Text garantieren kann, und einer, die er nicht mehr garantieren kann, weil der Botengang unweigerlich die Garantie desavouiert.

Am schlimmsten jedoch muss sich dieser Sachverhalt in der Liebe auswirken, wo es doch darum geht, alle Interpretation fahren zu lassen, wie man alle Differenzen in einer höheren Einheit der Liebe aufhebt und gerade deswegen wie nirgendwo sonst auf die Hermeneutik und mithin auf einen Hermes, einen Boten angewiesen ist. In der Liebe versteht sich alles von selbst und nirgendwo ist alles so unverständlich wie in der Liebe. Nur hier ist die einzige Frage »Liebst du mich?« so dringlich und gleichzeitig so absolut unbeantwortbar. Und so will ich als ein Zwischenergebnis zumindest festhalten: Ich glaube nicht, dass man das postalische und das erotische Prinzip der Kommunikation vollständig, geradezu analytisch scharf voneinander trennen kann (was auch Sybille Krämer nicht behauptet). Es verhält sich genau umgekehrt: In der Liebe fallen beide Prinzipien, das postalische und das erotische, zusammen. Und insofern kann die Liebe zeigen, dass die Trennung nirgendwo möglich ist. Liebe ist daher ausschließlich Medienrealität [15] und als Medienrealität ist sie ein Botengang ex cathedra.

In all diesen Strukturen sind Positionen des Dritten eingebaut, die das eine und das andere miteinander vermitteln, indem sie Übertragung gewährleisten. Daher kann man die Argumentationsrichtung auch umdrehen und sagen: Überall dort, wo es eine solche dritte Position mit genuinen Phänomenen des Medialen, des Textuellen, des Semiotischen zu tun hat, wollen wir diese Position als Boten bezeichnen und den Prozess als Botengang. Interpretation (als Prozess) wäre demnach ein Botengang eines Interpreten zwischen dem Text und seiner Interpretation (dem Produkt oder Ergebnis des Prozesses). Nun könnte man aber fragen, ob nicht in den intimsten Momenten, die sich denken ließen, doch so etwas wie eine dann vielleicht auch noch körperliche Verschmelzung von zweien zu einem (Tier mit zwei Rücken) [16] möglich wäre. Und die Antwort muss aus systematischen Gründen lauten: Nein, denn gäbe es den Dritten nicht, wüssten die zwei nicht, dass sie zwei sind und was sie tun. Der Schritt von einem Ersten zum einem Zweiten ist bereits ein Schritt, der vom Dritten begleitet wird, ist also bereits ein Botengang. Wo zwei sind, ist der Bote bereits präsent und wird immer schon präsent gewesen sein. Im Botengang lassen sich daher zwei namhafte Bewegungsrichtungen kulturwissenschaftlicher Theoriebildung zusammenführen, die in Institut und Figur des Boten konvergieren. Der Dritte kann immer auch als Bote identifiziert werden und gleichermaßen lässt sich der Topos der Post und des postalischen Verkehrs gleichermaßen darin konkretisieren. [17] Auf dieser Basis könnte man noch weitergehen und zum Beispiel fragen, inwiefern nicht mythologisch-narrative Grundstrukturen wie z.B. die der Heldenreise [18] gänzlich als Botengang reformuliert werden könnten, was den Vorteil mit sich brächte, zugleich die immanente mediale Dimension dieser Struktur aufzudecken.

Ich will dies an einem Beispiel aus der neueren Literatur illustrieren, einem literarischen Buch, das sich selbst als Medienphänomenologie lesen lässt und den Botengang bereits im Titel führt: Meine Reise zu Chaplin von Patrick Roth aus dem Jahre 1997. [19] Erzählt wird von einem Botengang im wahrsten Sinne des Wortes: Ein junger Mann, der denselben Namen trägt wie der Autor dieses Textes, was eine gewisse autobiographische Lesart erlaubt, macht sich eines Tages auf zu Chaplin, dem berühmten Regisseur im selbstgewählten Schweizer Exil seiner Altersjahre und damit zu einem Exponenten nicht nur der Filmgeschichte, sondern eben auch der Medienwelt schlechthin. [20] Er wird dort am Ziel seiner Reise den alten Chaplin nicht zu Gesicht bekommen, aber das ist ja für Botengänge nicht ausschlaggebend. Er wird aber den Brief, den er ihm geschrieben hat, abgeben und zustellen können und dafür eine signierte Photographie wiederum über Boten, Chaplins Diener Gino, erhalten: Der Botengang als Medienkonversion.

