Hannes Kuch, Berlin

 

Befehl und Beleidigung

Sprachliche Gewalt und symbolische Macht

 

1.

Der Begriff ›Gewalt‹ hat unterschiedliche Wurzeln. Auf dem einen Pol geht er zurück auf die ›Verfügungsmacht‹ einer legitimen Instanz, die im Lateinischen potestas genannt wurde und im Deutschen unumwunden die Gewalt im Namen trägt: die ›Staatsgewalt‹, die ›öffentliche Gewalt‹ oder die ›Amtsgewalt‹. Die Verfügungsmacht meint die rechtlich verbürgte Fähigkeit eines Akteurs, über die Handlungen von anderen Akteuren bestimmen zu dürfen. Auf dem gegenüberliegenden Pol liegt die violentia, die ›Verletzungskraft‹, die ein leidensfähiges Wesen in seiner körperlichen oder psychischen Integrität versehrt. Die Verfügungsmacht benennt das Vermögen, über die Handlungen anderer legitim zu bestimmen, die Verletzungskraft die Fähigkeit, andere in ihrer Körperlichkeit oder Identität zu verwunden. [1] Beide Register der Gewalt haben eine symbolische Dimension: Die Verfügungsmacht findet ihren prägnanten sprachlichen Ausdruck im ›Befehl‹, die Verletzungskraft in der ›Beleidigung‹. Dem zwingenden Sprechakt der Anordnung steht also der verletzende Sprechakt der Herabwürdigung gegenüber. ›Befehl‹ und ›Beleidigung‹ verstehe ich in diesem Essay als technische Begriffe, wobei im ersten Fall auch weniger dringliche Formen der Anordnung mit einbezogen sind und im zweiten Fall ganz unterschiedliche Formen der Missachtung gemeint sind, die von der Ehrverletzung bis hin zur Herabwürdigung reichen.

In der Politischen Philosophie lag der Fokus meist auf der ersten der beiden Gewaltdimensionen. Dass »wir befehlen und Befehle verstehen können«, ist für Thomas Hobbes etwa die »größte Wohltat der Sprache«. [2] Das verwundert nicht, stellt sich doch für Hobbes die Frage, wie die Allmacht des Leviathan, an den die Bürger durch einen Vertrag ihr individuelles ›Recht auf alles‹ abgetreten haben, eine sichere und strukturierte soziale Ordnung schaffen können soll. Es ist der Befehl, der Gehorsam und Disziplin zu stiften vermag; er ermöglicht Gemeinschaft und Frieden. Zwar handelt es sich beim Befehl um eine Form des sprachlichen Zwangs, der mit der latenten oder manifesten Androhung von physischer Gewalt verbunden ist; doch im Denken von Hobbes stellt gerade das imperativische Sprechen die Möglichkeit bereit, die primäre Gewalt des Naturzustands zu überwinden. Die Erbschaft der neueren Politischen Philosophie, den Befehl ins Zentrum des Nachdenkens über Macht, Gewalt und Herrschaft zu stellen, kann man bis in die Sozialtheorie des 20. Jahrhunderts hinein verfolgen. Max Weber zum Beispiel definiert Herrschaft unmittelbar mit Bezug auf den Befehl: »für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden«, gilt ihm als Index von Herrschaft. [3] Wohlgemerkt räumt Weber dem Befehl diesen zentralen Platz unter den Vorzeichen eines Verständnisses von Herrschaft ein, das diese eher als legitime, anerkannte Autorität versteht denn als Tyrannei oder Despotie.

 

2.

