Hilge Landweer, Berlin

 

Phänomenologie als Sozialtheorie. Deixis, aufweisendes Sehenlassen und präsentative Symbolisierung in der »reinen« Deskription

 

Frage und These

Das Zeigen ebenso wie das Sichzeigen ist in der Phänomenologie methodisch von herausragender Bedeutung. Phänomenologie versteht sich als explizit machendes [1] Aufweisen der Phänomene, die sich – in einem noch zu bestimmenden Sinne – zeigen; Phänomen ist nach Heidegger geradezu das, was sich zeigt. Wozu ist dann noch die Phänomenologie erforderlich, wenn sich die Phänomene doch von selbst zeigen? [2] Anders als ein gern gepflegtes Vorurteil gegen die Phänomenologie unterstellt, halten Phänomenologen keinen begriffslosen (und in diesem Sinne unmittelbaren) Zugang zu den Phänomenen für möglich, schon gar nicht wollen sie einen vorgeblichen »Ursprung« der Dinge aufdecken. Gerade die Phänomenologie heideggerscher Prägung ist gerahmt durch eine starke Sozialtheorie, welche Heideggers gesamte Ontologie und Methode bestimmt und diese gegen den Jargon der Unmittelbarkeit immunisiert. Dabei kommt dem Sichzeigen der Phänomene in der Anschauung und dem Zeigen als Tätigkeit der Phänomenologin, das auf die Rede angewiesen ist, eine gewichtige Rolle zu.

Die folgenden Überlegungen sind von der Vermutung geleitet, dass die Differenz von Anschauung (im Sichzeigen der Phänomene) und Begriff (beim phänomenologischen Sehenlassen) durch eine symboltheoretische Klammer besser aufgeklärt werden kann. In meiner ersten experimentellen Annäherung an die nicht ganz gewöhnliche Verbindung von Symboltheorie und Phänomenologie geht es mir nicht um ein vollständiges Nachvollziehen des phänomenologischen Sehenlassens, [3] sondern lediglich um die Frage, ob das Zeigen oder Aufweisen, welches das Programm der Phänomenologie ausmacht, in irgendeiner Weise mit anderen Zeigeakten und dem Sichzeigen der Phänomene verbunden ist. Wenn dies so wäre, dann wäre die theoretische Erkenntnis viel stärker an Sozialität und Rhetorik gebunden, als im üblichen Wissenschaftsverständnis gemeinhin angenommen wird.

Um die verschiedenen Dimensionen der terminologischen Verwendung des Zeigens und Sichzeigens auszuloten, erweist es sich als hilfreich, auf den Alltagssprachgebrauch zurückzugehen. Der deutsche Ausdruck »zeigen« umfasst eine große Bandbreite sehr unterschiedlicher Phänomene – angefangen mit dem einfachen Zeigen auf einen Gegenstand, zumeist mit dem Finger, über das imitierende Vorführen von Tätigkeiten, das jemandem anschaulich darstellt, wie etwas gemacht wird, über den kriminalistischen Hinweis, den »Fingerzeig«, bis hin zum Aufzeigen oder Aufweisen eines Gedankens, das in Texten gelingen kann. Sogar theoretische Darstellungen vermögen zu »zeigen«, wie eine Theorie zu verstehen ist. Haben diese verschiedenen Phänomene etwas gemeinsam, oder handelt es sich bei diesen unterschiedlichen Verwendungen des Ausdrucks »Zeigen« lediglich um unverbundene Äquivokationen?

Dass im Englischen für die verschiedenen Gesten und Akte des Zeigens eine ganze Reihe von Ausdrücken zur Verfügung steht, scheint ein Hinweis auf die These einer bloßen Äquivokation zu sein: Im Englischen wird entsprechend zwischen pointing, showing, revealing und demonstrating unterschieden. Versuchen wir dennoch etwas Gemeinsames in diesen sehr unterschiedlichen Akten zu erkennen, so setzen sie alle voraus, dass etwas in die Aufmerksamkeit des Zeigenden gelangt ist, etwas, das er oder sie entdeckt oder herausgefunden hat oder das ihm einfach aufgefallen ist. Die zweite Gemeinsamkeit liegt darin, dass dieses individuell oder kollektiv Erfasste im nächsten Schritt anderen zugänglich gemacht wird – sie sollen es auch wahrnehmen. Es handelt sich offenbar um das Teilen von einer Art von Erkenntnis, die aber offenkundig nicht immer oder nicht ausschließlich propositional, d.h. aussageförmig, verfasst ist. Eindeutig gilt dies für das pointing, das Zeigen mit dem Finger, das ganz ohne Sprache auskommen kann, etwa bei Menschenaffen und bei Kleinkindern vor dem Spracherwerb. [4] Das showing dürfte zwar nicht notwendig, aber doch oft mit Sprache verbunden sein, während das revealing, das Zeigen oder Aufweisen, das im Darstellen von Theorie möglich ist, sich notwendigerweise sprachlich artikuliert. Doch die Artikulation in der Sprache bedeutet nicht, dass dasjenige, was mit dem Zeigen auch im theoretischen Kontext angesprochen ist, selbst wesentlich propositional strukturiert ist – auch wenn das theoretische Aufweisen auf Aussagen angewiesen ist. Der Gebrauch des Ausdrucks »Zeigen« verweist darauf, dass Erkenntnis nicht immer propositional verfasst ist, sondern auch als vergegenwärtigende Bekanntschaft mit einem Gegenstand vorkommen kann. [5] Zeigen ist nicht nur performativ, sondern hat zudem, so könnte man mit einem Ausdruck Susanne Langers sagen, »präsentative« Eigenschaften. Das gilt selbst dann, so meine These, wenn es sprachlich – in Langers Terminologie: »diskursiv« – verfasst ist. [6]

Im folgenden zweiten Abschnitt möchte ich die grundlegende rhetorische Situation des Zeigeaktes herausarbeiten, um so meine Lesart der heideggerschen Phänomenologie als einer Sozialtheorie vorzubereiten. Wenn es zutrifft, dass jeder Zeigeakt in eine soziale Situation eingebettet ist, so gilt dies auch für das phänomenologische Zeigen, dessen Struktur im dritten Teil untersucht wird. Das hätte dann Folgen für eine möglicherweise sogar notwendig praktische Orientierung der Phänomenologie. Der vierte Abschnitt behandelt die Eigenaktivität der Phänomene, ihr Sichzeigen. Die Tätigkeit der Phänomenologie, ihr aufweisendes Sehenlassen, wird im fünften Abschnitt untersucht und gefragt, ob es sich dabei um eine auch präsentative Form der Symbolisierung im Sinne Susanne Langers handelt. [7] Der Text schließt mit Überlegungen zu den normativen Aspekten einer »reinen« Deskription, welche die Phänomenologie rückbinden an die Rhetorik und an die Anschaulichkeit theoretischer Rede.

 

Rhetorik und Semantik des Zeigens

Das Wort »zeigen« impliziert eine Situation, die danach verlangt, durch die Grundelemente der Rhetorik als einer Theorie der Rede (nicht etwa als Kunst der manipulativen Überredung) charakterisiert zu werden: Jemand zeigt jemand anderem etwas. Jeder Zeige-Akt hat einen Adressaten; man kann nicht sich selbst etwas zeigen. Wenn man etwas sucht und nicht findet, können unter Umständen andere es einem zeigen. Man kann zwar etwas suchen, ohne dass jemand anderer anwesend ist, aber zum Zeigen gehören immer mindestens zwei: Ein Zeigender und jemand, dem es gezeigt wird. Ich kann mir vielleicht etwas beweisen – aber ich kann mir nichts zeigen. Warum ist das so?