Der Plan, den alten Chaplin zu besuchen, erwächst mit langem Vorlauf aus einer Lebensgeschichte, deren Stationen sich als medienvermittelte Sozialisationsgeschichte eines jungen Mannes, als éducation médiale erweisen. Eines Tages verliebt der Protagonist sich in eine Mitschülerin, die just – oder gerade deswegen – wie Chaplins Tochter Geraldine aussieht, die er aber nicht erreichen kann. Es entsteht, während einer Theaterprobe, eine Faszination für die Idee, nach Kalifornien zu gehen, denn die Anglistik-Professorin, die die Theaterprobe leitet, nimmt den jungen Patrick Roth mit nach Hause, wo er an der Badezimmertür ein Poster von Chaplin sieht. So wird die Ursprungsidee geboren, sich in allerletzter Minute um ein USA-Stipendium zu bemühen, das er auch erhält. Er geht nach Los Angeles. Und der Wunsch, zu Chaplin zu reisen bzw. ihm einen Brief zu schreiben, erwächst aus dem Rezeptionserlebnis, das lebensverändernd wirkt, als Patrick Roth nämlich Chaplins Film City Lights in Kalifornien sieht. Er beschließt, noch in diesen Ferien zu Charles Chaplin in die Schweiz zu fahren. Die Reise beginnt am Neujahrstag des Jahres 1976.

Auf dieser Reise, auf dem Hinweg, konzipiert Roth einen Brief an Chaplin, den er ins Reine schreibt, bevor er die letzte Etappe zum Anwesen Chaplins in Vevey mit dem Taxi zurücklegt. Hat man das Motiv der Reise mit dem des Transzendenten und Chaplin mit der Medienwelt zusammengebracht, so ist daran allein schon zu erkennen, wie sich die semantischen Zuschreibungen selbst austauschen. Es ist die Reise, die das Ziel, Chaplin, den Medienvertreter, mit der Erfahrung der Transzendenz überblendet. Und dass auf der Reise ein bedeutender Brief geschrieben wird, macht aus der Bewegung hin zum Transzendenten zugleich einen Akt der eigenen und eigenständigen Medienproduktion. Ganz offenkundig ist hier der Botengang, die Übergabe eines Briefes, als medialer Prozess eingebettet in eine umfassende Medienphänomenologie.