Der Befehl lässt sich auch in jener Machtbeziehung verorten, die im Zentrum von Hegels Sozialphilosophie steht: die Beziehung von ›Herr und Knecht‹. Diese Denkfigur macht es möglich, Macht und Gewalt nicht nur im Horizont des Befehls, sondern zugleich in demjenigen der Beleidigung zu denken. Hegels Herr/Knecht-Dialektik, die in einen Kampf um Anerkennung eingebettet ist, bietet einen ausgezeichneten Ausgangspunkt für die Frage nach dem Verhältnis von Verfügungsmacht und Verletzungskraft; in ihrer Dichte und ihrer Reichweite ist diese Dialektik kaum zu übertreffen, zugleich ist sie der Ort, an dem sich der ›Befehl‹ und die ›Beleidigung‹ direkt miteinander konfrontieren lassen. Weil Hegels Herr/Knecht-Beziehung eine Machtbeziehung ist, können wir diese Figur als Übersetzungsmedium nehmen, um die beiden Dimensionen sprachlicher Gewalt in die Theorie der Macht zu übertragen: der Zwang wird uns zur materialen Macht, die Verletzung zur symbolischen Macht führen.

Die Machtbeziehung zwischen Herr und Knecht versteht Hegel zunächst ganz im Sinne jenes klassischen Machtverständnisses, das vor ihm Hobbes philosophisch fundiert und nach ihm Weber zu sozialwissenschaftlicher Prominenz gebracht hat. ›Macht‹, so scheint es, dreht sich um die Handlungsmöglichkeiten und Handlungsfähigkeiten eines Akteurs im Verhältnis zu einem andern. In einer Machtbeziehung wirkt das Handeln des Einen auf das Handeln des Anderen ein; der Wille des einen Subjekts versucht den Willen des Anderen zu bestimmen. Im Herr/Knecht-Verhältnis, so Hegel, »gibt sich der Eigenwille des Knechtes an den Willen des Herrn auf, bekommt zu seinem Inhalte den Zweck des Gebieters«. [4] In den Handlungen des Knechts zeigt sich also der Wille des Herrn. Dieser nutzt den Sprechakt des Befehls, um das Machtverhältnis zwischen ihm und dem Knecht zu koordinieren. Mit dem Befehl schreibt der Herr die Handlung vor, die der Knecht ausführt. Der Befehl führt dazu, dass der Andere »sich als Fürsichsein aufhebt und hiermit selbst das tut, was das erste gegen es tut«. [5] Der Herr spricht, der Knecht handelt; doch ist schon der Befehl des Herrn selbst eine Form des Handelns: ein Sprech-Akt.

Für den Herrn, so scheint es, liegt der funktionale Sinn der Machtbeziehung in der Aneignung des Arbeitsprodukts, das der Knecht produziert. Das Machtstreben des Herrn schien zwar auf den ersten Blick auf den Knecht gerichtet zu sein, doch was ihn eigentlich interessiert, ist das ›Ding‹. Der Herr bezieht sich »mittelbar durch den Knecht auf das Ding«, das dem Herrn dazu dient, »im Genusse sich zu befriedigen.« [6] In der Aneignung des knechtischen Arbeitsproduktes erreicht der Herr demzufolge die Befriedigung seiner leiblichen Bedürfnisse. Eine solche Form der Macht nenne ich ›materiale‹ Macht, weil das spezifische Tun des Anderen der Machtbeziehung überhaupt erst ihren ›materialen‹ Gehalt verleiht: Das je bestimmte Tun des Anderen ist das Worumwillen der Machtbeziehung. Mit der ›materialen‹ Macht rückt der materiale oder funktionale Sinn von Machtbeziehungen ins Zentrum, auf den Hegel anzuspielen scheint, wenn er die Handlungen des Machtunterworfenen gleichsam als ›Stoff‹ der Machtbeziehung denkt.

 

3.