Ich kann einen mathematischen Beweis führen, ohne dies an jemanden adressieren zu müssen – aus Lust am Erkennen etwa. Aber auch dann wird dieser innere Erkenntnisprozess oder Monolog normalerweise erst sinnvoll durch die Objektivierung mittels mathematischer Zeichen, die für andere lesbar und an sie gerichtet sind: Auch andere müssen meinen Beweis anerkennen, wenn ich keinen Fehler gemacht habe. Die alltagssprachliche Semantik des »Sich-selbst-etwas-Beweisens« setzt noch deutlicher als das »Etwas-Beweisen« – ähnlich wie das Zeigen – zwei interagierende Instanzen voraus: beispielsweise eine verhältnismäßig willensstarke und eine willensschwache, wenn man sich beweist, was man leisten kann. Denn warum sonst sollte man »sich« (selbst) etwas beweisen? Oder man unterstellt eine selbstbewusste Instanz, die sich etwas zutraut, und eine skeptische, die erst noch überzeugt werden muss – und die eine beweist der anderen etwas, was diese zunächst nicht glauben wollte.

Wenn die (soziale) Zweistelligkeit schon für den Spezialfall eines Aktes gilt, der zumeist nicht als intersubjektiver Akt verstanden wird, für das Beweisen, so erst recht für das offenkundig an ein Gegenüber gerichtete Zeigen. Zeigen ist – so meine These – immer mehrstellig: Dem, der zeigt, ist das, worauf er zeigt, eher aufgefallen als demjenigen, dem es gezeigt wird. Dessen Aufmerksamkeit soll erst durch den Akt des Zeigens zu dem Gezeigten geleitet werden. Deshalb kann der Zeigende nicht mit der Person, der etwas gezeigt wird, identisch sein. Ich kann allenfalls sagen: Etwas zeigt sich mir, etwas hat sich mir gezeigt, aber ich kann nicht sinnvoll sagen: Ich zeige mir etwas. Denn Zeigen setzt das Finden, genauer: das Entdeckt- oder Wahrgenommenhaben durch denselben Akteur voraus – und wenn ich etwas gefunden oder wahrgenommen, buchstäblich ent-deckt habe, dann brauche ich es mir nicht mehr zu zeigen, denn ich habe es ja bereits erkannt. Ich kann also nur etwas jemandem (genauer: jemand anderem) zeigen. [8]

Damit impliziert die Semantik des Zeigens einen zeitlichen und einen räumlichen Aspekt: Wer etwas zeigt, hat das Gezeigte eher entdeckt als derjenige, dem es gezeigt wird. Der räumliche Aspekt liegt in den Blicken und im Gesehenhaben oder allgemeiner: im Wahrgenommenhaben in einem Raum, der spätestens durch das Zeigen zu einem gemeinsamen Raum wird. Wer etwas zeigt, hat es bereits gesehen oder auf andere Weise wahrgenommen, während derjenige, dem es gezeigt wird, sich dessen, was gezeigt wird, erst durch den Akt des Zeigens gewahr wird. Nur unter diesen Bedingungen ist der Akt des Zeigens performativ gelungen. Das gilt auch für den Fall, dass nicht etwas Gegenständliches gezeigt wird, sondern wie etwas gemacht wird: die Art und Weise, die entsprechende Tätigkeit zu verrichten, wird durch das Vorführen sichtbar gemacht; der Adressat des Zeige-Aktes muss die Demonstration wahrgenommen haben, damit zu recht konstatiert werden kann: ihm (oder ihr) ist gezeigt worden, wie es geht. Wenn auf eine Aufforderung der Form: »Sieh mal, was sich dort befindet!«, die Antwort zutrifft: »Aber ich habe es doch schon gesehen!«, oder gar: »Das habe ich dir vorhin bereits gezeigt!«, dann würde die zweite Sprecherin nicht nachträglich sagen: »Mir ist etwas gezeigt worden«, denn sie hatte es bereits vorher entdeckt. Sie würde sagen: »Person X [die erste Sprecherin] wollte mir die Sache y zeigen.« Der Akt des Zeigens ist in diesem Fall misslungen, weil die Adressatin die Sache y bereits gesehen hatte.

Zeigen setzt voraus: Etwas fällt mir auf, zeigt sich, hebt sich heraus – und ich sehe es, entdecke es. Und dann? Ich weise jemanden auf etwas hin – ich zeige ihm das, was ich entdeckt habe; er soll auch hinschauen, soll es auch sehen. Wie mache ich das?

Das Zeigen mit dem Finger ist eine ontogenetisch erworbene und kulturell modellierte Geste; sie muss erlernt werden. Säuglinge begreifen nicht von Geburt an, dass sie den Finger in der Sichtachse des Zeigenden verlängern müssen, um zu sehen, wohin gezeigt wird. Sie sehen bloß den Finger und nicht das Gezeigte und auch nicht das Zeigen als Zeigen – auch dann noch nicht, wenn sie selbst absichtlich, also kontrolliert, den Finger ausstrecken können. [9] Damit das Zeigen als Zeigen erkannt werden kann, sind anscheinend Lernprozesse erforderlich, durch die erkannt werden kann, dass diese Geste etwas bedeutet und nicht etwa eine missratene oder völlig bedeutungslose Bewegung ist.

Ab einem Alter von etwa einem Jahr wird die Zeigegeste von Kleinkindern in kommunikativer Absicht verwendet, [10] also deutlich vor dem Spracherwerb. Wie die Sprachkompetenz, so ist auch »Zeigen« universell in dem Sinne, dass immer und überall Menschen einander etwas zeigen, [11] wobei die Geste selbst, die spezifische Art des Zeigens, je nach kulturellem Kontext variiert: Mancherorts wird nicht oder nicht nur mit der Hand gezeigt, sondern auch mit dem Kopf – manchmal mit Blicken, manchmal mit den Lippen, manchmal mit der ganzen Körperhaltung. Zumeist sind auch verschiedene Gesten für unterschiedliche Gegenstände des Zeigens vorgesehen: beispielsweise der ausgestreckte Finger für Dinge, die ganze Hand für Personen und für Sachverhalte beide Hände. Spezifische gesellschaftliche Regeln haben sich um das Zeigen herum etabliert. So kann es als unhöflich gelten, mit dem Finger auf Personen zu zeigen, und in Ghana etwa gibt es ein left hand pointing taboo. Wer dort nach links zeigen will, muss dafür oft gewisse äußerst unbequeme Haltungen und Bewegungen in Kauf nehmen, um es mit der rechten Hand tun zu können. [12]

Die Motive, aus denen etwas gezeigt wird, reichen von der Absicht, zu befehlen oder aufzufordern oder zu bitten, Hilfe anzubieten (ich zeige dir, wie es gemacht wird) oder zu informieren, bis hin zu dem Wunsch, bestimmte Wahrnehmungen, Eindrücke oder Gefühle mit anderen zu teilen. In jedem Fall aber setzt der Sachverhalt, dass ich eine Geste oder eine Darstellung als Zeigeakt erkenne und mir dann auch gegebenenfalls etwas zeigen lassen kann, gemeinsame Weltbezüge voraus, einen Horizont, von dem her die Geste verständlich ist. Diese Feststellung ist nicht ganz so trivial, wie sie zunächst klingt, denn sie bezieht sich nicht nur auf spezifische konventionelle Zeigegesten, sondern überhaupt auf das basale Verstehen einer Bewegung, dem Zeigeakt, als einer Einheit, die unter bestimmten Umständen Bedeutung zu generieren vermag. Warum überhaupt verstehen wir eine Zeigegeste und interpretieren sie nicht als eine irgendwie entgleiste Bewegung? Was ist im Verstehen von Zeigegesten vorausgesetzt?

Die Rekonstruktion des Alltagssprachgebrauchs hat bis jetzt fünf konstitutive Elemente für die Semantik und Pragmatik des Zeigens erbracht: den Zeigenden, den Adressat des Zeigens, den Zeigeakt als performative Geste, den Sachverhalt oder die Sache, auf die hingewiesen oder die gezeigt wird, und schließlich den gemeinsamen kulturellen Horizont, aus dem heraus die Zeige-Geste verständlich wird. Es ist wenig überraschend, dass dies den Grundelementen der Rhetorik entspricht, einer Rhetorik, die als Theorie der Überzeugung und noch allgemeiner als eine rudimentäre Sozialphilosophie der Sprechhandlung (und nicht als manipulative Überredungskunst) aufgefasst wird.