Doch bei dieser Reise zu Chaplin fällt eine Merkwürdigkeit auf: Warum beschließt jemand, diesen weiten und keineswegs Erfolg versprechenden Weg auf sich zu nehmen, wenn er am Ende der Reise sein Idol gar nicht leibhaftig sieht, sondern ihm nur einen Brief übergeben kann? Bereits an diesem Punkt unserer Überlegungen könnte man die Frage mit der Bedeutung und Struktur des Botengangs beantworten. Es käme also für den jungen Protagonisten darauf an, Bote zu werden. Noch deutlicher aber bringt dies der Text selbst zum Ausdruck, indem er eine spezifische Urszene des Botengangs entfaltet, die ihrerseits wiederum den Botengang selbst als Urszene im Sinne Sybille Krämers ausweist. Es ist eine Szene des verliebten, aber erfolglosen Blicks, in der Patrick Roth jenes begehrenswerte und gleichzeitig und vielleicht auch gerade deswegen unerreichbare Mädchen in der Schule kennenlernt, die wie Chaplins Tochter aussieht. Die einzige Chance, mit ihr in ein Gespräch zu kommen, versäumt er. Als er später überlegt, was alles aus dieser Situation für ihn erwachsen ist, was alles dazu beigetragen hat, dass er sich irgendwann einmal später in seinem Leben als Bote aufmacht zu Chaplin, beschreibt er diese Situation in einer prägnanten und hochgradig symptomatischen Wendung als Initiation eines Botengangs: »She sends me.« Diese Redewendung, so erklärt der Erzähler, wurde in späteren Jahren durch »she turns me on« (Roth 1997, S. 13; »sie erregt mich«) ersetzt. Diese hebt den erotischen Aspekt des Begehrens stärker hervor, reduziert dafür das Moment des Botengangs, der Schickung, des Losschickens, kann aber gerade deswegen verdeutlichen, dass selbst dem Intimsten die Struktur des Botengangs einverwoben ist. Was hier geschildert wird, ist eine schicksalhafte Begegnung, eine Schickung und ein Geschick, in der der Moment der Liebe selbst als Botengang inszeniert wird. Nicht zufällig sind die heideggerschen Formulierungen, die Roth im Zusammenhang mit der Schickung des Geschicks anstellt. [21]

Die versäumte Chance des Liebesbegehrens verwandelt sich in der Szene des Botengangs und unter der Formel des Schickens in ihr Gegenteil: Nichts wurde versäumt, im Gegenteil, eine Urszene wurde gestiftet, Patrick Roth wurde als Bote auf die Reise geschickt: »Denn der ›Gesandte‹, dieser reisend Liebende, dient immer. Dient – ohne’s zu wissen – dem Gott, Eros, dem alles Lieben, alles Fragen gilt. Dem daher alle großen Reisen gelten. He sends you.« (Roth 1997, S. 13). Das Geschicktwerden des jungen Mannes ist eine gleichsam mythische Parallele zu dem Tramp in Chaplins Film, der als Verliebter ebenfalls geschickt wird und dafür ein Opfer auf sich nimmt – er geht für seine große Liebe ins Gefängnis, ins »Dunkel«, wo alles beginnt. Diese Schickung erwächst aus einem Ursprung, der zugleich zu einer Zielvorgabe wird. Und der Weg dazwischen ist ein medial begleiteter Weg, mehr noch, eine Mediensozialisation auf dem Weg in die Medienwelt, die aufgrund dieser Schickung zugleich zu einer Suche nach dem Transzendenten wird.

Was diese Schickungen wirklich bedeuten, kann man vor allem an jenen Veränderungen ablesen, die mit dem Helden und Erzähler einhergehen. In dieser Form geschickt zu werden, bedeutet Schicksalhaftes, weil die Schickung den Geschickten verändert, ihn überhaupt erst als Geschickten definiert und konstituiert. Und auf dieser Reise, auf der Anreise zu Chaplin, schreibt er einen Brief, den er nicht mehr loszuschicken braucht, weil er ja selbst schon ein zu Chaplin Geschickter ist. Indem er aber als Geschickter diesen Brief schreibt, verwandelt er sich abermals, und zwar in etwas, was von Urzeiten an als markante Medieninstitution gegolten hat, in einen Boten. In der Übergabesituation wird dies offenkundig: »Ich bin jetzt Bote, halte den Brief abgabebereit in der Botenhand. Bote mit wichtiger Nachricht.« (Roth 1997, S. 43) Der Brief hat keinen anderen Zweck, als die Schickung des jungen Mannes als Geschick und Schicksal in der von ihm übernommenen Aufgabe offenkundig, ihn also zu einem Boten zu machen. [22] Dennoch erfährt der Leser nichts über den Inhalt des Briefes. Keine einzige Zeile bekommen wir zu lesen, während wir die Erzählung von Patrick Roth lesen. Die Zustellung geschieht bzw. ist immer schon geschehen im Moment der Schickung. In der Perspektive einer naiven Kommunikationstheorie erscheint der Brief eigenartig nutzlos. Zeichentheoretisch könnte man – z.B. mit Blick auf Jacques Lacans Interpretation von Poes entwendetem Brief [23] – immerhin sagen: Ist das Signifikat abwesend, beginnt das Spiel der Signifikanten. Und umgekehrt ließe sich nun Lacans Poe-Interpretation oder auch Jacques Derridas zweibändige Lieferung Die Postkarte von Sokrates bis an Freud und jenseits [24] selbst wiederum mit Sybille Krämer lesen als Reflexion über die Bedingung der Möglichkeit einer Institutionalisierung von Boten. So auch in dieser Erzählung: Es geht nur um den Botengang, nicht um die Botschaft, nicht um gelungene Kommunikation: »Aber das war es nicht, das Ankommen war gar nicht gemeint.« (Roth 1997, S. 37)