Dies ist allerdings nur eine Facette der Herr/Knecht-Beziehung. Denn im Zentrum der Machtbeziehung von Herr und Knecht steht bekanntermaßen die Anerkennung. Das Verhältnis von Herr und Knecht ist eine Folge des Kampfes um Anerkennung, bei dem die beiden Akteure danach strebten, ihre Identitätsansprüche von ihrem Gegenüber bestätigt zu bekommen, ohne selbst dazu bereit zu sein, die Ansprüche des Anderen zu bestätigen. Beide kämpften darum, das ›Wesentliche‹ zu sein und den jeweils anderen mit dem »Charakter des Negativen« zu versehen. [7] Im Herr/Knecht-Verhältnis hat es einer der beiden Akteure geschafft, die einseitige Anerkennung, die er einforderte, wirklich zu erlangen. Nun ist ein »einseitiges und ungleiches Anerkennen« entstanden, »das eine [Bewusstsein] nur Anerkanntes, das andere nur Anerkennendes«. [8] Der Herr findet auf Seiten des Knechts nicht nur Gehorsam, sondern auch Anerkennung.

Das Anerkanntsein des Herrn ist zunächst sprachlich artikuliert: Als Herr anerkannt zu sein, heißt, als ›Herr‹ angesprochen zu werden. Die Anerkennung als Herr beinhaltet, so schreibt Kojève, »den Namen ›Herr‹ zu tragen, ›Herr‹ genannt zu werden«. [9] Genau so wie der Name ›Herr‹ als Titel gilt, zählt der Name ›Knecht‹ als eine Art Stigma. ›Herr‹ und ›Knecht‹ sind Namen von Positionen im Raum des Sozialen, die einen bestimmten Status verleihen.

Während der Knecht den Herrn ehrfürchtig mit ›Mein Herr‹ adressiert, nimmt der Terminus ›Knecht‹ pejorative Bedeutung an. Mehr noch, vielleicht wird der Herr den Knecht sogar symbolisch negieren. Erinnern wir uns an die Vorgeschichte der Herr/Knecht-Dialektik: Auf der Stufe der ›Begierde‹ hatte Hegels Subjekt eine Haltung, die sich in der Formel verdichtete: ›Ich bin das Wesentliche, das Andere zählt nichts‹. [10] Diesen Gestus demonstrierte das Subjekt, indem es den Gegenstand verspeiste; die Konsumtion des Anderen war eine Form der praktischen Negation. Der Herr, der nicht mehr ein Objekt, sondern ein anderes Subjekt als Gegenüber hat (und dieses Subjekt als Gegenüber benötigt), vollzieht nun nicht mehr eine praktische, sondern eine symbolische Negation am Anderen: indem er ihn zum Beispiel als ›Nichts‹ oder ›Niemand‹ bezeichnet. In der Herr/Knecht-Dialektik selbst kommt diese Form der Beleidigung natürlich nicht ausdrücklich vor, doch geht Hegel im Kontext des Kampfes um Anerkennung in anderen Schriften auf diese Form sprachlicher Gewalt näher ein. Die »Verbalinjurie«, wie es in der Jenaer Realphilosophie heißt, setzt den Anderen »im Allgemeinen als ein Aufgehobnes«; das verletzende Wort macht ein »Ganzes zu einem an sich Nichtigen.« [11] Eine solche Form der sprachlichen Negation erniedrigt den Knecht, sie spricht ihm Wesentlichkeit ab, ohne ihn allerdings buchstäblich zu vernichten. Die sprachliche Gewalt der Erniedrigung lässt dem Adressaten zwar seine Existenz, ja bestätigt ihm diese sogar in gewisser Weise, doch spricht sie ihm im selben Atemzug einen ebenbürtigen Status ab.

