Holm Tetens, Berlin

 

Das »Schwamm-drüber-Pamphlet«

Anhand des Autographen erneut herausgegeben, einleitend kurz kommentiert und der geschätzten Kollegin Sybille Krämer mit der Bitte um freundliche Beachtung übereignet

 

Die Kollegin Krämer hat bekanntlich einen ihrer Forschungsschwerpunkte in der rationalistischen Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. Längst aber ist sie von dort aufgebrochen in die Philosophie der Gegenwart. Mein akademischer Weg ist in entgegengesetzter Richtung verlaufen, von der Wissenschaftstheorie der Gegenwart zurück in die zum Teil finsterste Metaphysik vergangener Epochen. Mein Weg hat mich dabei auch in das 18. Jahrhundert geführt. Durch Zufälle, die ich hier nicht schildern möchte, bin ich in den Besitz eines Autographen aus dem 18. Jahrhundert gekommen. Der Text war zwar schon im 19. Jahrhundert für kurze Zeit bekannt, ist aber inzwischen völlig in Vergessenheit geraten, so dass seine Wiederveröffentlichung praktisch einer Erstveröffentlichung gleichkommt.

Warum erlaube ich mir, diesen Text mit einem ganz kurzen Kommentar von meiner Seite in der Festschrift für unsere Kollegin Sybille Krämer zu platzieren? Ich tue das in der Hoffnung, sie zu einer gelegentlichen Rückkehr in die Philosophie des 18. Jahrhunderts zu verführen. Denn der Text besitzt das Potential, die Geschichte der Philosophie des 18. Jahrhunderts wegen der zentralen Rolle Kants teilweise neu zu schreiben. Wäre es nicht großartig, Sybille Krämer unter den Autorinnen einer möglicherweise ganz neuen Sicht auf die Philosophie Kants zu wissen?

 

Einleitender Kommentar: Es handelt sich um einen bisher noch nicht als Faksimile veröffentlichten größeren Zettel aus dem Nachlass eines anonymen Philosophen. Der Text war im 19. Jahrhundert für zwei, drei Jahre bekannt als sogenanntes »anti-materialistisches Schwamm-drüber-Pamphlet«. Ich habe heutigen Studierenden diesen Text vorgelegt. Sie brachten es doch tatsächlich fertig, aus diesem gedankenreichen Text, wie der Leser gleich bei der Lektüre sehen wird, nicht mehr herauszulesen als ein einziges Argument, das sie zudem glaubten, präsentieren zu müssen in der etwas penetrant pedantischen Darstellungsweise sogenannter Argumentationskurse, wie sie gegenwärtig im Bachelorstudium abverlangt werden zur Einübung einer angeblichen Basiskompetenz, wie es im jargon bolognese heute so schön heißt. Ich will den Lesern als Kontrast zu dem von Anspielungen überquellenden Text diesen kümmerlichen Rekonstruktionsextrakt nicht vorenthalten:

 

  1. Prämisse: Das Gehirn ist räumlich.
  2. Prämisse: Bewusstseinserlebnisse sind unräumlich.
  3. Schlussprinzip (material-begriffliche Wahrheit des 18. Jahrhunderts): Etwas Räumliches kann nur etwas Räumliches verursachen.

    (Anwendung von 3 auf 1 und 2)
    _______________________________________
  4. Konklusion: Also kann das Gehirn keine Bewusstseinserlebnisse verursachen.

 