Bei meinen bisherigen Überlegungen spielte die Frage, ob das Zeigen von Rede begleitet ist oder nicht, keine wesentliche Rolle. Zwar kann man, wie erwähnt, auch durch Sprechakte etwas »zeigen«, doch handelt es sich in dieser Verwendung des Begriffs bereits um eine sedimentierte Metapher; gemeint ist damit keine Geste oder körperliche Bewegung. Aber auch als Geste ohne begleitende Sprache ist das Zeigen in die fünfstellige Relation der Rhetorik eingebettet; die gestische Bewegung verbindet den Kommunizierenden mit einem Empfänger und einem Sachverhalt und sie setzt geteilte Weltbezüge voraus.

Damit wäre für die verschiedenen Arten des Zeigens – pointing, showing, revealing und demonstrating – die Einbettung in eine rhetorische Situation erwiesen. Entsprechendes müsste dann auch für den Spezialfall des phänomenologischen Zeigens gelten. Die Besonderheit des phänomenologischen Aufweisens besteht darin, dass es mit einer pragmatischen Auffassung des Zugangs zu den Dingen und dem Sichzeigen der Phänomene verbunden ist. Die Phänomenologie Heideggers thematisiert selbst bereits die rhetorische Grundstruktur in der Sozialtheorie des Mitseins, die aus Heideggers Auseinandersetzung mit Husserls Bewusstseinsanalysen entstanden ist.

 

Phänomenologie als Sozialtheorie: Das In-der-Welt-Sein

Es ist ein Topos vor allem der sich postmodern verstehenden Philosophie, Heidegger suche die Dualität von Subjekt und Objekt zu überwinden. Heideggers Grund dafür ist aber nicht der, den postmoderne Theoretiker gern in Anspruch nehmen, wonach jede Relation von Subjekt und Objekt eine Hierarchie voraussetzt, die in sich problematisch wäre. Für Heidegger folgt die Subjekt/Objekt-Unterscheidung aus einer Dingontologie, die nach seiner Auffassung auf einem Kategorienfehler beruht. Diese Ontologie unterstellt nämlich, dass Subjekte in der gleichen Weise in der Welt seien wie Dinge. Nun ist jedes menschliche Wesen zwar auch ein Körperding und insofern ebenso »vorhanden« im Raum wie andere Dinge auch, aber in seinem Verhältnis zur Welt ist das menschliche Subjekt, das Dasein, vor allem dadurch bestimmt, dass es sich tätig auf diese Welt bezieht und Dinge in ihren Bewandtniszusammenhängen wahrnimmt – eben darin, was sich mit ihnen machen lässt, um bestimmte Ziele zu erreichen. Dasein (das menschliche Subjekt) bezieht sich im Modus der »Zuhandenheit«, dem »Um-zu«, auf Dinge in der Welt. Heidegger entwickelt seine Variante der phänomenologischen Methode in Auseinandersetzung mit Husserls Auffassung von Phänomenologie, und zwar insbesondere im Kontext seiner Kritik von Husserls Intentionalitätsbegriff.

»Intentionalität« bezeichnet für Husserl die Bezogenheit des Bewusstseins auf Gegenstände. Wir nehmen nicht überhaupt wahr, sondern wir nehmen etwas wahr, wir wünschen nicht überhaupt, sondern etwas Bestimmtes, wir fürchten uns vor etwas. Mit dem Intentionalitätsbegriff gewinnt Husserl eine neue Beschreibungshinsicht auf das alte Problem, wie ein Seiendes – das »Ich« oder das »Subjekt« – zu einem anderen Seienden, etwa dem Wahrgenommenen oder dem sonstwie »Gemeinten«, gelangen, gewissermaßen hinübersteigen kann, und zwar so, dass in diesem Überschreiten das, woraufhin überschritten wird, sich »zeigt«, sich »enthüllt«. Heidegger nennt diese Art des Überschreitens in unmittelbaren, alltäglichen Lebensvollzügen die »vulgäre Transzendenz«. [13] Das, was sich zeigt, sind entsprechend die »vulgären« Phänomene – das sind gewissermaßen die, die sich von sich selbst her zeigen, ohne dass es des besonderen Tuns des Phänomenologen bedarf, damit sie sich zeigen.

Heidegger kritisiert erstens, dass Husserl eine ontologisch problematische Sicht des Verhältnisses von Subjekt und Objekt von der Tradition übernimmt. Seine Kritik läuft, sehr abgekürzt, darauf hinaus, dass Husserl die strikte Gegenüberstellung von res cogitans und res extensa nicht überwinden oder auch nur überbrücken könne. Es war aber gerade Husserls hoher Anspruch, dass sein Intentionalitätsbegriff die Funktion haben sollte, die Beziehung des Erkennenden zu den Dingen in der Welt aufzuklären.

Zweitens kritisiert Heidegger, dass Husserls phänomenologische Untersuchungen Einzelerlebnisse isolieren und dabei eine künstliche Einstellung, nämlich die der theoretischen Wahrnehmung und Erkenntnis, zum Paradigma für unseren Zugang zu Welt machen. In seiner Freiburger Vorlesung vom Sommersemester 1923 veranschaulicht Heidegger die Unterschiede zwischen seiner eigenen, lebensweltlich orientierten und Husserls neutralisierender Intentionalitätsauffassung anhand der Beschreibung eines Tisches in einem Zimmer.

Ich skizziere die beiden Deskriptionsweisen als Veranschaulichung von Heideggers Phänomenologie. Bei Husserl wäre der Tisch zunächst ein Ding im Raum, ein materielles Ding, das so und so geformt, so und so gefärbt ist, mit glatter oder rauer Fläche. Dieses materielle Raumding zeigt sich immer nur von einer Seite, beispielsweise beim Herumgehen um das Ding. Wie das Ding wahrgenommen wird, wechselt nach Beleuchtung, Entfernung usw. mit dem Standort des Wahrnehmenden. Soweit Husserls Deskriptionsweise. Bei Heidegger dagegen ist es nicht ein Tisch, sondern der Tisch: dieser bestimmte Tisch bei Heidegger zu Hause, an den man sich setzt zum Schreiben, Essen, Nähen oder Spielen. Man sieht ihm an, z.B. bei einem Besuch, zu welchem Gebrauch er bestimmt ist. Manches an ihm mag unpraktisch sein, ungeeignet, aber auch daran zeigt sich, wofür er verwendet werden soll. Heidegger erzählt die Geschichten des Gebrauchs, der Bezüge, in denen der Tisch stand und steht. Der Tisch, so könnte man seine Deskription weiterführen, drängt sich gewissermaßen von sich aus zu einem ganz bestimmten Gebrauch auf, während die Farbschattierungen, die haptische Qualität der Oberfläche und die Form des Tisches, welche die Husserlsche Beschreibung bestimmen, nur wahrgenommen werden, wenn man ihn in einer künstlichen Einstellung betrachtet, losgelöst aus den Alltagsbezügen, in denen er steht.

Husserls Beschreibung nennt Heidegger eine Fehldeskription, aber nur, insofern es darum geht, das Sichbeziehen-auf-etwas kategorial zu fassen. Damit betrachtet er Husserls Beschreibung nicht als falsch, sondern erkennt ihre Sachhaltigkeit für das theoretische Betrachten an. Nur könne man daraus nicht unseren Zugang zu Welt ableiten, vielmehr müsse man umgekehrt die theoretische Haltung als eine spezielle, durch die abendländische Philosophietradition vermittelte Zugangsweise erschließen.