Was sich durch solche Praktiken der Anerkennung konstituiert, sind unterschiedliche ›Subjektpositionen‹: Der Knecht weist in seinem anerkennenden Tun dem Herrn den Status eines überlegenen Subjekts zu; ihm selbst, dem Knecht, bleibt nur der prekäre Status eines subalternen, unterlegenen Subjekts. Die ›Selbständigkeit‹ des Herrn, von der Hegel spricht, bezieht sich wörtlich genommen auf eine ›Ständigkeit‹ des Selbst, also auf einen besonderen Stand, der ihm als Subjekt zukommt. [12] Auf der Ebene der Begierde beanspruchte das Selbstbewusstsein den ›erhabenen Status des Subjekts‹ (Neuhouser), weil es sich von nichtigen Gegenständen umgeben wähnte. [13] Auf dem Niveau des Herr/Knecht-Verhältnisses beansprucht das eine Subjekt noch immer einen überlegenen Status, der zu einer sozialen Tatsache wird, insofern das andere Subjekt einen unterlegenen Status einnimmt. Dem Status des Herrn steht also die prekäre Subjektposition des Knechts gegenüber. Mit Sartre könnte man sagen, dass es sich beim Knecht um ein »vermindertes Bewusstsein« handelt. [14]

Die Hervorbringung dieser sozialen Positionen in der Herr/Knecht-Beziehung wird ergänzt durch eine topologische Dimension. Indem der Herr eine übergeordnete Position einnimmt, hat er den Knecht »unter sich«. [15] Die überlegene Subjektposition auf der einen, die unterlegene Subjektposition auf der anderen Seiten bilden einen elementaren ›sozialen Raum‹, der ein Oben und ein Unten kennt, aber auch zentrale und marginale Positionen. [16] Im Verhältnis von Herr und Knecht besteht dieser soziale Raum in Relationen von Über- und Unter-ordnung, von Über-legenheit und Unter-legenheit, von Hoch-achtung und Er-niedrig-ung. Diese sozialen Topologien können sich in körperliche Haltungen einschreiben, wodurch der menschliche Körper, wie Pierre Bourdieu sagt, »politisierter Körper« wird: »Die Unterwerfung […] scheint eine natürliche Übersetzung in der Handlung des Sichunterwerfens, Sichunterordnens, Sichbeugens, Sicherniedrigens, Sichdemütigens usf. zu finden.« [17]

Unter diesem Blickwinkel bildet das heimliche Gravitationszentrum der Herr/Knecht-Figur jene Dimension von Macht, die intern mit Anerkennung und Missachtung verknüpft ist. Diese spezifisch ›symbolische Macht‹ hat nicht so sehr mit Handlungsmöglichkeiten und Handlungsspielräumen zu tun, sondern mit Überlegenheit und Unterlegenheit, mit Erhabenheit und Entwürdigung, mit Achtung und Erniedrigung. Die Macht des Herrn besteht nicht nur darin, die Handlungen des Knechts zu bestimmen, sie besteht auch in dem überlegenen Status, den er im Angesicht des ›unwesentlichen‹ Knechts einnehmen kann. Dadurch, dass der Knecht sich »als Unwesentliches« erweist, »wird für den Herrn sein Anerkanntsein durch ein anderes Bewußtsein«. [18] ›Materiale Macht‹ dagegen meint die Fähigkeit, auf das Handeln anderer einzuwirken. Das ›Materiale‹ dieser Macht besteht darin, dass die Machtbeziehung spezifische Handlungsformen zum Gegenstand hat, die für den hegelschen Herrn von Gewicht sind. ›Material‹ heißt also nicht, diese Form der Macht beruhe in irgendeinem Sinn auf materieller, physischer Gewalt. Und der materialen Macht geht es auch nicht als solcher um die körperliche Arbeit des Andern, auch wenn es sich im Falle des Knechts kontingenterweise so verhält. Das Materiale dieser Dimension von Macht besteht einfach darin, dass es dem Machtüberlegenen in der Machtbeziehung um ganz bestimmte Handlungen des Andern geht, die aus seiner Sicht einen funktionalen Sinn haben. Natürlich zielt auch die symbolische Machtbeziehung auf ein besonderes Gut: nämlich das der Anerkennung. Allerdings ist dieses Gut konstitutiv symbolisch, weil es über symbolische Praktiken erwiesen wird. Das Symbolische in der symbolischen Macht bezieht sich folglich auf symbolische Praktiken, die, in Bezug auf den Herrn, Wertschätzung oder Achtung zusprechen, oder aber, in Bezug auf den Knecht, Anerkennung entziehen.