Hier wird unser genialer Text gedanklich, wie Goethe schon richtig über die Logik im Faust festgestellt hat, in »spanische Stiefel eingeschnürt«. Nein, so möchte man ausrufen, nein, so geht es wirklich nicht! Da war das 19. Jahrhundert wesentlich weiter. Damals erkannte man natürlich sofort messerscharf, dass der Text aus dem späten 18. Jahrhundert stammt, da in dieser Zeit Badezimmer und Schwämme der letzte Schrei der Snobgesellschaft waren und brotlose philosophierende Intellektuelle gerne den Anschein erweckten, sie gehörten dazu und seien mit der Kultur der Badezimmer und Toiletten bestens vertraut. Nichts davon in der Rekonstruktion. Der Zettel hat im 19. Jahrhundert für eine kurze Zeit die Aufmerksamkeit der akademischen Philosophie deshalb erregt, weil der Text damals irrtümlicherweise La Mettrie als ironisches Pamphlet über die abwegigen und dilettantischen Kausalitätsvorstellungen der englischen Pilgrimfathers zugeschrieben wurde. Der akademische Streit über La Mettrie als möglichen Verfasser des »Schwamm-drüber-Pamphlets« zwischen den hochangesehenen Philosophiehistorikern Vorländer und Ueberweg endete damals sehr schnell zugunsten von Ueberwegs Anonymusthese. Dann wurde die Sache vergessen, unbegreiflich, wenn man sich das unglaubliche Potential dieses Textes anschaut.

Im 19. Jahrhundert wurde eine Brücke zu Kant nicht geschlagen. Das ist heute anders. Warum, sei hier kurz dargestellt. Wie gesagt, ich besitze heute den Autographen des »Schwamm-drüber-Pamphlets« und habe ihn einigen Philosophiehistorikern gezeigt. Dabei hat einer der Kollegen die hochinteressante Vermutung geäußert, der Zettel könnte vielleicht ursprünglich sogar von Kant stammen und sei bei dem Zerwürfnis zwischen Kant und seinem Diener Lampe von Letzterem in rufschädigender Absicht im allerletzten Augenblick heimlich vom Schreibpult Kants entwendet, dann aber völlig sinnentstellend von Lampe verändert worden. Dieser Vermutung sollte man unbedingt nachgehen. Ich habe daher jüngst bei der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften angeregt, eine Philosophiehistorikerkommission »Kant versus Lampe: Das sogenannte Schwamm-drüber-Pamphlet und die physikotheologisch begründete Feindschaft zwischen Kant und Lampe« einzusetzen. Ziel sollte es sein, den Text als Palimpsest zu lesen. Die Kommission hat also nur eine Aufgabe zu lösen: Wie lautet der ursprüngliche, vermutlich von Kant verfasste Text? Kollegin Krämer bitte ich auf diese ungewöhnliche Weise um die Mitarbeit in der Kommission.

Hier nun endlich der Text im unnachahmlichen Stil des 18. Jahrhunderts:

 