Das Ergebnis für Heidegger ist eine neue Bestimmung von Dasein und Sein (also nicht mehr von Subjekt und Objekt) und von da aus eine neue Kontextualisierung von Intentionalität. Bevor man Einzelerlebnisse isoliert, muss man nach Heidegger um die ontologische Grundstruktur ihrer Einbettung wissen, und dann zeigt sich, dass man die einzelnen Akte von dem her beschreiben muss, was Heidegger das »In-der-Welt-Sein« nennt: Wir sind immer schon auf die Welt bezogen und orientieren uns in ihr, z.B. im Hinblick darauf, welche Bewandtnis es mit den Dingen hat, wozu wir sie gebrauchen können. Heidegger weist Husserls Auffassung von Intentionalität zurück und interpretiert sie grundlegend um, indem er den menschlichen Bezug auf Dinge in einen neuen Kontext stellt. Das In-der-Welt-sein wird damit für Heidegger zur grundlegenden Bestimmung des menschlichen Daseins. Es ermöglicht, dass wir uns zu Dingen in der Welt verhalten können. [14]

Das Sichverhalten zu Dingen enthält immer ein »um-zu«, eine Verweisung von etwas auf etwas, weil wir die Dinge gebrauchen, um etwas damit zu tun. Der Tisch ist niemals nur Tisch, sondern immer Tisch als Unterlage für etwas, ein Tisch, an dem gegessen oder geschrieben wird, der auf den Gebrauch verweist, der von ihm gemacht werden kann, auf das, was dazu erforderlich ist, wie auch auf das, was für seine Herstellung benötigt wurde, auf Holz und dessen Zurichtung usw. Es bedarf einer besonderen Einstellung, um den Tisch frei von Zwecken zu betrachten, einer rein betrachtenden, theoretischen Haltung, die keineswegs selbstverständlich ist.

Ein wesentlicher Zug in Heideggers Sein und Zeit besteht darin, zu zeigen, dass und wie in der abendländischen Philosophie die Haltung des theoretischen Betrachtens als Paradigma für unseren Zugang zu Dingen in der Welt behandelt worden ist. Dies hält Heidegger für falsch; vielmehr beziehen wir uns auf die Welt »zunächst und zumeist« im Modus der »Zuhandenheit«. Wir nehmen Dinge normalerweise gerade nicht in ihrer bloßen Vorhandenheit als beziehungslose Gegenstände wahr, sondern wir gebrauchen sie, erschließen sie uns im Gebrauch. Sie sind Teile von Verweisungsketten, die durch Handlungszusammenhänge entstehen. Wir benutzen sie. Der Stift etwa verweist auf die Möglichkeit des Schreibens und damit der Mitteilung an andere, zudem ist er von anderen hergestellt worden.

In unserem In-der-Welt-Sein und dem Gebrauch der Dinge sind wir immer schon auf andere bezogen; mit dem Zuhandenen begegnen sie uns als diejenigen, für die jene Dinge gemacht sind, die sie gebrauchen, oder auch als Hersteller der Dinge. Dies ist der entscheidende Schritt in Heideggers Sozialtheorie. Der Bezug auf Sachen und ihren Gebrauch ist vermittelt durch die Beziehung zu anderen, und umgekehrt ist die Beziehung zu anderen vermittelt durch Dinge; keines ist gewissermaßen ohne das andere zu haben. Eltern beispielsweise sind Personen, die für ihre Kinder sorgen, sie ernähren und eine angemessene Umgebung bereit stellen. Selbst diese intime Beziehung ist über Sachbezüge vermittelt. Das Mitsein, welches nach Heidegger jedes Dasein bestimmt, ist in seinem konstitutiven Sachbezug nicht instrumentell gedacht, sondern als eine Bestimmung des Daseins, die zugleich mit unserem Bezug auf Dinge, der Zuhandenheit, gegeben ist. Auch das Alleinsein und entsprechend der isolierte Bezug eines Subjekts auf einen Gegenstand ist abkünftig gegenüber dem Miteinandersein; wir sind als Dasein prinzipiell durch das Mitsein bestimmt.

Die hier skizzierten konstitutiven Bestimmungen des In-der-Welt-Seins – genannt habe ich hier nur die Zuhandenheit und das Mitsein – ermöglichen erst das, was Husserl als Intentionalität, als Bezogenheit des Bewusstseins auf Gegenstände, beschrieben hat. Anders als das notwendigerweise verkörperte In-der-Welt-Sein ist Husserls Intentionalitätsbegriff von vornherein als reines Bewusstseinsphänomen gefasst und kann damit gerade nicht mehr erklären, wie Menschen wirkliche Beziehungen zu wirklichen Dingen in der Welt herstellen; Husserl setzt die Trennung zwischen einer Welt des Geistes, dem Bewusstsein, und den materiellen Dingen, dem bloß Vorhandenen, durch seine Einklammerung der Bewusstseinsakte (ēpochē) voraus. Zudem fassen Husserls Logische Untersuchungen einzelne Erlebnisse als intentionale Akte auf. Sie stellen das Bewusstsein als eine Kette solcher Einzelerlebnisse vor, so als ob das Bewusstsein aus einer Reihe von Photographien der Welt bestünde, und berücksichtigen nicht den prozessualen Charakter des Erlebens und seine zeitliche Dimension, die schon jedem einzelnen Erlebnis inhärent ist durch seine Verweisungsstruktur. [15]

Soweit die »Vorgeschichte« der Intentionalität und ihrer Kritik bei Heidegger. Erst von diesem Horizont her kann Heideggers Auffassung der Phänomene als das, was durch die Arbeit des Phänomenologen zum Sichzeigen gebracht werden muss, verständlich werden. Die phänomenologische Methode versteht sich selbst als ein Aufweisen, das dadurch ermöglicht wird, dass sich etwas zeigt.

 

Die minimale Aktivität der Phänomene

Während Heidegger mit seiner Konzeption des In-der-Welt-Seins versucht, den Dualismus von Subjekt und Objekt zu überwinden, zielt seine Analyse des Sichzeigens der Phänomene darauf ab, die strikte und aus seiner Sicht falsche Alternative von Aktivität und Passivität im Zeigeakt zu unterlaufen. Denn wenn es jemanden gibt, der zeigt, und etwas, das gezeigt wird, so impliziert diese Relation eine klare Aktivität seitens des Zeigenden, des Subjekts oder Akteurs, und eine eindeutige Passivität seitens dessen, was gezeigt wird und damit Objekt in diesem Akt ist. Diese Vorstellung einseitiger Aktivität führt zu einem allzu starken Subjektbegriff, der den Phänomenen nicht gerecht wird und aus Heideggers Perspektive Ergebnis einer irreführenden Ontologie ist, welche Dinge ebenso wie menschliche Subjekte als »Vorhandenes« auffasst. Statt dessen ermöglicht Heideggers Analyse des Sichzeigens eine neue Theorie der Wahrnehmung, die der Eigenaktivität dessen, was in die Wahrnehmung eintritt, Raum gibt. Die Konzeption des Sichzeigens erfasst die minimale Aktivität dessen, was sich in der Wahrnehmung aufdrängt, ebenso wie die passive Seite der Wahrnehmung und beschreibt so die Eigendynamik des Prozesses zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem, ohne dabei die alte Subjekt-Objekt-Hierarchie lediglich umzukehren und die Objekte zu hyperaktiven Handlungssubjekten zu machen. [16]

Heidegger entfaltet das, was er unter dem Sichzeigen versteht, in dem Kontext, in dem er den Begriff und die Methode der Phänomenologie erläutert. [17] Dort legt er zunächst die griechischen Begriffe phainomenon und logos etymologisch aus. Er beginnt mit der Feststellung, dass der griechische Ausdruck phainomenon (auf den der Terminus »Phänomen« zurückgeht) von dem Verb »phainesthai« abgeleitet ist. Dieses Verb bedeutet »sich zeigen«; phainomenon ist der Ausdruck für das, was sich zeigt.