Was materiale und symbolische Macht voneinander unterscheidet, liegt nicht in erster Linie in den Medien der Macht – also etwa: Gewalt versus Sprache –, sondern in ihrem Telos. Nicht das Womit, sondern das Worumwillen trennt materiale und symbolische Macht: Materiale Macht hat mit Handlungsformen, symbolische Macht mit Subjektpositionen im sozialen Raum zu tun. Sprache spielt für materiale wie auch für symbolische Macht eine wesentliche Rolle; einmal als Praxis, die Handlungen leitet oder bestimmt (was auf den ›Befehl‹ verweist), das andere Mal als Artikulationsform von Missachtung (was auf die ›Beleidigung‹ verweist).

 

4.

Nun scheint es so, als seien materiale und symbolische Macht zwei völlig voneinander getrennte Seinsweisen von Macht. Doch zumeist treten diese beiden Machtdimensionen in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen auf. Davon zeugt gerade Hegels Herr/Knecht-Verhältnis selbst.

Während der Knecht in der Perspektive der materialen Macht arbeitet, weil seine Tätigkeit einen ma­terialen Sinn für den Herrn hat, kommt dem Tun des Knechts im Blickwinkel der symbolischen Macht ein ›theatraler Sinn‹ zu: im Handeln des Knechts zeigt sich die Wesentlichkeit des Herrn. Als »das dienende Bewußtsein« inkarniert der Knecht die Erhabenheit des Herrn. [19] Von der Warte der materialen Macht aus hatte das Arbeitsprodukt einen handfesten Sinn: Der Herrn befriedigt durch sie seine leiblichen Bedürfnisse. In der Optik der symbolischen Macht dagegen haben die vom Knecht erarbeiteten Dinge nicht nur einen funktionalen Sinn in Bezug auf die Begierden des Herrn, sie dienen zugleich dazu, dem Herrn Ehrerbietung zu zollen. Eine solche Würdigung erfährt der Herr zum Beispiel über die Darreichung von Gaben durch den Knecht. So gesehen reicht der Knecht seine Arbeitsprodukte dem Herrn als Gaben dar, in denen sich die Anerkennung des Knechts für den Herrn verkörpert. [20]

Weil sich in der Machtbeziehung Anerkennung manifestiert, ist das Tun von Herr und Knecht immer schon symbolisch überdeterminiert; es hat eine durch und durch gestische Dimension. Der Knecht artikuliert seine Anerkennung für den Herrn also nicht nur auf direkte Weise, in seinem Tun zeigt er sie auf indirekte Weise. Die Handlungen des Knechts bilden eine ›gezeigte Anerkennung‹, und deshalb ist die Herr/Knecht-Beziehung wesentlich eine symbolische Praxis. In der Optik der symbolischen Macht ist es dem Herrn gleichgültig, welche konkreten Handlungen der Knecht für ihn ausführt, er will in der Abhängigkeit des Knechts von ihm seine eigene Selbständigkeit anschauen. Der Knecht ist »Sein für ein Anderes«, [21] er führt eine Existenz für den Herrn, und darin erfährt der Herr seinen überlegenen Status als fürsichseiendes Subjekt. Der Herr will nicht zuerst die Ausführung bestimmter Tätigkeiten durch den Knecht, ihm geht es zuerst, wie Gadamer festhält, um »die Bestätigung des eigenen Selbstbewußtseins durch das Herr-Sein«. [22] Im Handeln des Knechts manifestieren sich dessen eigene Unwesentlichkeit und zugleich die Wesentlichkeit des Herrn.