Geradezu verblüffend ist es zu sehen, dass Derrida, als er sich (in der zweiten Lieferung) mit Lacans Psychoanalyse auseinandersetzt, gleichermaßen auf diese Figur des Post-Boten, des Zustellers der Wahrheit, des facteur de la verité, abhebt. Derrida kritisiert an Lacan, der seinerseits auf den Brief in seiner Arbeit zu Poes Entwendetem Brief (The Purloined Letter) abhebt, dass dieser noch davon ausgehe, dass jeder Brief seinen Empfänger erreicht, weil jeder, dem in dieser Weise Wahrheit zugestellt wird, eben dadurch schon zum Empfänger wird. Noch verblüffender wird es, wenn man sich vergegenwärtigt, wie Slavoj Žižek Lacan, dessen Ideen er gerade mit Blick auf die moderne Medienwelt weiterführt, gegen Derrida weiterführend verteidigt. [25] Als Beispiel, das illustrieren und verdeutlichen soll, dass eben jeder Brief seinen Empfänger doch erreicht, wählt er – wie Patrick Roth, ohne dass hier irgendein Zusammenhang festzustellen wäre, zufällig und dann eben nicht mehr zufällig – den Film City Lights. Er deutet den Tramp als Postboten, als »gobetween« zwischen dem Phantasma eines reichen Mannes und dem Mädchen. Und die Zustellung der Botschaft und der Wahrheit sieht er in jener Szene, die Patrick Roth seinerseits als Totenerweckung deutet: die haptische Anagnorisis von Mädchen und Tramp.

Ich will abschließend einige Folgerungen daraus ziehen: In jeder Kommunikationssituation wird das Institut des Boten begründet. Die Botschaft tritt hinter den Botengang zurück, so dass der Botengang eine Bewegung zum Transzendenten hin beschreibt. Und diese wiederum wird auf der Ebene des Beobachters zweiter Ordnung, also zum Beispiel im literarischen Text, zu einer Medienphilosophie eigener Art, weil sie zugleich die Bedingung der Möglichkeit des Botengangs reflektiert. Die Beobachtung des Botengangs wird zu einer Transzendentalphilosophie, weil sie den Menschen in der Kommunikation nicht nur medientheoretisch, noch nicht einmal nur anthropologisch, sondern transzendental als Boten beschreibt. Der Mensch muss zuerst zum Boten werden, bevor er sich kommunikativ mit seiner Welt auseinandersetzen kann. Der Mensch als Bote! Die Institution des Boten geht also einer Differenzierung zwischen dem postalischen und dem erotischen Prinzip immer voraus. Die Institution des Boten wäre somit als Transzendentalie oder – mit anderem Zungenschlag – als Existenzial zu beschreiben. Und ganze Mediensysteme, wie die Literatur, wären daraufhin zu befragen, inwiefern sie den Menschen als Boten beschreiben, ja mehr noch, inwiefern sie den Menschen als Boten auf seinen Botengang schicken. Eine Philosophie allerdings, die dies noch einmal reflektieren wollte, wäre dann eine große Metaphysik des Boten.

 

 

 



 

 

Downloads

Drehmomente_Jahraus.pdf

 

 

Endnoten


[1] Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a.M. 2008. Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf dieses Werk.