Aufschlussreich für die Phänomenologie und Kulturtheorie des Zeigens ebenso wie für die Phänomenologie als Sozialtheorie ist eine grammatische Besonderheit des Altgriechischen, welche die Bedeutung des phainesthai, des Sichzeigens, hervorbringt: Das Altgriechische kennt nämlich nicht nur Aktiv und Passiv, sondern auch das Medium als diejenige Verbform, die semantisch zwischen Aktiv und Passiv steht. Das, was in der Sprachwissenschaft »genus verbi« genannt wird, umfasst also im Griechischen drei Geschlechter: Aktiv, Passiv und als drittes noch das Medium. Phainesthai ist eine mediale Bildung von phaino: an den Tag bringen, in die Helle stellen. Phainesthai heißt also weder »zeigen« (das wäre aktiv: an den Tag bringen) noch »gezeigt werden« (passiv: an den Tag gebracht werden), sondern bedeutet »sich zeigen«: Das zugehörige grammatische Subjekt agiert weder aktiv, indem es zeigt (dann müsste es auf etwas zeigen), noch passiv – dann wäre es das, was gezeigt wird, das Objekt des Zeigens. Es zeigt sich vielmehr. Dazu bedarf es keines Anstoßes von außen; es zeigt sich »von ihm selbst her«, selbstgenügsam oder autark gewissermaßen (im Sinne des grammatischen Mediums): unabhängig von jemandem, der etwas zeigt, und d.h. eben ausdrücklich nicht als passiver Gegenstand, der Objekt eines Gezeigtwerdens wäre.

Heidegger übersetzt deshalb das von phainesthai abgeleitete phainomenon als das Sich-an-ihm-selbst-Zeigende, das Offenbare. Die Phänomene sind dann die Gesamtheit dessen, was offen zu Tage liegt oder doch an den Tag, ins Helle gebracht werden kann.

Dieses »kann« hat eine zentrale Funktion. Heideggers Aussage, dass der Begriff »Phänomen« beides umfassen soll – sowohl das, was bereits am Tag liegt, als auch das, was lediglich ans Licht befördert werden kann – hat weit reichende Konsequenzen. Heidegger weist darauf hin, dass Seiendes sich auf ganz verschiedene Weise »von ihm selbst her« [18] zeigen kann. Im Extremfall kann sich Seiendes sogar als das zeigen, was es von sich selbst her gerade nicht ist. In diesem Sichzeigen, sagt Heidegger, sieht das Seiende so aus wie …, es ist ein bloßes Scheinen.

Während Heideggers diffizile Analysen des Scheinens und der verschiedenen Bedeutungsnuancen des Begriffs der Erscheinung, den er letztlich auf den Phänomenbegriff zurückführt, für mein Argument unerheblich sind, muss sein Begriff des »vulgären Phänomens« jedoch Erwähnung finden. Mit diesem Titel bezeichnet er Kants Begriff der Erscheinung, d.h. den Begriff desjenigen Seienden, das der empirischen Anschauung zugänglich ist. Heidegger führt an dieser Stelle seiner Überlegungen eine Formulierung ein, die für jede Politik des Zeigens weit reichende Folgen hat, wenn sie denn sachlich zutrifft: Er spricht vom unthematischen Sich-zeigen. Etwas, das sich zeigt, bedarf – so meine Interpretation – der Thematisierung, um gesehen zu werden. Die Thematisierung kann dadurch erfolgen, dass auf den betreffenden Gegenstand gezeigt wird, im Sprechen oder Schreiben oder auch durch andere symbolische Mittel wie die der Kunst. In den vulgären Phänomenen, in Kants Welt der empirischen Anschauungen, zeigt sich etwas unthematisch, und dieses unthematische Sichzeigen [19] kann thematisch zum Sichzeigen gebracht werden: »[…] und dieses Sich-so-an-ihm-selbst-zeigende (Formen der Anschauung) sind Phänomene der Phänomenologie«. [20] Die Phänomenologie ist also gewissermaßen die Geburtshelferin der Phänomene. Gehen wir zunächst von dem aus, was der empirischen Anschauung zugänglich ist, vom »vulgären Phänomenbegriff« also, dann müssen wir weiter fragen, was sich in den vulgären Phänomenen unthematisch zeigt und wie es zum Sichzeigen gebracht werden kann.

Unterläuft Heidegger nicht seine Idee des Sich-selbst-Zeigens, wenn dasjenige, was sich in der Weise vulgärer Phänomene zeigt, erst noch durch eine Aktivität des philosophierenden Subjekts zum Sichzeigen gebracht werden muss? Handelt es sich nicht sogar um einen begrifflichen Widerspruch? Die Auflösung dieses bloß scheinbaren Widerspruchs wird möglich, wenn die grammatische Form des Mediums ernst genommen wird: Das Sichzeigen ist weder Aktivität noch Passivität, sondern hat, wenn man so will, minimale Aspekte von beiden Genusformen. Es bedarf einer minimalen Aktivität auf der Seite des Phänomens – als Bedingung der Möglichkeit des Sichzeigens. Denn eine reine Passivität auf Seiten des Phänomens würde es zum Objekt machen, zum bloß vorhandenen Ding unter beziehungslosen Dingen.

Vor diesem Hintergrund lässt sich fragen, wozu die Aktivität des Phänomenologen – denn um eine Tätigkeit handelt es sich zweifellos – erforderlich ist; was es heißt, das Phänomen zum Sichzeigen zu bringen. Um diese Frage zu beantworten, ist es hilfreich, sich die Struktur der normalen Wahrnehmung bewusst zu machen. Die einfache Wahrnehmung kann im Genus des Mediums beschrieben werden, als eine minimale Interaktion dessen, was mir erscheint, mit mir als wahrnehmendem Subjekt. Der Phänomenologe Hermann Schmitz bestimmt die Wahrnehmung als leibliche Interaktion, d.h. als einen Prozess, in dem das Objekt der Wahrnehmung und das wahrnehmende Subjekt sich leiblich wechselseitig aufeinander einstimmen. Dieser Prozess lässt sich nicht mehr bloß als einzelsinnliche Wahrnehmung beschreiben, sondern geht darüber hinaus, da sowohl zumindest die Propriozeption als auch das wahrgenommene Objekt daran beteiligt sind. Zudem sprechen uns Gegenstände, die uns in einer zunächst ungegliederten Situation begegnen, durch die Gestaltcharaktere an, die sie haben, und durch Bewegungssuggestionen, die von ihnen ausgehen. [21] Diese Gestaltcharaktere und Bewegungssuggestionen finden Resonanzen in unserem eigenleiblichen Erleben. Das Sicheinstimmen lässt sich weder als aktiver, bewusster Prozess noch als ein passiver Vorgang beschreiben, sondern angemessener als ein medialer Akt, vergleichbar dem Sichzeigen. [22]

Die von Schmitz beschriebene leibliche Interaktion bezieht sich auf das, was von Kant als »Erscheinung« und von Heidegger als »vulgäres Phänomen« bezeichnet wird. Phänomene im Sinne der Phänomenologie begegnen nicht der naiven, d.h. der phänomenologisch unaufgeklärten Wahrnehmung. Es bedarf vielmehr der Arbeit der Phänomenologin, um sie sichtbar zu machen und sie in diesem Sinne als Sehenlassen zugleich aktiv zu zeigen. Phänomene zeigen sich von ihnen selbst her, aber sie können sich nur jemandem zeigen. Der Phänomenologe lässt sie sehen durch seine gewissermaßen archäologische Arbeit, indem er historisch geronnene Selbstverständlichkeiten in unserer alltäglichen Sicht der Dinge Schicht für Schicht abträgt, eine Tätigkeit, welche die Phänomene zugänglich macht und so aus ihrer durchschnittlichen Unauffälligkeit heraushebt. Dabei zielt die Phänomenologie nicht auf einen »wahren« Ursprung der Dinge ab, wohl aber auf bisher verborgene, aktivierbare Bedeutungen, die unter falschen Selbstverständlichkeiten, die sich im Verlauf der Philosophie- und Geistesgeschichte durch bestimmte übernommene Kategorien und Denkgewohnheiten herausgebildet haben, verschüttet sind.