Wir sind nun von artikulierten zu gezeigten Formen der Anerkennung vorangeschritten, die beide wesentlich für die Funktionsweise von symbolischer Macht sind. Zusammenfassend können wir vier wichtige Aspekte unterscheiden, die für symbolische Machtbeziehungen von großer Bedeutung sind:

 

(i.) Wie wir eben gesehen haben, liegt der symbolische Aspekt zunächst in der gestischen Qualität des knechtischen Tuns. In seinem Handeln manifestiert oder zeigt sich die Anerkennung des Knechts für den Herrn. Während in der gezeigten Anerkennung sich Wertschätzung in Handlungen gleichsam als deren Nebenprodukt manifestiert, wird in der artikulierten Anerkennung Wertschätzung in konventionalisierter oder expliziter Form ausgedrückt. Im Dienst des Knechts ist die Anerkennung für den Herrn ›gezeigt‹, in der Beleidung ist die (Nicht-)Anerkennung ›artikuliert‹.

(ii.) Der wertende Aspekt bezieht sich auf den Stellenwert der Anerkennung in der Herr/Knecht-Beziehung. Eine symbolische Machtbeziehung beinhaltet eine relative Verteilung von ›Wesentlichkeit‹ und ›Unwesentlichkeit‹, von Wertschätzung und Geringschätzung: In der Entwürdigung des Knechts spiegelt sich die Würde des Herrn.

(iii.) Der soziale Aspekt beleuchtet die Subjektpositionen im Sozialen, die durch die symbolische Machtbeziehung geschaffen werden. ›Herr‹ und ›Knecht‹ sind Namen von Positionen im sozialen Raum, die einen überlegenen beziehungsweise unterlegenen Status verleihen. Symbolische Machtbeziehungen enthalten in diesem Sinn immer auch unterschiedliche Grade an Inklusion oder Exklusion, wobei eine gesellschaftliche ›Unsichtbarkeit‹ oder der ›soziale Tod‹ die Extremform solcher Ausschlussmechanismen darstellen.

(iv.) Der topologische Aspekt macht deutlich, in welchem Maß der Status ›Herr‹ und ›Knecht‹ jeweils auf Positionen in einem buchstäblichen Raum des Sozialen verweist, der ein Oben und Unten kennt genauso wie Zentren und Ränder. ›Überlegenheit‹ und ›Unterlegenheit‹, ›Überordnung‹ und ›Unterordnung‹, ›Erhabenheit‹ und ›Erniedrigung‹ – diese Begriffe sind Teil unseres Vokabulars der Macht, das auf eine topologische Facette der Macht hindeutet und sich gerade in Beziehungen symbolischer Macht besonders deutlich erweist. Solche Topologien symbolischer Macht können sich in Gesten und Haltungen des menschlichen Körpers in Kopräsenz mit anderen Körpern niederschlagen: ›den Blick senken‹ oder ›sich verbeugen‹ sind Verkörperungen symbolischer Macht.

 

5.

Zu Beginn habe ich von potestas und violentia als den zwei Paradigmen der Gewalt gesprochen, für die unter dem Vorzeichen der sprachlichen Gewalt paradigmatisch der ›Befehl‹ und die ›Beleidigung‹ stehen. Der Befehl führte uns zur materialen Macht, die Beleidigung zur symbolischen Macht. Dass diese beiden Machtdimensionen einander nicht dichotomisch entgegengesetzt sind, sondern in Mischformen auftreten, hat sich am Dienst des Knechts für den Herrn gezeigt: Die Tätigkeit des Knechts ist Ausdruck materialer Macht genauso wie sie die symbolische Macht des Herrn manifestiert. Eine ähnliche Mischform von materialer und symbolischer Macht lässt sich jedoch schon anhand des Ausgangsbeispiels aufzeigen, denn im Befehl selbst kann sich symbolische Macht inkarnieren.