[2] Ich nenne nur einige markante Beispiele: Frank Hartmann in Recherche. Zeitung für Wissenschaft 2/2008, wieder abgedruckt in: www.medienphilosophie.net; Ulrike Ramming in Kritikon. Rezensionen zur Philosophie (10.07.2009); Florian Sprenger in Rezens.tfm. e-Journal für wissenschaftliche Rezensionen 2/2008.

[3] So Andreas Dorschel in der Süddeutschen Zeitung vom 02.08.2008.

[4] Z.B. Reinhard Margreiter: »Medien/Philosophie. Ein Kippbild«, in: Stefan Münker, Alexander Roesler, Mike Sandbothe (Hrsg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt a.M. 2003, S. 150-171, hier S. 151.

[5] Zum Überblick siehe Verf.: »Medienphilosophie«, in: Hans Feger (Hrsg.): Metzler Handbuch Literatur und Philosophie, Stuttgart, Weimar 2011 (im Erscheinen).

[6] Marion Hiller: »Metaphysik und die Folgen: Was ist ein Medium?«, Rezension zu: Stefan Münker, Alexander Roesler (Hrsg.): Was ist ein Medium?, Frankfurt a.M. 2008, in: IASLonline (03.08.2010).

[7] Walter Schweidler: Die Überwindung der Metaphysik. Zu einem Ende der neuzeitlichen Philosophie, Stuttgart 1987.

[8] Hans Ulrich Gumbrecht: Unsere breite Gegenwart, Frankfurt a.M. 2010, S. 21.

[9] Claudia Berger, Tobias Döring (Hrsg.): Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume, Amsterdam 1998; Eva Esslinger u.a. (Hrsg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwissenschaftliches Paradigma, Berlin 2010.

[10] Michel Serres: Le Parasite, Paris 1980.

[11] Manfred Frank: Was ist Neostrukturalismus?, Frankfurt a.M. 1984, S. 43.

[12] Siehe hierzu auch Jochen Hörisch: Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien, Frankfurt a.M. 2001.

[13] Jochen Hörisch: Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt a.M. 1988.

[14] Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation, München 1992, S. 11.

[15] Georg Jäger: »Liebe als Medienrealität. Eine semiotische Problemexplikation«, in: Siegfried J. Schmidt (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie, Opladen 1993, S. 44-65.

[16] Roger Willemsen (Hrsg.): Erotik – Das Tier mit den zwei Rücken. Eine Anthologie, Frankfurt a.M. 2004.

[17] Als nur ein Beispiel aus einem ganzen Forschungsfeld sei genannt: Bernhard Siegert: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post. 1751–1913, Berlin 1993.

[18] Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt a.M. 1999.

[19] Patrick Roth: Meine Reise zu Chaplin. Ein Encore, Frankfurt a.M. 1997.

[20] Vgl. hierzu Charles Chaplin: Die Geschichte meines Lebens, Frankfurt a.M. 1964; David Robinson: Chaplin. Sein Leben, seine Kunst, Zürich 1993.

[21] Siehe z.B. Martin Heidegger: Der Satz vom Grund, Frankfurt a.M. 1957.

[22] Siehe hierzu Umberto Eco: Grenzen der Interpretation, München 1992, S. 30; Konrad Ehlich: »Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Überlieferung«, in: Jan Assmann, Aleida Assmann, Christoph Hardmeier (Hsg.): Schrift und Gedächtnis. Beiträge zu einer Archäologie der literarischen Kommunikation, Bd.1, München 1983, S. 24-43, hier S. 31.

[23] Jacques Lacan: Schriften I, Olten, Freiburg 1973, S. 7-60.

[24] Jacques Derrida: Die Postkarte von Sokrates bis Freud und jenseits. 2 Lieferungen, Berlin 1980 u. 1983. Hier setzt sich Derrida mit Lacans Psychosemiologie auseinander.

[25] Slavoj Žižek: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, Berlin 1991.