Dabei kommt Heideggers Verständnis der Rolle des logos zum Tragen, den er als Rede versteht, nicht etwa als Vernunft. Heidegger bezieht sich auf Aristoteles’ Erläuterung der Rolle der Rede als apophainestai, eine Wortbildung, die auch semantisch dem phainestai, dem Sichzeigen, nahe steht (in Heideggers Übersetzung: sehen lassen von ihm selbst her). [23] Der Logos lässt etwas sehen, nämlich das, wovon die Rede ist, das, worauf sie sich bezieht, und zwar – und hier bewegt sich Heidegger mit Aristoteles im rhetorischen Modell – lässt er es sehen für die miteinander Redenden. Das, worüber gesprochen wird, soll dem anderen zugänglich werden; es handelt sich um ein »aufweisendes Sehenlassen«. [24] Dieses spezielle Sehenlassen ist nur in der Rede möglich. Das »Aufweisen« ist verwandt mit dem »Zeigen«: Es bezeichnet jene besondere Art des Zeigens, die der Rede bedarf und dennoch etwas anderes ist als eine Erklärung. Im Aufweisen ist ein Etwasdarstellen oder Etwaspräsentieren enthalten, und zwar dessen, wovon in der Rede »die Rede« ist. Dies soll nicht einfach nur repräsentiert werden, es soll vielmehr dem anderen zugänglich gemacht werden.

 

Das aufweisende Sehenlassen als präsentative Symbolisierung?

Das aufweisende Sehenlassen lässt etwas als etwas sehen. [25] Dieses »Sehen als«, in der philosophischen Forschung vielfach untersucht, lässt sich als eine Art Deutung verstehen. In der Terminologie Hermann Schmitz‘ könnte man sagen, das Sehenlassen »deutet« etwas als Fall einer Gattung und »artikuliert« damit einen Sachverhalt; es ist propositional (aussageförmig) strukturiert, auch wenn nicht jede Aussage im Sinne des heideggerschen apophainestai aufweisend ist (Heidegger: »apophantisch«). Erst durch die aufweisende Rede kann Einzelnes als Einzelnes überhaupt sichtbar und »identifiziert« werden; das Erkennen eines Sachverhalts geht, so meine Interpretation, mit der Identifikation von etwas als Fall von etwas einher. Einzelnes kann nur dann identifiziert werden, wenn das Allgemeine, dem es subsumiert ist, zugleich gegeben ist; Einzelnes und Allgemeines sind nur miteinander, nie unabhängig und nicht in zeitlicher Abfolge gegeben. [26]

In diesem Sinne »zeigt« die Phänomenologie etwas, indem sie etwas sehen lässt, das sie mit ihren spezifischen Methoden dazu bringt, sich zu zeigen. Im Unterschied dazu ist die Geste des Zeigens mit dem Finger (noch) kein aufweisendes Sehenlassen, sie ist selbst noch keine Aussage. Phänomenologie bedarf, wie jede andere Art der Wissenschaft, der Aussageform, aber wie jede Form der Wissenschaft bedarf sie auch der Darstellung und Veranschaulichung. Das aufweisende Sehenlassen von etwas ist mehr als bloße Aussage oder Benennung, mehr als Begriffsbestimmung oder Definition: Es ist ein Zeigen, ein Präsentieren, ein Sehenlassen von etwas von ihm selbst her im diskursiven Modus der Sprache. Es bringt gewissermaßen durch anschauliche Deskriptionen etwas Bildliches oder Ikonisches in den Sprechakt ein, das von den Redenden geteilt werden muss, um verstanden werden zu können.

Diese Art des »ikonischen« sprachlichen Aufweisens ist dem Darstellen in den Künsten verwandt. Im künstlerischen Darstellen bezieht man sich anders auf Gegenstände als im diskursiven Symbolismus der Sprache. [27] Susanne Langer hat den Unterschied von »präsentativen« und »diskursiven« Symbolismen – zu Letzteren gehören die Sprache und die formale Logik – dadurch charakterisiert, dass die einzelnen Elemente in diskursiven Symbolismen neben Konnotationsbeziehungen auch Denotationsbeziehungen aufweisen. Ihren einzelnen Elementen kommt eine konventionell festgelegte Bedeutung zu, die zumindest tendentiell auch außerhalb des jeweils bestimmten Kontextes gilt. Im Fall der Sprache kann die Bedeutung einzelner Wörter zwar bekanntlich je nach Kontext etwas variieren, aber sie ist in einer gegebenen Sprachgemeinschaft nicht beliebig offen. Das unterscheidet die Sprache von den präsentativen Symbolformen: Weder ein gespielter oder gesungener Ton noch eine bestimmte Färbung oder eine bestimmte Form oder Gestalt auf einem Bild hat eine Bedeutung, die aus dem spezifischen Kontext, in dem sie erscheinen, herausgelöst werden kann. Statt dessen verweisen in präsentativen symbolischen Formen die einzelnen Elemente ausschließlich aufeinander, sie konnotieren sich gegenseitig, ohne einzeln zu denotieren. Das Darstellen im Sinne des Präsentierens ist wie jede symbolische Tätigkeit ein Akt der Transformation oder der Verwandlung. Etwas, das sich mir gezeigt hat, wird in etwas Neues verwandelt, indem ich es aus seinem Kontext hervorhebe und dadurch auszeichne, dass ich genau diesen (und keinen anderen) Sachverhalt anderen Personen vor Augen führe, es sie sehen lasse mit meinen Augen und in einer von mir gewählten symbolischen Form, aber für sie. Die Bedeutung eines solchen Präsentierens ist nur verständlich, wenn die Konnotationen für andere erkennbar sind.

Gezeigt werden kann in jedem Darstellen nur etwas, das sich zunächst von sich aus gezeigt hat und im Darstellen zum Sichzeigen gebracht wird. Aber dieses Sichzeigen lässt sich nur mit anderen teilen, indem man sich zeigend auf es bezieht: »Nur im Zeigen lässt sich sein Sichzeigen bekräftigen«. [28] Im Akt des »ikonischen« Zeigens wird die Verwandtschaft der unterschiedlichen, aber stets präsentativen symbolischen Formen aller Künste untereinander deutlich – die der bildenden ebenso wie die der musikalischen und literarischen Künste wie auch derjenigen, die verschiedene symbolische Formen verbinden wie Theater, Oper und Film –, aber auch ihre Verbindung mit dem diskursiven Modus theoretischer Texte. Immer geht es im darstellenden Zeigen um etwas Nichtpropositionales, aber dennoch Symbolisches, in der Terminologie Susanne Langers: um die präsentativen, also vergegenwärtigenden Aspekte der jeweiligen symbolischen Form, auch der literarischen und theoretischen Sprache. Gottfried Boehm konstatiert eine enge Verschränkung von Deixis und Bildlichkeit insbesondere in den ikonischen Symbolsystemen. [29] Es ist das bildliche, präsentierende Element, das mit jedem Zeige-Akt, auch einem hoch theoretischen, verbunden ist, das eine Herausforderung für eine allzu nah an der Diskursivität der Sprache orientierte Erkenntnistheorie darstellt.