Das wird am Beispiel der Sklaverei deutlich, zu der wir mit Hegels Herr/Knecht-Verhältnis gelangen können. Hegels ›Knechtschaft‹ auf die Sklaverei zu beziehen ist nicht einfach, unter Umständen sogar irreführend, spätestens dann, wenn man, wie es zum Teil geschehen ist, diesen Terminus direkt mit englisch ›slavery‹ oder französisch ›esclavage‹ übersetzt. Hegels ›Knechtschaft‹ hat ein vielfältiges Bedeutungsspektrum, das auch epistemologische, theologische oder subjekttheoretische Aspekte umfasst. Allerdings beinhaltet dieses Spektrum auch politische und soziale Aspekte, und in diesen Aspekten bezieht sich Hegel unter anderem auf die Sklaverei in ihrer gesellschaftlichen und historischen Wirklichkeit. Neben der transatlantischen Sklaverei seiner Zeit stand für ihn besonders die antike Sklaverei im Zentrum, vor allem aufgrund seiner Auseinandersetzung mit der Politischen Philosophie von Platon und Aristoteles.

Mit diesem Zugang möchte ich auf eine Stelle in Platons Überlegungen zur Sklaverei Bezug nehmen, die vom Befehl in der Beziehung zwischen Sklaven und Herren handelt. Natürlich verhielt es sich zwischen Herr und Sklave so, dass nur der eine Part Befehle aussprechen, während der andere Befehle nur entgegennehmen konnte. Doch Platon gibt dieser Asymmetrie noch eine weitere Wendung. »Die Anrede an einen Sklaven muß so gut wie ausnahmslos ein Befehl sein«, lautet seine Forderung in den Nomoi. [23] Auch wenn die Vorgabe vermutlich nie auch nur annähernd in die Wirklichkeit umgesetzt worden ist, weist sie in ihrer Radikalität doch auf einen Gestus, der in Teilen für das Verhältnis von Herr und Sklave bestimmend gewesen sein muss. Wenn wir unter ›Gestus‹ mit Brecht den mimischen, gestischen oder sprachlichen Ausdruck der gesellschaftlichen Beziehungen verstehen, die Menschen zueinander unterhalten, [24] verbirgt sich hinter Platons Forderung ein Gestus symbolischer Macht. Die Sklaven wurden durch die Reduktion auf imperativische Kommunikation an die Grenzen des Menschlichen, in Richtung der Tiere gerückt; denn es ist der Befehl, dessen ›Sprache‹ auch Tiere erfassen: »Der Befehl ist älter als die Sprache«, so stellt Canetti fest, »sonst könnten ihn Hunde nicht verstehen«. [25] Wenn der Befehl ein wesentlicher Modus der Mensch-Tier-Kommunikation ist und wenn der Sklavenhalter mit seinem Sklaven nur in diesem Modus kommuniziert, wird der Sprechakt zur Geste, die den Sklaven herab- und mit den Tieren gleichsetzt. Zumindest am Beispiel dieses radikalen Falles zeigt sich also, dass der Befehl nicht nur dem Register der materialen Macht angehört. So funktional der Befehl für die Koordinierung von Handlungen sein mag, so kann sich in ihm doch zugleich ein Gestus symbolischer Macht verkörpern, der eine Beziehung der Über- und Unterlegenheit aufführt und verfestigt.

 

 

 



 

 

Downloads

Drehmomente_Kuch.pdf

 

 

Endnoten

[1] Vgl. etwa Peter Imbusch: »Der Gewaltbegriff«, in: Wilhelm Heitmeyer, John Hagan (Hrsg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung, Wiesbaden 2002, S. 26-57, hier S. 29ff.

[2] Thomas Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger, Hamburg 1959, S. 17. Vgl. dazu Alfred Hirsch: »Hobbes – Sprache und Terror«, in: Hannes Kuch, Steffen K. Herrmann (Hrsg.): Philosophien sprachlicher Gewalt. 21 Grundpositionen von Platon bis Butler, Weilerswist 2010, S. 58-76. Für Canetti wird der Befehl zum Paradigma sprachlicher Gewalt überhaupt, vgl. Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt a.M. 1980, S. 357-376, fortan zit. als Canetti 1980.

[3] Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, Tübingen 2009, S. 28.