»Heute ist man schnell mit der gegen unseren Schöpfer so ungemein ausfälligen, blasphemischen Thesis bei der Hand, das Gehirn erzeuge die Conscientia oder wie sich, um nicht das Gemüth durch die Vorstellung der Mitwisserschaft an einer causa criminalis zu betrüben genötiget zu seyn, als Audruck zu popularisieren anhebt, das Bewußtsein. Vorgenannte Thesis ist bestenfalls bei naiven, arglosen Geistern eine verzeihliche Gedankenlosigkeit, bei ihren Urhebern hingegen eine poenable unerträgliche Empörung gegen Gott unseren Herren, die vor allem auch in der Neuen Welt, wie könnte es anders sein, die Gemüther erhitzt, und entstammt in letzter consequentia der bösartigen Niedertracht gottloser Materialisten, die schon des längeren frech ihr Haupt in anderen Ländern, insonderheit den freidenkerischen Niederlanden, erheben, ohn dass die Obrigkeit dorten dagegen einzuschreiten sichtbare Anstalten machte. Doch paaret sich das Gottlose zum Glücke immer mit der Seichtigkeit, ja dem Närrischen des Gedankens. Wie kann man derart schnell nicht mehr memorieren, was wir sonst über die causalitas wie selbstverständlich zu wissen alle in gelehrter Weise unterwiesen worden sind! Dinge und Ereignisse in der Außenwelt erzeugen andere Dinge oder Ereignisse in der Außenwelt (vermutlich durch Druck und Stoß, wie der unsterbliche Cartesius wußte, doch tut der mechanism hier nichts zur Sache). Stets sind alle Wirkungen räumlicher Dinge selber irgendwo im Raume anzutreffen. Nun, selbstredend ist das Gehirne ein ausgedehnt Ding, sein bizarrer Prospectus ähnelt jedoch allzu sehr dem eines getränkten Schwammes, wie er bei den Frauenzimmern gegenwärtig so hoch im Begehren stehet, nur dass sie der Mode am französischen Hofe folgend rot glänzende Schwämme preferieren, während das Gehirn nur gräulich wie alt gewordene Milch trüb blinket, und hätte selbst Euklid, den größten aller Geometer, ob seiner geometrischen Löchrigkeiten in arge Verlegenheit versetzt. Sollen, so frage ich, aus diesem Gehirnschwamme die Gedanken etwa wie Wasser heraustropfen? Welch lächerlicher Gedanke, vermutlich als einziger wirklich einem allzu weich gewordenen Gehirne entsprungen. Aber meine Cogitationes teilen mit keinem der so beliebten bathroom requisites, wie der Engländer zu sagen pflegt, die geometrischen Maße und Proportiones, ja mit überhaupt keiner res extensa (ausgedehnte Sache). Bewußtseinsempfindungen sind nicht räumlich; sind nirgendwo anzutreffen und kein Geometer vermag ihnen mit Zirkel und Lineale beizukommen. Wenn ich das Wachhäuschen vor dem Schloß unseres allergnädigsten Königs erblicke, was mir jeden Tag aufs Neue die selige Gewißheit schenket, dass unserem Herren und König gar nichts an Leib und Leben zu befürchten stehet von umstürzlerischen Verschwörern, die der gottgewollten Ordnung ein Ende zu bereiten sich erdreisten könnten, wenn ich, so sage ich, dieses Häuschen sehe, so hat es Länge, Breite und Höhe selbst für die längsten der langen Kerls, mein Sehen des Wachhäuschens als actus hat hingegen keine Länge, Breite und Höhe und es findet in ihm auch kein Wachsoldat, und hätte er auch nur die winzige Größe jener Wesen, von denen ein vorwitziger Schriftsteller namens Swift im Auftrage eines Reisenden mit Namen Gulliver uns Kunde getan hat, oder irgend ein anderes von Gott unserem Herren geschaffenes Ding darinnen seinen Platz. Stolziere ich auf das Wachhäuschen zu und beendige nicht rechtzeitig den unbotmäßigen Cursus, der sonsten wie eine Revolte gegen unseren König genommen werden muß, wird mich der Wachsoldat unter lautem Geschreie der Umstehenden auf Order eines Offiziers auf der Stelle mit dem Bajonette zu meinem eigenen Schaden aufspießen. Aber an meinem Wahrnehmen des Wachhäuschens kann sich niemand den Kopf mit dem darinnen herumkollernden Gehirne stoßen und an meinem Anblicke des beherzt zustechenden treuen Dieners unseres Königs kann sich niemand aufspießen, wie sehr ihn auch in seinem draufgängerischen Wahne vielleicht danach dürsten möge. Wie also soll füglich das gräuliche, dumpfe Gehirne unter der Schädeldecke die wunderbare, lebhafte und farbenprächtige Welt meiner eigenen Empfindungen creationieren? Dieses Rätsel hat mir noch niemand erkläret, und wird mir fürderhin niemand erklären, außer er bringet die Notiones Ursache und Wirkung um ihren einzigen wahren Sinn, deren richtige Erklärung uns von dem unsterblichen Aristoteles doch längstens zur peinlichsten Observation überantwortet ist. Diese ganze unselge Vorstellung von einem feuchten Gehirne als Sitz oder Demiurgos meiner bewußten Gedanken sollte man schleunigst extinguieren, wie ein unstatthaft Fleck auf einem schönen Spiegel mit einem wahren Schwamme flugs zu extinguieren uns größere Mühsal nicht aufbürden wird, freilich, dies sei zur Warnung allzu leichtgläubiger Gemüther, deren unsere Zeit so übervoll wie überdrüssig ist, doch nicht verschweiget, mit einem wirklichen Schwamme, nicht mit dem Gehirnschwamme, wie mir ein arger Schelm und Witzbold kürzlich im Scherze aufzuschwatzen nicht innehalten wollte.«

 

 

 



 

 

Downloads

Drehmomente_Tetens.pdf