Die Analyse des Heideggerschen Sichzeigens und seiner Bestimmung der Aufgabe der Phänomenologie führte zur apophantischen, aufweisenden Funktion der Rede, zum Sehenlassen von etwas als etwas. Diese Art des Aufweisens habe ich in eine gewisse Nähe zum ikonischen Zeigen gerückt, das den Künsten zueigen ist. Gemeinsam ist dem sprachlichen und künstlerischen Aufweisen, dass beide Bedeutung generieren und damit als »symbolisch« bezeichnet werden können. Die ikonischen Künste bedienen sich dabei in einem weitaus geringeren Maß und in anderer Funktion strikter Zeichenkonventionen als dies sprachliche Aussagen tun, und vor allem lassen sich bei den darstellenden Künsten kaum eindeutige Denotationsbeziehungen ausmachen. Aber umgekehrt hat auch die Sprache ihre bildlichen und metaphorischen Elemente, und auch eine pragmatische Gebrauchstheorie der Sprache, wie Wittgenstein sie entwickelt hat oder wie man sie im Anschluss an Heideggers Überlegungen entwickeln könnte, kann nicht ausschließlich von eindeutigen Denotationsbeziehungen ausgehen. Dennoch sind die Unterschiede zwischen propositionalen Formen des Aufweisens und Zeige-Akten in der Kunst unübersehbar, auch wenn beide als »symbolisch« und in ihrem deiktischen Aspekt als präsentativ bezeichnet werden können.

 

Evidenz und »reine« Deskription

Wie lassen sich die »ikonischen« oder doch präsentativen Aspekte des aufweisenden Zeigens durch Theorie beschreiben? Hier muss zunächst zwischen einem mündlichen Aufweisen und einer schriftlichen Erläuterung von Theorie unterschieden werden. Auf den ersten Blick drängen sich die präsentativen Aspekte der gesprochenen Rede auf, da sie deutlicher ausgeprägt zu sein scheinen als die entsprechenden Eigenschaften schriftlicher Texte. Nur die gesprochene Rede wird von Gestik, Mimik und Körpersprache begleitet, und nur sie weist prosodische Elemente wie Akzent, Intonation, idiosynkratische Qualität, Sprechtempo, Pausen und einen bestimmten Rhythmus auf – Elemente, die das gesprochene Wort zwar nicht eindeutig denotieren, aber zweifellos selbst bedeutsam sind und oft genug die Bedeutung der Rede beeinflussen, gar relativieren. Die pathische Funktion der Stimme kommt vor allem in der Rede zum Tragen, ein Reichtum, den die Poesie in ihre symbolischen Formen transformiert. [30] Die einzelnen genannten Ausdrucksqualitäten können sicherlich kaum jede für sich als präsentative Symbolisierungen verstanden werden, zumal sie wesentlich unwillkürlich sind und nur in Teilaspekten willentlich hervorgebracht werden können, während die Absichtlichkeit der Hervorbringung für alle symbolischen Formen gilt – wenn auch selbstverständlich nicht genau eine, womöglich intendierte Bedeutung. Obwohl nur manche der Ausdrucksqualitäten absichtlich hervorgebracht werden, liegt in ihnen eine starke Ressource für präsentative Symbolisierung, da sie den Gesamteindruck der Rede und ihre Semantik mitbestimmen.

Der eigentlich harte Testfall für die These, auch diskursive Sprache enthalte präsentative Elemente und dies gelte sogar für das phänomenologische Sehenlassen, ist aber selbstverständlich der verschriftete Text. Dabei ist natürlich an all die Elemente zu denken, die in der modernen Sprach- und Literaturtheorie behandelt werden, wie Metapher, Metonymie und Analogie, Beispiele, Veranschaulichungen, syntaktische Hervorhebungen, Stilbrüche usw. – kurz, der ganze Formenreichtum, der auch in der Tradition der Rhetorik beschrieben wird und in gesprochener ebenso wie in geschriebener Rede vorkommen kann. Mindestens ebenso wichtig unter dem präsentierenden Aspekt von Theorie erscheinen aber diejenigen Eigenschaften von Texten, die Sybille Krämer unter dem Titel der »Schriftbildlichkeit« untersucht, u.a. Gestaltelemente von Texten, Gliederungen, Hervorhebungen usw. Auch sie tragen dazu bei, dass ein Text einleuchtet oder nicht.

Kein Text ist sich selbst genug; jedes schriftliche Zeugnis ist an jemanden gerichtet – sei der Adressat noch so unbestimmt oder ganz anonym, sei er ein späteres Ich, an das ein Tagebuch gerichtet sein kann. Gerade theoretische Texte wollen überzeugen und müssen deshalb auch etwas Zeigen oder Sehenlassen. Ebenso wie beim Zeigen kann man fragen, unter welchen Bedingungen der performative Akt des aufweisenden Sehenlassens gelungen ist. Die Antwort ist einfach: Genau dann, wenn die Leserin dieses Textes ein Evidenzerlebnis hat, wenn ihre Reaktion auf den Text ist: Aha, genau so ist das! Diese Evidenz liegt selbstverständlich auch an der Logik der Argumentation, aber diese Logik wird begleitet, unterstützt oder konterkariert durch die präsentativen Aspekte der theoretischen Rede – durch das, was sie anschaulich macht.

Dies gilt ebenso für das phänomenologische Ideal einer »reinen« Deskription wie für andere theoretische Text-Genres, ein Ideal, das oft missverstanden wird als eines, das frei von jeglichem Interesse ist. Das phänomenologische Ideal der reinen Deskription beinhaltet aber lediglich, dass für die Abwandlung der Phänomene, die auf einen gemeinsamen Kern von Bedeutungen unter allen denkbaren Bedingungen führen soll, spezielle Absichten, normative Vorgaben und interessegeleitete Verwendungsweisen von Begriffen ausgeschaltet werden sollen. Die Deskription selbst dagegen steht selbstverständlich in einem interessegeleiteten Theorie-Zusammenhang, der vermittelt werden soll; es geht nicht um die Deskription um ihrer selbst willen, sondern darum, dass sie anderen neue Wahrnehmungen eröffnen soll.

Gerade Phänomenologie, die beansprucht, geistesgeschichtlich tradierte Begriffe und Abstraktionsweisen in Frage zu stellen, um neue Sichtweisen zu ermöglichen, ist darauf angewiesen, dass ihre Deskriptionen evident und deshalb anschaulich sind. Eine Phänomenologie, die bei ihren Rezipienten keine Evidenzen erzeugt, hat ihren Namen nicht verdient. Wie jede Philosophie, so bedient sich auch die Phänomenologie in ihrem aufweisenden Sehenlassen präsentativer ebenso wie diskursiver Mittel. Und wie jedes Evidenzerzeugen, jedes Aufweisen, jede Theorie, so ist auch die phänomenologische Erkenntnis abhängig von der rhetorischen Situation, in welcher der Akt des Aufweisens vollzogen wird. In der Theorie sind wir darauf angewiesen, dass andere uns etwas sehen lassen, um an sie anschließen zu können. Dies ist ein genuin sozialer Akt.

 

 

 



 

 

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Endnoten

[1] Ausdrücklich schreibe ich nicht »explizierendes Zeigen«, da in den meisten wissenschaftlichen Kontexten »explizierend« als »erklärend« und damit als Gründe gebend verstanden wird. Dies ist hier jedoch nicht gemeint. Statt dessen geht es mir um das phänomenologische Explizieren, das eher als ein Ausfalten von vorher bereits Vorhandenem aufzufassen ist. Letzteres liegt gewissermaßen »eingefaltet« vor und bedarf der Phänomenologie, um ausgefaltet werden zu können. Keinesfalls handelt es sich um eine Erklärung, gar in einem kausalen oder logischen Sinn.

[2] Dass Phänomene sich von selbst zeigen, gilt nur mit Einschränkungen, wie im Folgenden noch deutlich werden wird. So ist nach Heidegger Phänomen »offenbar solches, was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt […], aber zugleich etwas ist, was wesenhaft zu dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, gehört, so zwar, dass es seinen Sinn und Grund ausmacht« (Martin Heidegger: Sein und Zeit (1927), Tübingen 1986, S. 35, fortan zit. als Heidegger 1986).

[3] Dies unternimmt Thorsten Streubel in »Wahrheit als methodisches Problem der phänomenologischen Deskription«, in: Husserl Studies, im Erscheinen, fortan zit. als Streubel i.E.