[4] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Werke, Bd. 8, Frankfurt a.M. 1979, § 433 Z, fortan zit. als Enz.

[5] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, Werke, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1979, S. 151f., fortan zit. als PhG.

[6] Ebd., S. 151.

[7] Ebd., S. 148.

[8] Ebd., S. 152 und S. 147.

[9] Alexandre Kojève: Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens, Frankfurt a.M. 1975, S. 63.

[10] Aus der Sicht des Begierde-Subjekts zählt das Objekt nichts: Der lebendige Gegenstand ist »ein Nichtiges gegen das Subjekt« (Enz, § 426 Z).

[11] Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Jenaer Realphilosophie. Vorlesungsmanuskripte zur Philosophie der Natur und des Geistes von 1805-1806, Berlin 1969, S. 223.

[12] Der Hinweis auf den ›Stand‹ in der Selbständigkeit findet sich sowohl bei Neuhouser also auch bei Han (vgl. Frederick Neuhouser: »Desire, Recognition, and the Relation between Bondsman and Lord«, in: Kenneth R. Westphal (Hrsg.): The Blackwell Guide to Hegel’s Phenomenology of Spirit, Oxford 2009, S. 39, fortan zit. als Neuhouser 2009; Byung-Chul Han: Hegel und die Macht. Ein Versuch über die Freundlichkeit, Paderborn 2005, S. 88.

[13] Neuhouser spricht von einem »exalted status of the subject« (Neuhouser 2009, S. 42).

[14] Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek 2006, S. 491.

[15] PhG, S. 151.

[16] Im Kontext des Selbstbewusstseins-Kapitels der Phänomenologie hat Terry Pinkard das Konzept des sozialen Raumes eingeführt (Terry Pinkard: Hegel’s Phenomenology. The Sociality of Reason, Cambridge 1996, S. 47). Ich verwende den Begriff stärker im Sinne Bourdieus, der ihn im Grunde genommen ebenfalls anerkennungstheoretisch versteht, sofern nämlich der soziale Raum durch unterschiedliche Kapitalsorten konstituiert wird, die letztlich auf Übersetzung in symbolisches Kapital, das heißt: Anerkanntsein zielen (vgl. dazu Pierre Bourdieu: Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt a.M. 2005, S. 172f., S. 309-315).

[17] Pierre Bourdieu: »Die männliche Herrschaft«, in: Beate Krais, Irene Dölling (Hrsg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis, Frankfurt a.M. 1997, S. 186f.

[18] PhG, S. 151.

[19] Ebd., S. 154.

[20] Diesen Deutungsvorschlag verdanke ich Tobias Klass’ Vortrag »Angst vor Anerkennung« (Workshop »Anerkennung und Alterität«, Universität Frankfurt a.M.).

[21] PhG, S. 150.

[22] Hans-Georg Gadamer: »Dialektik des Selbstbewußtseins«, in: Hans-Friedrich Fulda, Dieter Henrich (Hrsg.): Materialien zu Hegels Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a.M. 1973, S. 217-242, hier S. 230.

[23] Platon: Gesetze, in: Sämtliche Dialoge, Bd. VII, Hamburg 2004, S. 777. Vgl. dazu Egon Flaig: »An der sozialen Grenze des Menschseins in der griechischen Klassik. Wie man Sklaven zu Untermenschen macht«, in: Justin Stagl, Wolfgang Reinhard (Hrsg.): Grenzen des Menschseins. Probleme einer Definition des Menschlichen, Wien u.a. 2005, S. 639-662, hier S. 655.

[24] Brecht gibt das Beispiel des Versuchs, auf einer eisglatten Fläche nicht ins Rutschen zu geraten. Ihm zufolge wird dieser Versuch erst zur Geste, wenn der Sturz einen Gesichtsverlust zur Folge hätte (vgl. Bertolt Brecht, Schriften zum Theater I, Gesammelte Werke, Bd. 15, Frankfurt a.M. 1967, S. 483).

[25] Canetti 1980, S. 357.