[4] Vgl. Michael Tomasello: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation, Frankfurt a.M. 2009 (engl.: Origins of Human Communication, Cambridge 2008), fortan zit. als Tomasello 2009.

[5] Vgl. Gottfried Gabriel: »Zwischen Wissenschaft und Dichtung. Nicht-propositionale Vergegenwärtigung in der Philosophie«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51 (2003), S. 415-425.

[6] Sybille Krämer gehört zu den wenigen Philosophinnen und Philosophen, die bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten die Symboltheorie von Susanne K. Langer als zentral für die Bedeutungstheorie ansahen. In ihrer eigenen Theorie von Schriftlichkeit, Mündlichkeit, Performanz und Sprache lassen sich einige versteckte Hinweise auf Langers theoretischen Horizont finden.

[7] Vgl. Susanne K. Langer: Philosophy In a New Key. A Study In the Symbolism of Reason, Rite, and Art, Cambridge/MA 1942 (dt.: Philosophie auf neuem Wege. Das Symbol im Denken, im Ritus und in der Kunst, Frankfurt a.M. 1984), fortan zit. als Langer 1942.

[8] Der andere kann dabei anonym oder virtuell bleiben.

[9] Vgl. Tomasello 2009.

[10] Vgl. ebd., S. 123.

[11] Sogar der Beginn des Verwendens der Zeigegeste von Kleinkindern mit einem Jahr scheint ein universelles, jedenfalls aber kulturübergreifendes Muster zu sein. Vgl. George Butterworth: »Pointing Is the Royal Road to Language for Babies«, in: Sotaro Kita (Hrsg.): Pointing: Where Language, Culture, and Cognition Meet, Hillsdale 2003, S. 9-33.

[12] Vgl. Sotaro Kita, James Essegbey: »Pointing Left In Ghana: How a Taboo On the Use of the Left Hand Influences General Practice«, in: Gesture 1 (2001), S. 73-95.

[13] »Vulgär« bezeichnet hier ebenso wie bei dem unten, im vierten Abschnitt skizzierten Phänomenbegriff Vorgänge, die immer schon geschehen bzw. vollzogen werden, ohne dass der Vorgang selbst reflektiert worden wäre.

[14] Heideggers Ontologie des In-der-Welt-Seins kann selbst wiederum einer phänomenologischen Kritik unterzogen und kontextualisiert werden. Denn es reicht nicht, ein ontologisches Fundament des In-der-Welt-Seins zu konstatieren, ohne die spezifischen Weisen dieses Weltbezugs zu untersuchen, und zwar nicht nur als mehr oder weniger abstrakte Modi. Die Kritik an Heideggers Analyse bezieht sich, soweit ich sehe, im Wesentlichen auf zwei Aspekte: auf der Seite der Subjektivität auf die Vernachlässigung der Leiblichkeit des Daseins, auf der Seite der Welt auf das das Fehlen eines Begriffs der Situation, um den Weltbegriff zu konkretisieren. Leib- und Situationsbegriff wurden in der französischen Phänomenologie ausgearbeitet, Letzterer zunächst vor allem durch Sartre und Beauvoir, aber auch durch Merleau-Ponty, der sich in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung auf die Leiblichkeit konzentriert. Hermann Schmitz schließlich entwickelt differenzierte Kategorien zur Beschreibung des leiblichen Spürens. Zudem bestimmt er die Situation als eine nach außen abgehobene Ganzheit, die mindestens Sachverhalte, zumeist aber auch Programme, wie etwa Wünsche, und Probleme enthält.

[15] Diese Kritik trifft lediglich den frühen Husserl. Später, etwa schon in der Vorlesung zur Zeit von 1905 und in den Cartesianischen Meditationen (Edmund Husserl: Cartesianische Meditationen, Gesammelte Schriften, Bd. 8, hrsg. v. Elisabeth Ströker, Hamburg 1992), entwickelt Husserl seine Vorstellung von Intentionalität erheblich weiter und versucht, sowohl das, was Heidegger »Mitsein« nennt (bei Husserl »Intersubjektivität«), als auch die zeitliche Dimension, u.a. als Protentionen und Retentionen in intentionalen Erlebnissen, zu berücksichtigen. Mir geht es in diesem Zusammenhang aber lediglich um die frühe Fassung von Husserls Intentionalitätsbegriff, da die Analytische Philosophie den einfacheren Intentionalitätsbegriff aufgenommen hat und dieser in ihrem Kontext heute noch weitgehend akzeptiert ist (vgl. z.B. John R. Searle: Intentionality. An Essay in the Philosophy of Mind, Cambridge 1983).

[16] Dies geschieht in der Akteurs-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour, die wegen dieser Umkehrung auch als »symmetrische Anthropologie« bezeichnet wird. Latour will den Dingen in der Wahrnehmung ihr Eingengewicht zurückgeben. Seine Theorie ist gegen eine überzogene These vollständiger Konstruierbarkeit gerichtet (vgl. Bruno Latour: »On Actor Network Theory. A Few Clarifications«, in: Soziale Welt 47 (1996), S. 369-381; vgl. auch ders.: Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt a.M. 2000, darin besonders aufschlussreich der Aufsatz »Ein Kollektiv von Menschen und nichtmenschlichen Wesen«, S. 211-264). – Eine ähnliche Idee verfolgt Lambert Wiesing. Er kehrt die Passivität und Aktivität im Wahrnehmungsprozess um in dem Sinne, dass das Wahrnehmen den Wahrnehmenden konstituiert (vgl. Lambert Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie, Frankfurt a.M. 2009).

[17] Vgl. Heidegger 1986, S. 27-39.

[18] Ebd., S. 28.

[19] »[…] je vorgängig und mitgängig« (ebd., S. 31).

[20] Ebd.

[21] Vgl. Hermann Schmitz: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, z.B. S. 140-142, 282-284, 311-314.

[22] Ebd., S. 138.

[23] Apophainō in üblichen Übersetzungen: I. Aktiv: Aufzeigen, vorzeigen, ans Licht, an den Tag bringen, II. Passiv und Medium: a) erscheinen, sich zeigen; b) (seine Meinung) aussprechen.

[24] Heidegger 1986, S. 32.

[25] Ebd., S. 33.

[26] Vgl. Streubel i.E.

[27] So Susanne Langers Terminologie, vgl. Langer 1942.

[28] Günter Figal: »Zeigen und Sichzeigen«, in: Heike Gfrereis, Marcel Lepper (Hrsg.): Deixis. Vom Denken mit dem Zeigefinger, Göttingen 2007, S. 196-207, hier S. 198.

[29] Gottfried Boehm: »Die Hintergründigkeit des Zeigens. Deiktische Wurzeln des Bildes«, in: Ders.: Wie Bilder Sinn erzeugen. Die Macht des Zeigens, Berlin 2007, S. 19-33.

[30] Sybille Krämer spricht davon, dass wir durch die Stimme etwas zeigen, und von »pathischer Kommunikation«: »Es wirkt in unserem Sprechen eine vorsymbolische, eine präverbale und nichtpropositionale Dimension, in der es weniger um das geht, was wir sagen, vielmehr um das, wie wir es sagen.« (Sybille Krämer: »Die ›Rehabilitierung der Stimme‹. Über die Oralität hinaus«, in: Doris Kolesch, Sybille Krämer (Hrsg.): Stimme, Frankfurt a.M. 2006, S. 269-295, hier S. 274. In der Einleitung zu ihrem Band schreiben die beiden Herausgeberinnen Kolesch und Krämer: »Die Stimme ist […] diskursiv und ikonisch, sie sagt und zeigt zugleich, in ihr mischen sich Sprachliches und Bildliches. […] Schließlich wirkt die Stimme indexikalisch und symbolisch […].« (Doris Kolesch, Sybille Krämer: »Stimme im Konzert der Disziplinen. Zur Einführung in diesen Band«, in: Dies. (Hg.): Stimme, Frankfurt a.M. 2006, S. 7-16, hier S. 12)